Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 13.06.2024, Az.: 1 A 283/22

Ausnahme; Geschwindigkeitsbegrenzung; Gestuftes Ermessen; Landesstraße; Straßenverkehrsbehörde; Tempo 30; Tempo-30-Zone; Weisung; Tempo 30 in Ortsdurchfahrt (hier: Landesstraße) Zur Anwendung von § 46 Abs. 2 StVO im Rahmen eines landesweiten Modellprojekts

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
13.06.2024
Aktenzeichen
1 A 283/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 20747
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2024:0613.1A283.22.00

[Tatbestand]

Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung einer Tempo-30-Zone in einer Ortsdurchfahrt.

Auf der 750 Meter langen Ortsdurchfahrt in Groß Schneen namens Landstraße (Landesstraße 568, bis 2019: Bundesstraße 27) ordnete der Beklagte im Rahmen eines Modellprojekts im September 2022 eine zeitlich befristete Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h an. Die Anordnung gilt bislang weiterhin fort. Der in A-Stadt lebende Kläger befährt die Ortsdurchfahrt in Groß Schneen regelmäßig u.a. aufgrund seiner Tätigkeit als Fachanwalt für Verwaltungsrecht sowie auf dem Weg zu einem Spaziergang mit seinem Hund.

Die streitgegenständliche Anordnung erfolgte im Rahmen eines niedersachsenweiten Modellvorhabens "Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen - Untersuchung zu CO2-Reduktion, weniger Lärm und Vision Zero mit Tempo 30". Ziel des vom Niedersächsischen Landtag initiierten Modellprojekts (vgl. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen v. 18.08.2016, LT-Drs. 17/5285) ist die Untersuchung von Veränderungen auf Luft, Lärm und Verkehr bei Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 30 km/h an innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen einschließlich Bundes- und Landesstraßen im Vergleich zur Regelgeschwindigkeit von 50 km/h. Laufzeit des Modellvorhabens sind drei Jahre.

Das Projekt ist in drei Phasen aufgeteilt: eine Vorbereitungsphase, eine Erprobungsphase und eine Auswertungs- und Abschlussphase. Im Rahmen der Vorbereitungsphase wurden insbesondere die teilnehmenden Kommunen ausgewählt und der Ist-Zustand festgestellt. Die anschließende Erprobungsphase begann mit der vorübergehenden Anordnung der Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h sowie der Aufstellung der entsprechenden Verkehrszeichen, um dann die notwendigen Zählungen und Messungen im Rahmen der Nachher-Untersuchung durchzuführen und zu dokumentieren. In der letzten Phase, der Auswertungs- und Abschlussphase, sollen dann die erhobenen Daten in einem Vorher-Nachher-Vergleich analysiert, Handlungsempfehlungen entwickelt und ein Abschlussbericht verfasst werden.

Mit Schreiben vom 26.09.2017 informierte das Niedersächsische Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (im Folgenden: Verkehrsministerium) die niedersächsischen Kommunen über ein Interessensbekundungsverfahren für das Modellprojekt und gab zugleich einen Kriterienkatalog weiter. Der Katalog unterscheidet zwischen zwingenden Kriterien und solchen, deren Vorliegen dazu führt, dass ein Streckenabschnitt vorzugsweise ausgewählt wird. Zwingende Kriterien sind erstens die Benennung des konkreten Streckenabschnitts, zweitens die Darstellung einer Gefahrenlage für die in Frage kommenden Streckenabschnitte und die mit der Geschwindigkeitsbegrenzung verbundenen Erwartungen sowie drittens ein Ratsbeschluss zur Teilnahme an dem Modellprojekt. Für die Annahme einer Gefahrenlage kommen nach dem Katalog "u.a. die Überschreitung von Grenzwerten nach der 39. BImSchV (Luft), der 16. BImSchV (Lärm) oder eine erhöhte Unfallgefahr" in Betracht. Hinsichtlich der weiteren Kriterien wird auf den Kriterienkatalog des Verkehrsministeriums vom 26.09.2017 verwiesen (Bl. 6 ff. d. BA 002).

Die Beigeladene bewarb sich mit Schreiben vom 18.12.2017 für die Teilnahme an dem Modellprojekt. Zuvor hatte der Beklagte als untere Straßenverkehrsbehörde mit Schreiben vom 30.10.2017 das Projekt befürwortet. Außerdem hatte der Rat der Beigeladenen am 30.11.2017 mit 20 Ja-Stimmen und 1 Gegenstimme die Beschlussvorlage vom 20.10.2017 (Vorlage-Nr. 03824) die Beteiligung der Beigeladenen am Interessenbekundungsverfahren für das Modellprojekt mit dem Streckenabschnitt der Ortsdurchfahrt Groß Schneen der B27 beschlossen und die Verwaltung beauftragt, die erforderlichen Unterlagen hierfür, soweit möglich, zu erarbeiten und zusammenzustellen und die Bewerbung fristgerecht einzureichen. Für Einzelheiten wird auf die Beschlussvorlage vom 20.10.2017 (Bl. 4 d. BA. 002) sowie das Sitzungsprotokoll des Gemeinderates vom 30.11.2017 (Bl. 12 d. BA. 002) verwiesen.

In dem Bewerbungsschreiben wies die Beigeladene darauf hin, dass die Landstraße gerade durch den Ort Groß Schneen führe und sehr eng sei. Anwohner und Fußgänger würden durch schnell fahrende PKW, LKW und Busse hinsichtlich der Verkehrssicherheit für Verkehrsteilnehmer und der Lärm- und Luftbelastung für Anlieger beeinträchtigt. Es gebe immer wieder Beschwerden aus der Bevölkerung. Täglich gebe es zwischen 8.000 und knapp 9.000 Fahrzeugbewegungen. Es würden zum Teil extreme Geschwindigkeitsüberschreitungen gemessen. Die Unfallstatistik weise für 2014 bis 2016 14 registrierte Unfälle aus. Es werde erwartet, dass durch die Geschwindigkeitsverringerung eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit eintreten werde und es zu weniger Unfällen komme. Auch hinsichtlich der Lärmbelastung rechne man mit Verbesserungen, weil die Bebauung teilweise direkt an den Fahrbahnrand heranführe. Das gelte auch für die Luftreinheit. Für Einzelheiten wird auf das Bewerbungsschreiben der Beigeladenen vom 18.12.2017 verwiesen (Bl. 13 ff. d. BA. 002).

Nach Durchführung des Auswahlverfahrens teilte das Verkehrsministerium mit Schreiben vom 26.09.2022 den jeweils zuständigen Straßenverkehrsbehörden mit, welche Kommune (insgesamt sechs) mit welchem Streckenabschnitt ausgewählt worden war. Der Beklagte erhielt das Schreiben im Hinblick auf die Auswahl der Beigeladenen. In dem Schreiben heißt es:

"Mit Beginn der Erprobungsphase ist nunmehr Tempo 30 an den Modellstrecken anzuordnen und aufzustellen. Hiermit ermächtige ich Sie gem. § 46 Abs. 2 Satz 1 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO), abweichend von § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO im Zeitrahmen der 40. und 41. Kalenderwoche 2022 die dafür notwendigen Maßnahmen einzuleiten:

Insoweit bitte ich die jeweils zuständige Straßenverkehrsbehörde im Rahmen des Modellprojektes um Erlass der verkehrsbehördlichen Anordnung von VZ 274-30 und VZ 278-30. [...]

Nach Ablauf der Erprobungsphase ist die Tempo-30-Beschilderung an den Modellstrecken wieder zu entfernen [...]. Mit dem Ende der Erprobungsphase entfällt die mit diesem Erlass erteilte Genehmigung gem. § 46 Abs. 2 StVO zur Anordnung von Tempo 30 an den Modellstrecken."

Mit Schreiben vom 29.09.2022 ordnete der Beklagte gegenüber der Niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr für die Dauer der Erprobungsphase des Modellprojekts "Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen" im Zuge der L 568 (B 27) für die Ortsdurchfahrt Groß Schneen (Gemeinde Friedland) die mittels VZ 274-30 anzuzeigende zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h für sämtliche Kraftfahrzeuge, abweichend von § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVO, auf Grundlage der Ermächtigung des Verkehrsministeriums vom 26.09.2022 nach § 46 Abs. 2 S. 1 StVO verkehrsrechtlich an. Zur Begründung verwies der Beklagte auf das Modellprojekt. Am 04.10.2022 wurden die entsprechenden Verkehrszeichen (274-30 und 278-30) aufgestellt.

Mit Schreiben vom 24.10.2022 wandte sich der Kläger an den Beklagten und bat unter Verweis auf die neu aufgestellten Verkehrszeichen 274-30 und 278-30 um Mitteilung der Begründung für die Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Der Beklagte verwies im Antwortschreiben vom 28.10.2022 auf das Modellprojekt und dessen Ziele und teilte mit, dass die Anordnung auf Grundlage der Ermächtigung des Verkehrsministeriums nach § 46 Abs. 2 StVO erfolgt sei. Die Anordnung habe demnach ohne das Vorliegen der sonst zwingenden Voraussetzungen nach § 45 Abs. 9 StVO erfolgen können.

Der Kläger hat am 13.12.2022 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, dass er klagebefugt sei, da er regelmäßig die streitgegenständliche Ortsdurchfahrt u.a. zu seinen arbeitsbedingten Fahrten nach Weimar befahre. In der Sache vertritt der Kläger die Auffassung, dass der Beklagte weder seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung noch seiner Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Ermessensausübung nachgekommen sei. Der Beklagte habe nicht von seinem Ermessen Gebrauch gemacht, obwohl er hierzu verpflichtet gewesen sei, da die Ermächtigung durch das Verkehrsministerium - anders als eine Weisung - den Beklagten nicht zum Erlass eines Verwaltungsakts verpflichte. Ferner hätten die in dem Kriterienkatalog genannten zwingenden Kriterien nicht in Gänze vorgelegen. So liege weder eine Gefahrenlage noch ein hinreichender, die Teilnahme am Modelprojekt umfassender Ratsbeschluss vor. Auch seien die Belange der Verkehrsteilnehmer, die ein Interesse daran hätten, die Ortsdurchfahrt einer Landesstraße im Rahmen des überörtlichen Verkehrs mit mehr als 30 km/h passieren zu dürfen, nicht hinreichend berücksichtigt worden. Im Übrigen führe der Umstand, dass Beginn und Ende der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung nicht durch den Beklagten verantwortet werde, zu der Rechtswidrigkeit der gesamten Maßnahme. Die Maßnahme sei auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil auch ein Teilstück der Landstraße für die Untersuchung genügt hätte, die nur an einem einzigen Messpunkt stattfinde, und das Umweltbundesamt längst eine Studie zu den im Rahmen des Modellprojekts zu erhebenden Auswirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen vorgelegt habe.

Der Kläger beantragt,

die straßenverkehrsrechtliche Anordnung des Beklagten zur Begrenzung der höchstzulässigen Geschwindigkeit auf 30 km/h in der Ortsdurchfahrt der Landesstraße L568 in Groß Schneen aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, dass die Ortsdurchfahrt in Groß Schneen dem Kriterienkatalog des Verkehrsministeriums entsprochen habe. Es habe insofern insbesondere eine Gefahrenlage bestanden. Aufgrund der teilweise engen Bebauung an der Straße würden die Sichtbeziehungen von den einmündenden Gemeindestraßen und Grundstücken eingeschränkt. Dies sei vor allem in Verbindung mit den gemessenen Verkehrszahlen von durchschnittlich über 8.000 Fahrzeugen problematisch. Es seien im Zeitraum 2014 bis 2016 14 Unfälle polizeilich registriert worden. Außerdem würden die Lärmwerte als störend empfunden, auch wenn sie mit 51,4 dB(A) nachts sowie 65,1 dB tagsüber die Grenzwerte nach der Lärmschutz-Richtlinien-StV nicht überschritten. In diesem Fall wäre aber ohnehin eine Anordnung von Tempo 30 erfolgt. Das Modellprojekt solle aber gerade in Fällen mit dieser Konstellation die Auswirkungen untersuchen, womit die Ortsdurchfahrt die Kriterien erfülle. Auch sei kein weiterer Ratsbeschluss erforderlich gewesen, da der Ratsbeschluss der Beigeladenen vom 30.11.2017 nicht nur die Bewerbung, sondern auch die Teilnahme an dem Modellprojekt umfasst habe. Ferner seien die Belange der Verkehrsteilnehmenden ausreichend berücksichtigt worden. Der durch das Modellprojekt und die Forschungsergebnisse erlangte Mehrwert für die Allgemeinheit überwiege dabei das Interesse der betroffenen Verkehrsteilnehmenden. Dass der Endzeitpunkt nicht von Beginn an bestimmbar war, sei nicht zu beanstanden, da auch in anderen Fällen von Geschwindigkeitsbegrenzung - etwa bei Straßenschäden - der Endzeitpunkt nicht immer genau bestimmt werden könne und die Begrenzung erst dann aufgehoben werde, wenn der Grund hierfür entfalle.

Die mit Beschluss vom 03.08.2023 gem. § 65 Abs. 1 VwGO beigeladene Gemeinde Friedland stellt keinen Antrag.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Beteiligten zur Gerichtsakte eingereichten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Kammer entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die Klage ist zulässig (hierzu I.), aber unbegründet (hierzu II).

I.

Die Klage ist als Anfechtungsklage gegen die verkehrsbehördliche Geschwindigkeitsanordnung, die eine Allgemeinverfügung i. S. d. § 35 Satz 2 VwVfG darstellt, statthaft und im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Kläger nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt, weil eine Verletzung seiner Rechte durch die streitgegenständliche Anordnung jedenfalls möglich erscheint. Ein Verkehrsteilnehmer kann als eine Verletzung seiner Rechte geltend machen, die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für eine auch ihn treffende Verkehrsbeschränkung nach § 45 Abs. 1 StVO seien nicht gegeben. Was die behördliche Ermessensausübung betrifft, kann er allerdings nur verlangen, dass seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler abgewogen werden mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen (BVerwG, Urt. v. 27.01.1993 - 11 C 35.92 -, juris Rn. 14, m.w.N.). Der Kläger macht geltend, dass er sowohl im Rahmen seiner Erwerbstätigkeit als Fachanwalt für Verwaltungsrecht als auch als Hundebesitzer die streitgegenständliche Ortsdurchfahrt regelmäßig befährt. Der Sachvortrag wurde dabei weder von dem Beklagten noch von der Beigeladenen bestritten. Er macht weiter geltend, die Voraussetzungen von §§ 45 Abs. 1, 46 Abs. 2 Satz 1 StVO lägen nicht vor. Das genügt hier für die Begründung seiner Klagebefugnis.

Die Klage ist auch fristgerecht innerhalb der Jahresfrist (§ 58 Abs. 2 VwGO) ab dem Zeitpunkt, in dem er zum ersten Mal auf die angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung getroffen ist, erhoben worden (zur Klagefrist bei Verkehrszeichen vgl. BVerwG, Urt. v. 23.09.2010 - 3 C 37.09 -, juris Rn. 18).

II.

Die Klage ist in der Sache jedoch unbegründet. Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung vom 29.09.2022 in Form der Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h auf der Ortsdurchfahrt (L 568/B 27) in Groß Schneen durch die Verkehrszeichen 274-30 und 278-30 nach Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO vom 06.03.2016 (BGBl. I. S. 367) in der Fassung des Gesetzes vom 12.07.2021 (BGBl. I 3091) ist zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.09.2010 - 3 C 37.09 -, juris Rn. 21; Beschl. v. 01.09.2017 - 3 B 50.16 -, juris Rn. 8, jeweils m.w.N.) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1.

Als Rechtsgrundlage für die verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung kommt hier nur § 45 Abs. 1 Satz 1, 2 StVO in Betracht. Danach können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie aus den in Satz 2 aufgezählten Gründen.

Demgegenüber ist § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO für sich genommen für die hier vorliegende Konstellation keine taugliche Ermächtigungsgrundlage. Die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen können danach von allen Vorschriften der Straßenverkehrsordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. Schon aus dem Wortlaut folgt, dass sich die Regelung durch die oberste Landesbehörde nur auf die Genehmigung einer Ausnahme beschränkt. Die im vorliegenden Fall daraus erst folgende Anordnung trifft die zuständige untere Straßenverkehrsbehörde, hier der Beklagte.

2.

Die auf § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO beruhende Allgemeinverfügung vom 29.09.2022 ist formell rechtmäßig ergangen. Die Beklagte war nach § 44 Abs. 1 Satz 1 StVO i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 Nds. ZustVO-Verkehr zuständige Straßenverkehrsbehörde und konnte gem. § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG (i.V.m. § 1 Nds. VwVfG) von der grundsätzlich erforderlichen Anhörung sowie gem. § 39 Abs. 2 Nr. 5 VwGO von der grundsätzlich erforderlichen Begründung absehen.

3.

Die streitgegenständliche Geschwindigkeitsbegrenzung hält ferner auch einer materiell-rechtlichen Nachprüfung stand. Von dem Verbot der Anordnung von Tempo-30-Zonen auf innerörtlichen Landesstraßen hat das Verkehrsministerium in rechtmäßiger Weise eine Ausnahme gewährt (hierzu a). Die Anordnung im Übrigen ist ebenfalls rechtmäßig ergangen (hierzu b.).

a.

Der Anordnung der Verkehrszeichen 274-30 und 278-30 steht hier nicht entgegen, dass auf Bundes- und Landesstraßen sowie Vorfahrtstraßen innerorts Tempo-30-Zonen nicht eingerichtet werden dürfen, § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO i.V.m. § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO. Von der Anwendung dieser Regelung (hierzu aa.) hat das Verkehrsministerium mit Schreiben vom 26.09.2022 im Wege der Weisung (hierzu bb.) in rechtmäßiger Weise (hierzu cc.). an den Beklagten eine Ausnahme nach § 46 Abs. 2 StVO gewährt.

aa.

Das Schreiben vom 26.09.2022 bezieht sich zwar ausdrücklich nur auf § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO, nach dem die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch unter günstigsten Umständen innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h beträgt. Bei objektivierter Betrachtung ist die Regelung analog §§ 133, 157 BGB allerdings so zu verstehen, dass dem Beklagten eine Ausnahme von § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO i.V.m. § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO gewährt wird. Eine Ausnahme ausschließlich von § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO zu erteilen macht keinen Sinn, wenn nach Sondervorschriften von der Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts abgewichen werden kann. Das ist etwa nach § 45 Abs. 1c Satz 1 StVO der Fall. Nach § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO darf sich allerdings die nach § 45 Abs. 1c Satz 1 StVO zulässige Anordnung von Tempo-30-Zonen innerhalb geschlossener Ortschaften weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) noch auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) erstrecken. Der Streckenabschnitt der Landstraße in der Ortsdurchfahrt der Beigeladenen ist eine solche Landesstraße und damit eine Straße des überörtlichen Verkehrs. Sie ist ein Abschnitt der L568, die das Gebiet der Beigeladenen mit dem nördlich gelegenen A-Stadt verbindet.

bb.

Dass es sich um eine Weisung der zuständigen obersten Landesbehörde an die untere Straßenverkehrsbehörde im übertragenen Wirkungskreis (zum Straßenverkehrsrecht als staatliche Aufgabe BVerwG, Urt. v. 20.04.1994 - 11 C 17.93 -, juris Rn. 13) und nicht um einen Handlungsvorschlag handelt, wie der Kläger meint, ergibt sich nach Überzeugung der Kammer aus dem Wortlaut des Schreibens und dem Kontext, in dem es erging. Das Ministerium formuliert dort zwar eine "Bitte" an die für die Teilnahme am Modellprojekt ausgewählten Kommunen zuständigen unteren Straßenverkehrsbehörden, die erforderlichen Verkehrszeichen aufzustellen. Allerdings beginnt das Schreiben mit einer nur als Weisung zu verstehenden Anordnung ("Mit Beginn der Erprobungsphase ist nunmehr Tempo 30 an den Modellstrecken anzuordnen und aufzustellen."). Aus dem Kontext des Schreibens ergibt sich damit bei Auslegung nach dem objektivierten Empfängerhorizont analog §§ 133, 157 BGB, dass hiermit eine Weisung gemeint war und dem Beklagten hinsichtlich der Anordnung der Tempo-30-Zone auf der Landstraße in Groß Schneen kein weiteres Ermessen mehr zukam.

cc.

Die nach § 46 Abs. 2 StVO erteilte Weisung ist auch rechtmäßig. Sie ist Gegenstand der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Anordnung einer Tempo-30-Zone auf der Landstraße durch das Gemeindegebiet der Beigeladenen im Ortsteil Groß Schneen, weil der Beklagte wegen § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO ohne die gewährte Ausnahme zu der Anordnung nicht ermächtigt gewesen wäre.

Rechtsgrundlage für das Weisungsrecht sind nach dem Entfallen der Regelung in § 44 Abs. 1 Satz 2 StVO vom 16.11.1970 (BGBl. I S. 1565) durch die StVO vom 06.03.2016 (vgl. BR-Drs. 428/12, S. 144) §§ 170 Abs. 1 Satz 2, 171 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 NKomVG. Danach üben die obersten Landesbehörden im übertragenen Wirkungskreis die Fachaufsicht über die Landkreise aus. Zwar folgt aus der Fachaufsicht noch kein Selbsteintrittsrecht der Fachaufsichtsbehörden (BayVGH, Urt. v. 13.08.2001- 11 B 98.1058 -, juris Rn. 18), das einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedürfte, die hier nicht vorliegt. Da § 46 Abs. 2 StVO die Zuständigkeit aber ausdrücklich den obersten Landesbehörden vorbehält, stellt die Weisung keine gesetzeswidrige Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Verkehrsministerium als oberster Straßenverkehrsbehörde und dem als untere Straßenverkehrsbehörde zuständigen Beklagten dar. Die Kammer geht davon aus, dass auf Grundlage von § 46 Abs. 2 StVO das Verkehrsministerium befugt gewesen wäre, auf Antrag der Beigeladenen die Tempo-30-Zone im Rahmen der gesetzlichen Regelungen selbst anzuordnen; dass sich das Ministerium für die Umsetzung des Modellprojekts dann aber der sachnäheren unteren Verkehrsbehörden - hier des Beklagten - bediente, ist als Maßnahme der Fachaufsicht von §§ 170 Abs. 1 Satz 2, 171 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 NKomVG gedeckt.

Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 46 Abs. 2 StVO liegen vor. Die Regelung setzt nach ihrem Wortlaut lediglich voraus, dass die Ausnahmen "für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller" genehmigt werden. Hier liegt eine Ausnahme für den Einzelfall des von der Beigeladenen bei der Bewerbung um Teilnahme an dem Modellprojekt beschriebenen Streckenabschnitts der Landstraße vor. Die Regelung geht zwar offensichtlich davon aus, dass im Wege des Verwaltungsakts auf Antrag eine Einzel- oder Dauergenehmigung erteilt wird, die zum Abweichen von Regelungen der StVO ermächtigt. Dies spricht dafür, dass sie regelmäßig Verkehrsteilnehmern auf Antrag und damit bestimmten Verkehrsteilnehmern erteilt wird (vgl. Will, in: Dötsch/Koehl/Krenberger/Türpe, BeckOK StVR, 23. Ed., Stand: 15.10.2023, StVO § 146 Rn. 157). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können Ausnahmegenehmigungen nach dieser Regelung dementsprechend nicht erteilt werden, wenn sie einen unbestimmten Personenkreis begünstigen sollen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 - 7 C 30.17 -, juris Rn. 46; v. 13.03.2008 - 3 C 18.07 -, juris Rn. 27). Hier gelten die streitgegenständlichen Anordnungen zwar für einen unbestimmten Personenkreis von Verkehrsteilnehmern, den sie teils belasten (motorisierter Straßenverkehr), teils begünstigen (nicht motorisierter Straßenverkehr). Allerdings ist die durch Weisung ausgesprochene Ausnahme auf Antrag einer einzelnen Antragstellerin, nämlich der Beigeladenen, ausgesprochen worden und begünstigt sie. Nach Auffassung der Kammer stehen weder Wortlaut noch Sinn und Zweck von § 46 Abs. 2 StVO als Generalklausel oder allgemeine verwaltungsverfahrensrechtliche Grundsätze wie der der Bestimmtheit der Anwendung von § 46 Abs. 2 StVO im vorliegenden Fall entgegen.

Weitere Tatbestandsvoraussetzungen hat § 46 Abs. 2 StVO nicht. Selbst wenn man entgegen des voraussetzungslos ausgestalteten Wortlauts nach allgemeinen Grundsätzen davon ausgeht, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind und dementsprechend ein Ausnahmefall vorliegen muss (befürwortend Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Aufl. 2020, Rn. 1316), wäre dieser jedenfalls nicht Tatbestandsvoraussetzung, sondern auf Ermessensebene zu prüfen (BVerwG, Urt. v. 13.03.1997 - 3 C 2.97 -, juris Rn. 27; v. 18.09.1997 - 3 C 4.97 -, juris Rn. 21; Sauthoff, ebd., Rn. 1318).

Ermessensfehler liegen nicht vor. Nach § 40 VwVfG ist die Ermessensbetätigung an straßenverkehrs- und straßenrechtlichen Gesichtspunkten zu orientieren. Diese sind, wie § 6 StVO und § 45 StVO zeigen, weit. Der Ermächtigungskatalog des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG ist, wie sich aus dem Wort "insbesondere" ergibt, beispielhaft zu verstehen, so dass auch andere, dort nicht explizit aufgeführte Schutzgüter zu berücksichtigen sind, die zum Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gehören. Daher kommen als entgegenstehende öffentliche Belange je nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift, von der eine Ausnahme begehrt wird, auch Aspekte der Abwehr solcher Gefahren in Betracht, die vom Straßenverkehr ausgehen und die Umwelt beeinträchtigen, etwa die Beeinträchtigung von Fauna und Flora oder der Schutz von Anwohnern und Kurgästen vor den Umweltbelastungen des Kraftfahrzeugverkehrs (Sauthoff, ebd., Rn. 1319). Die Feststellung, ob ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, der eine Maßnahme nach § 46 Abs. 2 StVO rechtfertigt, setzt den gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falles mit dem typischen Regelfall voraus, der dem generellen Verbot zugrunde liegt; diese sind im Lichte der Ziele nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG zu gewichten (BVerwG, Urt. v. 13.03.1997 - 3 C 2.97 -, juris Rn. 27).

Hieran gemessen sind Ermessensfehler nicht zu verzeichnen. Die Weisung dient nach dem Konzept des Modellprojekts der Untersuchung, ob sich auf Hauptverkehrsstraßen mit Tempo 30 (anstelle der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h) Verbesserungen bei der Verkehrssicherheit, bei der Lärm- und Luftbelastung in Kommunen aus drei Größenklassen ergeben. Dass eine solche Untersuchung nicht oder nur so stattfindet, dass sie keine Ergebnisse hervorbringen kann, wie der Kläger andeutet, ist nicht ersichtlich. Bei den verfolgten Zwecken handelt es sich um straßenverkehrsrechtliche Belange, die innerhalb der Zwecksetzung der StVO liegen (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 StVG, insbesondere Nummern 8 und 9), mithin um legitime Ziele der Ermächtigung. Sie ist auch geeignet und erforderlich, um Erkenntnisse zu Verkehrssicherheit, Lärm und Luft zu erhalten. Eine Untersuchung auf Hauptverkehrsstraßen wäre ohne die Ermächtigung wegen der entgegenstehenden Vorschrift des § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO nicht möglich. Sie ist auch angemessen, indem sie die im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützten Belange der Verkehrsteilnehmer - auf die sich auch der Kläger berufen kann -, die Ortsdurchfahrt einer Landesstraße im Rahmen des überörtlichen Verkehrs mit nicht allzu geringer Geschwindigkeit passieren zu müssen, mit dem öffentlichen Interesse an der Durchführung des Modellprojekts in angemessene Abwägung bringt. Neben diese öffentlichen Interessen tritt hier das Interesse von Verkehrsteilnehmern und Anwohnern, von den negativen Auswirkungen eines Durchgangsverkehrs geschützt zu werden. Die Abwägung ist hier auch deshalb angemessen, weil die Ermächtigung nur zeitlich beschränkt für die Dauer des Modellprojekts gilt. Die Dauer der Geschwindigkeitsbegrenzung wurde dabei an die Voraussetzungen für eine aussagekräftige und belastbare Analyse angepasst. Eine kürzere Erprobungsphase wäre mit Blick auf die erforderliche Aussagekraft der Untersuchung ungeeignet und damit nicht gleich effektiv. Im Übrigen wiegt das private Interesse, den streitgegenständlichen Streckenabschnitt mit den sonst üblichen 50 km/h zu befahren, nicht schwer. Das ergibt sich daraus, dass es sich bei dem betroffenen Streckenabschnitt um eine ca. 750 m lange Ortsdurchfahrt handelt und die zeitliche Ersparnis im direkten Vergleich zwischen 30 km/h und 50 km/h im Sekundenbereich liegt. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht unverhältnismäßig, dass sich die Weisung auf die gesamte Ortsdurchfahrt und nicht nur auf eine Teilstrecke bezieht.

b.

Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 Satz 1, 2 StVO liegen vor. Die Anordnung stellt eine Beschränkung der Benutzung der Landstraße durch Groß Schneen dar und erfolgt aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung sowie weiterer, in Satz 2 genannter Gründe (hierzu aa.). Sie ist auch ermessensfehlerfrei erfolgt und in der Sache verhältnismäßig (hierzu bb.).

aa.

Die hier streitgegenständliche Anordnung setzt voraus, dass sie aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung oder den in § 45 Abs. 1 Satz 2 StVO genannten weiteren Gründen erfolgte und auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist.

(1)

Eine Gefahrenlage liegt vor. Gründe der Sicherheit i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO rechtfertigen Maßnahmen, mit denen Gefahren für den Straßenverkehr entgegengewirkt werden sollen, aber auch Gefahren, die von ihm ausgehen (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, StVO § 45 Rn. 28). Die Anordnung eines Verkehrszeichens kann darüberhinausgehend auch aus den Gründen des § 45 Abs. 1 Satz 2 StVO erfolgen, namentlich nach Nr. 3 zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen sowie nach Nr. 6 zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen.

Die Beigeladene hat in ihrem Bewerbungsschreiben die örtlichen Verhältnisse (lange, gerade Streckenführung, hohe Verkehrsfrequenz, enge Bebauung bis z.T. an den Straßenrand) nachvollziehbar dargelegt und die sich hieraus ergebende Gefahr für die Verkehrssicherheit geschildert. Hieraus ergeben sich Gefahren für Leib und Leben insbesondere von nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern. Ob zusätzlich die Anforderungen von § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO gegeben sind (dazu vgl. BVerwG, Urt. v. 15.02.2000 - 3 C 14.99 -, juris Rn. 15), kann offenbleiben.

Höhere Anforderungen an die Gefahrenlage ergeben sich auch nicht aus dem Kriterienkatalog des Verkehrsministeriums. Soweit dort beispielhaft für eine Gefahrenlage "u.a. die Überschreitung von Grenzwerten nach der 39. BImSchV (Luft), der 16. BImSchV (Lärm) oder eine erhöhte Unfallgefahr" genannt werden, sind dies nur Beispiele. Insbesondere ist das Merkmal der "erhöhten Unfallgefahr" nicht besonders definiert oder numerisch zu erfassen. Im Übrigen handelt es sich bei dem Kriterienkatalog nicht um eine Regelung, die eine unmittelbare Außenwirkung hat und auf deren Verletzung sich der Kläger berufen könnte. Der Kläger ist auch nicht Adressat der aus der Anwendung des Katalogs resultierenden Entscheidung des Verkehrsministeriums nach § 46 Abs. 2 StVO, so dass er sich auch nicht auf eine hieraus folgende Verwaltungspraxis und den Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG berufen könnte.

(2)

Die Voraussetzung von § 45 Abs. 9 Satz 1 Satz 1 StVO, nach dem Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen sind, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist, gilt auch für die Anordnung von Tempo-30-Zonen (BVerwG, Beschl. v. 01.09.2017 - 3 B 50.16 -, juris Ls. 1 und Rn 7). Das ist dann der Fall, wenn die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Verordnung nicht ausreichen, um die mit der Anordnung bezweckten Wirkungen zu erreichen (ebd., Ls. 2 und Rn. 7). Diese Voraussetzung liegt hier vor, weil die bezweckten Wirkungen im Rahmen des Modellprojekts nur bei einer regelmäßigen verminderten Durchfahrtgeschwindigkeit auf der Ortsdurchfahrt Groß Schneen gemessen werden können. Dass auf der vielbefahrenen Strecke gelegentlich eine geringere Geschwindigkeit als die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren wird (vgl. § 3 Abs. 1 StVO) genügt hier nicht.

(3)

Eine qualifizierte Gefahrenlage, wie sie § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO für die Anordnung von Verkehrszeichen erfordert, ist hingegen nicht Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die streitgegenständliche Anordnung. Nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Nach Abs. 9 Satz 3 dürfen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Dass § 45 Abs. 3 Satz 3 StVO nicht für die Anordnung von Tempo 30-Zonen nach § 45 Abs. 1c StVO gilt, folgt aus § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 4 StVO. Tempo 30-Zonen können danach angeordnet werden, ohne dass die sonst erforderliche besondere Gefahrenlage des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO vorliegt.

Da es keiner qualifizierten Gefahrenlage bedurfte, musste keine Vorher-Messung durchgeführt werden. Ob diese möglicherweise sinnvoll gewesen wären, um das im Rahmen des Modellprojekts in Auftrag gegebene Gutachten zu validieren, spielt für die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Anordnungen keine Rolle.

(4)

Sofern es darauf ankommen sollte, dass die streitgegenständlichen Verkehrszeichen nur im Einvernehmen mit der Beigeladenen errichtet werden konnten (vgl. § 45 Abs. 1c Satz 1 StVO), liegt dieses Einvernehmen vor. Ein Ratsbeschluss ist nach § 58 NKomVG hierfür nicht erforderlich. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, durfte die Verwaltung der Beigeladenen den an sie gerichteten Beschluss des Rates der Beigeladenen vom 30.11.2017 nach Treu und Glauben so verstehen, dass der Rat eine Teilnahme an dem Modellprojekt begehrte. Diesem Verständnis ist die Beigeladene nicht entgegengetreten.

bb.

Die Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Anordnung ergibt sich auch nicht aus einem Ermessensfehler, § 40 VwVfG. Zwar räumt § 45 Abs. 1 StVO den Straßenverkehrsbehörden bei der Anordnung von Beschränkungen Ermessen ein; das gilt auch für die Anordnung von Tempo-30-Zonen, die geeignet, erforderlich und insgesamt angemessen sein muss, um das angestrebte Ziel zu erreichen (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 28.06.2018 - 11 CS 18.964 -, juris Rn. 10).

Sowohl das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen des Beklagten waren hier jedoch auf Null reduziert. Steht der Behörde grundsätzlich Ermessen zu und wird die untere Behörde durch die oberste (Landes-)Behörde angewiesen, so liegt ein Fall der gestuften Ermessensausübung vor. Bei dieser wird das Ermessen "eine Stufe höher" von der obersten Landesbehörde ausgeübt und muss nicht erneut auf der unteren Ebene ausgeübt werden (sog. gestuftes Ermessen, vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 31.08.1993 - 6 M 3482/93 -, juris Rn. 7; OVG NW, Urt. v. 23.09.2003 - 15 A 1973/98 -, juris Rn. 36; Wolff, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 114 Rn. 115). So liegt der Fall hier. Dies ergibt sich aus der Weisung des Verkehrsministeriums, das hinsichtlich der Ausnahme nach § 46 Abs. 2 StVO regelnden Charakter hat. Sie ist, wie oben dargestellt, ermessensfehlerfrei ergangen.

Die weitere Voraussetzung, nach der die angewiesene Behörde die Ermessenserwägungen zur Grundlage der jeweiligen Anordnung zu machen und gegenüber dem Anordnungsempfänger offen zu legen hat (vgl. OVG NW, Urt. v. 23.09.2003 - 15 A 1973/98 -, juris Rn. 36), ist hier nicht erheblich, weil die Anordnung von Verkehrszeichen keiner Begründung bedarf, § 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 3 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Berufung wird nach § 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage zugelassen, ob § 46 Abs. 2 StVO die zuständige oberste Landesbehörde ermächtigt, die unteren Straßenverkehrsbehörden unter Befreiung von entgegenstehenden Vorschriften der StVO (hier: § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO) anzuweisen, verkehrsbeschränkende Maßnahmen (hier: Tempo-30-Zone auf einer innerörtlichen Landesstraße) auf Antrag einer einzelnen Gemeinde anzuordnen, die eine unbestimmte Vielzahl von Verkehrsteilnehmern betreffen. Die Sprungrevision wird aus vorgenannten Gründen nach §§ 132 Abs. 2 Nr. 1, 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 VwGO zugelassen.