Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 15.02.2019, Az.: 5 B 472/19

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
15.02.2019
Aktenzeichen
5 B 472/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69478
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei der im Rahmen des § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG anzustellenden Schadensprognose bleiben mögliche Ausgleichszahlungen an betroffene Tierhalter außer Betracht.

2. Eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes der Population im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG ist nach derzeitigem Sachstand angesichts der Populationsentwicklung der Wölfe in Deutschland ausgeschlossen.

3. Zur Frage der zumutbaren Alternativen im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG (z.B. Vergrämung oder Herdenschutz).

Gründe

Mit Bescheid vom 23. Januar 2019 erteilte der Antragsgegner eine Ausnahmegenehmigung nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) von den Verboten des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG für die zielgerichtete letale Entnahme eines Individuums der streng geschützten Tierart Wolf (Canis lupus) mit dem genetischen Code ... aus der Natur in den Landkreisen … und … sowie in der Region ….

Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller, eine nach § 3 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) anerkannte Umwelt- und Naturschutzvereinigung (vgl. Anerkennungsbescheid des Umweltbundesamtes vom 25. Januar 2018), Widerspruch ein. Zugleich suchte er um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 2. Februar 2019 gegen die Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 23. Januar 2019 wiederherzustellen,

hilfsweise den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, es bis zur Rechtskraft einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu unterlassen, den Wolf mit der Identifikationsnummer ... (kurz: „…“) aus der Natur durch Tötung zu entnehmen oder entnehmen zu lassen oder ihn nach erfolgter Entnahme aus der Natur zu töten oder töten zu lassen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid und bezweifelt im Übrigen die Antragsbefugnis des Antragstellers.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 2. Februar 2019 gegen die Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 23. Januar 2019 war nicht nach § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen. Auch war der Antragsgegner nicht im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, es bis zur Rechtskraft einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu unterlassen, den Wolf mit der Identifikationsnummer ... (kurz: „…“) aus der Natur durch Tötung zu entnehmen oder entnehmen zu lassen oder ihn nach erfolgter Entnahme aus der Natur zu töten oder töten zu lassen. Diese Ansprüche bestehen nicht, da sich die Ausnahmegenehmigung vom 23. Januar 2019 bereits bei überschlägiger Prüfung als aller Voraussicht nach rechtmäßig erweist. Daher kann auch dahinstehen, ob der vom Antragsteller formulierte Hilfsantrag im Hinblick auf § 123 Abs. 5 VwGO statthaft ist und ob in Anbetracht der Tatsache, dass der Inhalt des Hilfsantrages bereits im Hauptantrag vollständig enthalten ist, insoweit überhaupt ein Rechtsschutzbedürfnis anzuerkennen wäre.

Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs wiederherstellen bzw. anordnen, wenn dies zur Wahrung schutzwürdiger Interessen des Antragstellers geboten ist. Insoweit erfolgt eine Entscheidung über den Aussetzungsantrag aufgrund einer Interessenabwägung, die sich im Wesentlichen an den Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs orientiert. Dabei bleibt dem Antrag des Antragstellers der Erfolg versagt, weil bereits nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage alles dafür spricht, dass die Ausnahmegenehmigung rechtmäßig ist.

Zur Begründung im Einzelnen nimmt die Kammer entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO Bezug auf die überzeugenden Ausführungen des Antragsgegners im Bescheid vom 23. Januar 2019, denen sie folgt. Ergänzend bzw. erläuternd ist im Hinblick auf das Vorbringen des Antragstellers auszuführen:

Die Ausnahmegenehmigung ist nicht formell rechtswidrig, insbesondere war der Antragsteller nicht bereits im Verwaltungsverfahren zu beteiligen. Eine Verletzung seiner Mitwirkungsrechte nach § 63 BNatSchG und § 38 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum Bundesnaturschutzgesetz liegt nicht vor. Eine Verletzung von § 63 Abs. 1 BNatSchG liegt nicht vor, da die dort genannten Maßnahmen den hier vorliegenden Fall des Erlasses einer Ausnahmegenehmigung nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG nicht erfassen. Auch war der Antragsteller nicht nach § 63 Abs. 2 BNatSchG am Verwaltungsverfahren zu beteiligen, da es sich bei ihm nicht um eine vom Land Niedersachsen anerkannte Naturschutzvereinigung handelt. Die Anerkennung erfolgte vielmehr durch den Bund (siehe Anerkennungsbescheid des Umweltbundesamtes vom 25. Januar 2018). Im Übrigen lägen insoweit auch keine Beteiligungstatbestände vor. Denn bei der Ausnahmegenehmigung vom 23. Januar 2019 handelt es sich nicht um eine Allgemeinverfügung im Sinne des § 63 Abs. 2 Nr. 4b BNatSchG und weitere Verfahren zur Ausführung von landesrechtlichen Vorschriften im Sinne des § 63 Abs. 2 Nr. 8 BNatSchG sieht das niedersächsische Landesrecht nicht vor (Blum in: Blum/Agena, Kommentar zum Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Bundesnaturschutzgesetz, § 38 Rn. 120; Landtagsdrucksache 16/1902, Seite 43).

Die Ausnahmegenehmigung vom 23. Januar 2019 ist auch aller Voraussicht nach materiell rechtmäßig. Rechtsgrundlage ist § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG. Danach kann die nach Landesrecht für Naturschutz und Landschaftspflege zuständige Behörde - das ist für den vorliegenden Fall der Antragsgegner - von den Verboten des § 44 BNatSchG im Einzelfall Ausnahmen zur Abwendung erheblicher landwirtschaftlicher Schäden zulassen. Dass diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Antragsgegner in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überzeugend im Bescheid vom 23. Januar 2019 dargelegt.

In tatsächlicher Hinsicht ist durch einen DNA - Abgleich nachgewiesen, dass zumindest die Rissereignisse am 23. April 2018 und am 25. Oktober 2018 durch den Leitwolf ... verursacht wurden.

In rechtlicher Hinsicht ist es nicht zu beanstanden, wenn der Antragsgegner nicht nur die bisher festgestellten Schäden in den Blick nimmt, sondern auch im Wege einer Schadensprognose mögliche zukünftige Schäden in die Betrachtung mit einbezieht. § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG erfordert keineswegs bereits das Vorliegen von erheblichen wirtschaftlichen Schäden, sondern dient auch - das zeigt schon der Wortlaut - der Abwendung zukünftiger Schäden.

Die vom Antragsgegner angestellte Schadensprognose ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Insbesondere teilt das Gericht die Auffassung, es sei zu erwarten, dass der Wolfsrüde ... auch künftig Schäden an zum Selbstschutz befähigten Rinderherden verursachen wird. Das Gericht kann nicht erkennen, warum der Wolfsrüde nunmehr keine Rinderherden mehr angreifen sollte. Vielmehr steht zu erwarten, dass er bestärkt durch seine „Erfolge“ diese Angriffe fortsetzen wird und die anderen Tiere des Rudels seine Verhaltensweise übernehmen und fortführen werden. Folglich ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einer weiteren Erstreckung und Ausweitung von Angriffen auf Rinderherden zu rechnen.

Ob bei dieser Sachlage die Entnahme des gesamten … angezeigt gewesen wäre, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, da sich die Ausnahmegenehmigung vom 23. Januar 2019 nur auf den Wolf mit dem Code ... bezieht.

Die Auffassung, bei der Schadensberechnung müssten Zahlungen an betroffene Herdenbesitzer Berücksichtigung finden, teilt die Kammer nicht. Mit jedem Riss ist eine Eigentumsverletzung (Art. 14 GG) und damit ein landwirtschaftlicher Schaden eingetreten. Dieser Schaden wird nicht dadurch unbeachtlich, weil der jeweils betroffene Tierhalter möglicherweise von dritter Seite Kompensation erlangen könnte.

Auch die weiteren Voraussetzungen für die Zulassung einer Ausnahme sind erfüllt. Nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG darf eine Ausnahme nur zugelassen werden, wenn zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand der Population einer Art nicht verschlechtert, soweit nicht Artikel 16 Abs. 1 der Richtlinie 92/43/EWG weitergehende Anforderungen enthält.

Eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes der Population erscheint ausgeschlossen. Angesichts der Tatsachen, dass in Deutschland mittlerweile mindestens 72 Wolfsrudel heimisch sind und dass diese Anzahl ständig ansteigt, ist durch die Entnahme eines Wolfsrüden eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes der Population offensichtlich ausgeschlossen. Ob der Wolf aufgrund der derzeitigen Populationsentwicklung noch zu Recht als streng geschützte Art nach Anhang IV der FFH-Richtlinie anzusehen ist, mag dahinstehen.

Zumutbare Alternativen zur letalen Entnahme kann die Kammer - wie auch der Antragsgegner - nicht erkennen. Vergrämungsmaßnahmen sind angesichts der Vielzahl der potentiell betroffenen Rinderherden ein untaugliches Mittel. Zusätzliche Herdenschutzmaßnahmen sieht auch die Kammer nicht als erforderlich an, denn bei den nachgewiesenen und dem Wolf ... sicher zugewiesenen Rinderrisse waren Herden mit überwiegend erwachsenen Tieren betroffen, denen eine Selbstschutzfähigkeit auch für ihre Kälber zugesprochen werden kann (Rissereignisse vom 23. April 2018 und vom 25. Oktober 2018).

Die Entnahme des Tieres aus der Natur mittels Narkosegewehr erscheint ebenfalls nicht als zumutbare Alternative im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG. Da das Tier nicht mit einem Halsbandsender ausgestattet ist, ist es nicht möglich, seinen Standort zu ermitteln. Im Vorfeld ist daher weder absehbar, wann, wo und unter welchen Umständen es identifiziert werden kann. Eine vorherige Distanzimmobilisierung erscheint daher nicht erfolgversprechend, um zeitnah weitere Schäden zu verhindern.

Die Unterbringung in einer Wolfauffangstation oder in einem Tierpark kommt ebenfalls nicht in Betracht. Dem steht schon entgegen, dass völlig unklar ist, ob und wenn ja, wann dieser Wolf gefangen werden kann. Überdies schließt auch die Kammer nicht aus, dass die dauerhafte Haltung in Gefangenschaft zu länger anhaltenden und erheblichen Leiden führen kann.

Der Einwand, die Tötung des Elterntieres ... stelle eine Gefährdung für das Überleben des gesamten Rudels dar, ist ohne Substanz und überzeugt daher nicht. Im Übrigen steht zu erwarten, dass ein anderes Tier an die Stelle des bisherigen Leitwolfs tritt und so den Fortbestand des Rudels sichert.

Sollte es nach der Entnahme des Wolfs ... tatsächlich zu einer signifikanten Zunahme und Intensivierung der Angriffe auf Nutztiere kommen, stellt dies - die Richtigkeit dieser Annahme unterstellt - die Rechtmäßigkeit der hier streitigen Ausnahmegenehmigung nicht durchgreifend in Zweifel. Für diesen Fall würde sich dann eher die Frage der Zulassung weiterer Ausnahmen nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG stellen.

Schließlich genügt die Begründung des Sofortvollzugs den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Danach ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO - wie hier - das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO verpflichtet die Behörde, mit einer auf den konkreten Fall bezogenen und nicht lediglich formelhaften schriftlichen Begründung das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung darzulegen (OVG Lüneburg, Beschluss vom 9. August 2016 - 12 ME 102/16 -, juris Rn. 11). Die Ausführungen müssen insbesondere erkennen lassen, dass sich die Behörde des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst gewesen ist (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 80 Rn. 84).

Im Bescheid vom 23. Januar 2019 führte der Antragsgegner zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung aus, dass eine besondere Gefahrensituation gegeben sei. Mit der Entnahme des Wolfs ... zur Abwendung erheblicher landwirtschaftlicher Schäden werde auf eine Gefahrensituation hinsichtlich des Schutzes des Eigentums der von Rinderrissen betroffenen Tierhalter reagiert. Ohne eine zeitnahe Entnahme des Wolfes werde die Schädigung der betroffenen Betriebe bzw. Tierhalter kontinuierlich fortgesetzt. Um diese Schadenssituation zu unterbinden, sei ein schnelles Handeln erforderlich.

Diese Ausführungen genügen den formell-rechtlichen Anforderungen des Begründungszwangs. Sie lassen insbesondere erkennen, dass sich der Antragsgegner des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst gewesen ist. Er hat sie für die Kammer ohne weiteres nachvollziehbar mit dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Ziel der Vermeidung weiterer erheblicher Schäden begründet.

Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob der Antragsteller überhaupt antragsbefugt ist. In Anbetracht der Tatsache, dass ihm kein Beteiligungsrecht nach § 63 BNatSchG zusteht und daher insoweit jedenfalls nicht auf § 64 BNatSchG zurückgegriffen werden kann, ist dies allerdings zweifelhaft (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. Mai 2016 - 4 KN 154/13 -, juris Rn. 36).