Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 30.09.2003, Az.: 5 A 416/03
Abschiebungshindernis; Afghanistan; politische Verfolgung; Sicherheitslage; Taliban
Bibliographie
- Gericht
- VG Osnabrück
- Datum
- 30.09.2003
- Aktenzeichen
- 5 A 416/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 48237
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 53 Abs 6 AuslG
- § 77 Abs 1 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Es besteht nicht mehr die Gefahr politischer Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan.
Auch eine extreme Gefahrenlage i.S.d. § 53 Abs. 6 AuslG liegt nicht vor.
Gründe
Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan zum jetzigen Zeitpunkt nicht (mehr) die Gefahr politischer Verfolgung. Auf die Frage, ob und ab welchem Zeitpunkt eine solche staatliche Verfolgung z.B. durch die Taliban in Afghanistan vorgelegen hat, kommt es nicht mehr an, da maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage derjenige der letzten mündlichen Verhandlung bzw. bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung derjenige der Entscheidung des Gerichts ist ( § 77 Abs. 1 AsylVfG).
Nach dem tödlichen Attentat auf den Nordallianz-Führer Achmed Schah Massud vom 9. September 2001, dem Anschlag auf das World Trade Center in New York vom 11. September 2001 und dem Anfang Oktober 2001 nachfolgenden US-amerikanischen Eingreifen in Afghanistan ist die Taliban-Herrschaft durch die Nordallianz mit Hilfe der Amerikaner u.a. nach der Einnahme Kabuls Mitte November und Kandahars Anfang Dezember 2001 umfassend und endgültig zerschlagen worden und ist nach der Afghanistan - Konferenz in Bad Godesberg im Dezember 2001 eine aus Vertretern verschiedener Volksstämme zusammengesetzte erste Übergangsregierung unter dem gemäßigten Paschtunen Hamid Karsai für zunächst sechs Monate eingesetzt worden, die durch eine Internationale Friedenstruppe unterstützt wird und im späten Frühjahr 2002 nach einer großen Stammesversammlung von einer zweiten Übergangsregierung für 18 Monate abgelöst worden ist. Eine politische, d.h. staatliche oder quasi-staatliche Verfolgung durch die Taliban ist deshalb derzeit und auf absehbare Zukunft nicht nur nicht mehr hinreichend wahrscheinlich, sondern mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Es sind auch keinerlei Anhaltspunkte erkennbar, die eine Umkehr dieser Verhältnisse hin zu einer erneuten, umfassenden und gesicherten Herrschaft der Taliban oder einzelner Gruppen der früheren Nordallianz denkbar erscheinen lassen könnten. Die Frage der asylrechtlichen Beurteilung ihrer früheren Herrschaftsmacht als staatliche oder quasi-staatliche stellt sich deshalb nicht mehr. Diese Änderungen in Afghanistan sind aufgrund der umfassenden Berichterstattung in den Medien im Übrigen allgemeinkundig (vgl. Hess VGH, Beschluss vom 29.01.2002 - 8 ZU 2908/00.A).
Abschiebungshindernisse gem. § 53 Abs. 1 - 4 AuslG sind nicht gegeben. In Afghanistan droht dem Kläger weder die konkrete Gefahr der Folter, der Todesstrafe noch der Verletzung der Menschenrechte im Sinne der EMRK durch staatliche Einrichtungen.
Auch Abschiebungshindernisse gem. § 53 Abs. 6 AuslG liegen nicht vor.
Danach kann von der Abschiebung abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden danach allerdings bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt. Eine Ausnahme lässt das Bundesverwaltungsgericht - in Anlehnung an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu den „verfassungsunmittelbaren Abschiebungshindernissen“ nur zu, wenn dem Einzelnen keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 - 4, 6 Satz 1 AuslG zustünden, er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden dürfte. Das sei dann der Fall, wenn die oberste Landesbehörde trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Fall einer Abschiebung gleichsam sicheren Auges dem sicheren Tod oder schweren Verletzungen preisgeben würde, von ihrer Ermessensermächtigung aus § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht habe, einen generellen Abschiebestopp zu verfügen. Für die Erheblichkeit der Gefahr gelten die gleichen Grundsätze wie im Fall zwingender Abschiebungshindernisse gem. § 53 Abs. 1 - 4 AuslG. Erforderlich ist daher ein ernsthaftes Risiko, das nach den Kriterien der beachtlichen Wahrscheinlichkeit beurteilt wird. Nicht gravierende oder nicht hinreichend wahrscheinliche Gefahren sind daher nicht ausreichend (Hailbronner, § 53 AuslG, Rn. 82 b ff. m.w.N.). Eine derartig extreme Gefahrenlage kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.
Dazu hat das Hamburg. Oberverwaltungsgericht ausgeführt (Urteil vom 22.11.2002 - 1 Bf 154/02.A - ):
„Die Sicherheits- und Versorgungslage im Kabuler Raum stellt sich nach der neuesten Auskunftslage wie folgt dar:
aa) Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2002 wird die Sicherheitslage in Kabul und Umgebung im Verhältnis zum übrigen Land auf Grund der ISAF-Präsenz vergleichsweise als zufriedenstellend, wenn auch fragil bezeichnet. Dementsprechend wird auch von Danesch (Auskunft v. 5.8.2002) ausgeführt, dass die Regierung Karzai in der Hauptstadt mit Hilfe der Internationalen Friedenstruppe in Stärke von über 4.000 Mann in der Lage sei, eine übergreifende Ordnung durchzusetzen, so dass extreme Formen von gewaltsamen Auseinandersetzungen unterbunden würden und der Einzelne im Großen und Ganzen nicht um seine Existenz zu bangen brauche. Das gelte allerdings angesichts der Ausdehnung der Hauptstadt, in der inzwischen wieder fast 2 Millionen Menschen lebten, nicht überall, insbesondere etwa in den Vororten. Dort komme es oft noch zu Blutrache und dazu, dass unliebsame Personen von manchen noch mächtigen ehemaligen Kommandanten der Mudjaheddin misshandelt und getötet würden. Ein ähnliches Bild der Sicherheitslage in Kabul ergibt sich aus neueren Presseberichten (vgl. Spiegel v. 17.6.2002, FAZ v. 6.9.2002). Auch wenn es dort jüngst zu einem schweren Bombenanschlag gekommen ist, dem mindestens 15 Menschen zum Opfer gefallen sind (vgl. SZ v. 6.9.2002), ist die derzeitige allgemeine Sicherheitslage in Kabul - eindeutig - nicht so, dass dort jeder einzelne Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Schritt und Tritt dem sicheren Tod oder der Gefahr schwerster Verletzungen ausgesetzt wäre. Nur bei einer derartigen Situation könnte jedoch eine extreme Gefahrenlage angenommen werden, die ausnahmsweise über den Wortlaut des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinaus auch ohne besondere individuelle Betroffenheit ein Abschiebungshindernis nach dieser Vorschrift begründen würde.
bb) Hinsichtlich der Versorgungslage gilt für den Kabuler Raum im Ergebnis nichts anderes. Dabei verkennt der Senat nicht, dass auch hier nach wie vor diverse Schwierigkeiten bestehen, die Bevölkerung mit ausreichender Nahrung zu versorgen und ihr jedenfalls notdürftige Unterbringungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die weitere Entwicklung wird entscheidend von der Fortdauer der internationalen Hilfe abhängen, ohne die eine Mindestversorgung auch in Kabul nicht sichergestellt werden könnte. Daraus erklären sich auch die zahlreichen Aufrufe und Warnungen von Hilfsorganisationen, die sich vor allem durch die unerwartet große Rückkehrbereitschaft vor besondere Herausforderungen gestellt sehen und daher auf eine Verstärkung der Hilfe drängen (vgl. UNHCR, Presseerklärung v. 7.6.2002; NZZ v. 24.6., 12.7. u. 7.8.2002, Die Welt v. 20.7.2002, dpa v. 4.8.2002). Allerdings sind die zum Teil geäußerten Befürchtungen, etwa des WFP, dass ein totaler Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung bevorstehe, bisher nicht eingetreten. Insbesondere in den Großstädten gibt es derzeit genügend Lebensmittel, damit kein Mensch zu verhungern braucht (Danesch, a.a.O., S. 6). Auch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 4. Juni 2002 (S. 7) ist die Versorgungssituation in Kabul - bei allerdings hohen Preisen - grundsätzlich einigermaßen zufriedenstellend.“
Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an.