Landgericht Göttingen
Urt. v. 28.11.1996, Az.: 2 O 63/96

Mitteilungspflicht eines Arztes über alle erforderlichen ärztlichen Maßnahmen; Schadensersatzsanspruch gegenüber einem Arzt wegen ärztlichem Behandlungsfehler

Bibliographie

Gericht
LG Göttingen
Datum
28.11.1996
Aktenzeichen
2 O 63/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 14770
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGGOETT:1996:1128.2O63.96.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
OLG Celle - 23.02.1998 - AZ: 1 U 1/97

Fundstelle

  • VersR 1997, 621-622 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Schmerzensgeldes u.a.

Prozessführer

des am ... geborenen ...

durch seine Eltern ... wohnhaft ...

Prozessgegner

1. die ...,

2. Herrn ...

In dem Rechtsstreit hat die ... Zivilkammer des Landgerichts Göttingen
auf die mündliche Verhandlung vom 31. Oktober 1996
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht ...
den Richter am Landgericht ... und
die Richterin ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Beklagten werden verurteilt, dem Kläger als Gesamtschuldner ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 300.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 2. April 1996 und eine lebenslange Schmerzensgeldrente von monatlich 1.000,00 DM zu zahlen, beginnend ab dem 1. November 1995, wobei die von November 1995 an gezahlten Monatsbeträge in Höhe von 400,00 DM anzurechnen sind.

Es wird ferner festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger als Gesamtschuldner allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus dem ärztlichen Behandlungsfehler vom ... noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

Im übrigen und wegen des weitergehenden Zinsanspruchs wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten als Gesamtschuldner zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 400.000,00 DM vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

1

Der am ... geborene Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld in Anspruch.

2

Der Kläger kam kurz nach seiner Geburt erstmalig in stationäre Betreuung der pädiatrisch-kardiologischen Abteilung der Kliniken der Beklagten zu 1. Dort wurde bei ihm eine Fallot'sche Tetralogie diagnostiziert.

3

Der Kläger wurde am ... operiert. Die postoperative Betreuung auf der Intensivstation war komplikationsarm. Sie zeigte aber, daß der Kläger neben den Komplikationen eines Spannungspneumothorax rechts und einer relativ hohen Lungendurchblutung einen postoperativen Pericarderguß hatte, der zum Zeitpunkt der Verlegung von der Intensivstation auf eine normale Pflegestation der Kinderklinik der Beklagten zu 1. noch bestand und im handschriftlichen Verlegungsbericht mit der Empfehlung zu echokardiographischer Kontrolle noch am Verlegungstag aufgeführt wird.

4

Nach der Verlegung von der Intensivstation auf die Kinderstation am Morgen des 27. August 1992 kam es am 28. August 1992 kurz nach 5.00 Uhr zum Anstieg der Herzfrequenz, zum Abfall des Blutdrucks und zu einer Verschlechterung des Zustands mit stöhnender Atmung und Zyanose. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Sauerstoffuntersättigung des Blutes festgestellt. Der Kläger bekam Sauerstoff und wurde sediert, worauf kurzfristig eine Besserung eintrat mit Anstieg der pulsoximetrischen Werte auf 85-92 % und einem Blutdruck von 90 mmHg systolisch. Indessen zeigte sich bei der Blutgasanalyse eine schwere metabolische Azidose, die auch bei einer Kontrolluntersuchung erneut nachgewiesen wurde. Dann kam es wieder zu Blutdruckabfall und nunmehr zu einer Bradycardie. Der Beklagte zu 2. rief den Notarztwagen zum Transport des Klägers in die Intensivstation und zog den Oberarzt ... hinzu, der nach nasaler Intubation des Klägers und Beginn der Reanimation den Pericarderguß punktierte und 50 ml Flüssigkeit absaugte.

5

Im Rahmen dieses Ereignisses kam es beim Kläger zu einem schweren hypoxischen Hirnschaden mit nachfolgender spastischer Tetraparese und erheblicher geistiger Behinderung.

6

Im Schlichtungsverfahren wurde festgestellt, daß die schwere Kreislaufbeeinträchtigung des Klägers am Morgen des 28. August 1992 mit Sauerstoffmangelversorgung des Körpers und nachfolgendem Hirnschaden mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Herzbeuteltamponade zurückgeht. Bei der Rückverlegung des Klägers von der Intensiv- auf die Kinderstation am 27. August 1992 war - wie ausgeführt - in einem handschriftlichen Arztbrief darauf hingewiesen worden, daß beim Kläger ein Pericarderguß vorhanden sei. Es wurde empfohlen, eine Pericardergußkontrolle noch am Verlegungstag durchzuführen, was jedoch nicht geschah.

7

Der diensthabende Stationsarzt der Beklagten zu 1., der Beklagte zu 2., hatte diesen Hinweis nämlich unstreitig nicht zur Kenntnis genommen und darüber hinaus in der vorstehend geschilderten akuten Notsituation die Herzbeuteltamponade nicht diagnostiziert, so daß die einzig erfolgversprechende Maßnahme, nämlich die Entlastung des Herzbeutels von der überschüssigen Flüssigkeit durch eine Punktion erst nach etwa 60 Minuten durch den hinzugezogenen Oberarzt ... ergriffen wurde.

8

Die Beklagte zu 1. hat ihre Haftung durch Schreiben vom 16. Oktober 1995 dem Grunde nach anerkannt und eine einmalige Schmerzensgeldzahlung in Höhe von insgesamt 120.000,00 DM und eine monatliche Rentenzahlung von 400,00 DM ab November 1995 geleistet.

9

Der Kläger meint, damit sei der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgelds nicht genügt. Er behauptet insoweit, er sei durch den erlittenen Hirnschaden im Ergebnis apallisch geworden, auch sei eine Besserung seines Zustands ausgeschlossen. Ferner meint er, das von der Beklagten zu 1. gezahlte Schmerzensgeld werde auch der Genugtuungsfunktion nicht gerecht, zumal die Beklagte zu 1. die außergerichtliche Einigung verzögert und den Beklagten zu 2. ein erhebliches Verschulden treffe.

10

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    die Beklagten zu verurteilen, an den Kläger ein über den gezahlten Betrag von DM 120.000,00 und DM 400,00 monatliche Rente hinausgehendes angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen nebst 4 % Zinsen seit dem 10. Februar 1995, und

  2. 2.

    festzustellen, daß die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus dem ärztlichen Behandlungsfehler vom 28. August 1992 noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen ist.

11

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

12

Sie halten das bisher gezahlte Schmerzensgeld nach Kapital und Rente für ausreichend und bestreiten, daß der Zustand des Klägers ein Dauerzustand sei, der dem eines Apallikers gleichkomme.

13

Wegen der Sachdarstellung im einzelnen wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze der Parteien samt Anlagen, nach deren Maßgabe mündlich verhandelt worden ist, verwiesen. Gemäß Beschluß vom 10. Juni 1996 ist Beweis erhoben worden; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen ... vom 20. August 1996 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

14

Die Klage ist überwiegend begründet.

15

Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein Schmerzensgeldanspruch in der ausgeurteilten Höhe aus § 847 BGB zu.

16

Was die Haftung der Beklagten zu 1. angeht, so hat diese ihre Haftung dem Grunde nach anerkannt. Es sei daher nur am Rande erwähnt, daß die Beklagte zu 1. ein Organisationsverschulden trifft. Ebenso, wie ein Arzt, an den ein Patient überwiesen wurde, verpflichtet ist, in einem Arztbrief alle durchgeführten, erforderlichen und noch zu treffenden ärztlichen Maßnahmen mitzuteilen (vgl. dazu BGH in NJW 94, 797/798), muß vice versa sichergestellt werden, daß diese Hinweise zur Kenntnis des weiterbehandelnden Arztes gelangen und beachtet werden. Dies ist hier versäumt worden; denn die "Empfehlung", eine Pericardergußkontrolle noch am Verlegungstag, d.h. dem 27. August 1992, durchzuführen, blieb unbeachtet. Es ist nicht einmal sichergestellt worden, daß dieser Hinweis und die Tatsache, daß keine Kontrolluntersuchung stattgefunden hatte, vom Beklagten zu 2. zur Kenntnis genommen wurde.

17

Die deliktische Haftung der Beklagten zu 1. besteht neben der vertraglichen.

18

Auch der Beklagte zu 2. haftet dem Kläger deliktisch nach § 823 Abs. 1 BGB und damit auch auf Schmerzensgeld gemäß § 847 BGB. Nach dem im Schlichtungsverfahren eingeholten Gutachten des Sachverständigen ... vom 9. September 1994 ist zwischen den Parteien unstreitig, daß der Beklagte zu 2. die Möglichkeit einer Herzbeuteltamponade in der Akutsituation differentialdiagnostisch nicht beachtet hatte. Hätte er dies jedoch getan, so hätte die Punktion des Pericardergusses viel früher durchgeführt werden können, wodurch die Kreislaufdepression mit ihren Folgen mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre.

19

Die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten beruht auf § 830 BGB.

20

Was die Höhe des Schmerzensgeldes betrifft, so spielt in diesem Rahmen die Genugtuungsfunktion keine wesentliche Rolle; denn die Beklagte zu 1. hat verhältnismäßig kurze Zeit nach Vorliegen der Empfehlung der Schlichtungsstelle ihre Haftung dem Grunde nach anerkannt und Zahlungen geleistet.

21

Das Schwergewicht der Bemessung liegt daher bei der Ausgleichsfunktion. Angesichts des Umfangs der Behinderung, die der Kläger als Folge des ärztlichen Kunstfehlers der Beklagten erleiden muß, kann sich das ihm zustehende Schmerzensgeld nur an Höchstbeträgen orientieren.

22

Nach dem überzeugenden Gutachten des forensisch erfahrenen und der Kammer aus anderen Prozessen als sehr zuverlässig bekannten Sachverständigen ... vom 20. August 1996 steht zur Überzeugung des Gerichts fest, daß der Kläger eine schwerste Tetraparese hat, eine Enthirnungsstarre. Er ist nicht in der Lage, sinnvolle Greifbewegungen zu machen, er ist ferner nicht in der Lage zu kauen und zu schlucken, er kann nicht sprechen und nicht sehen. Die Hirnrinde und das darunterliegende Marklager, also der Hirnmantel, sind, computertomographisch dargestellt, weitgehend zerstört. Mit diesem Befund ist mit ausreichender Sicherheit anzunehmen, daß es sich im Fall des Klägers um einen Befund handelt, der der vom Sachverständigen ... als unscharf bezeichneten Definition des apallischen Syndroms entspricht. In diesem Zusammenhang darf gerade im Hinblick auf die Bemessung der notwendigen Hilfen für den Kläger nicht übersehen werden, daß es sich bei ihm nicht um ein absolut vollständiges Fehlen aller Großhirnfunktionen, also im strengen Sinn der Definition auch nicht um ein vollständiges apallisches Syndrom handelt. Der Kläger ist nämlich nach den Feststellungen des Sachverständigen in der Lage, durch nicht visuelle Reize, also trotz seiner Blindheit, seine Umgebung wahrzunehmen. Er ist eindeutig in der Lage, die Präsenz seiner Eltern und seines Bruders als angenehm und die Annäherung eines Fremden als beängstigend zu empfinden. Er ist auch in der Lage, derartige äußere Reize aufzunehmen und emotional umzusetzen. Er kann seine vertraute und angenehme Umgebung einerseits und eine unvertraute, beängstigende Veränderung seiner Umgebung andererseits durch Freude bzw. durch Furcht fühlbar machen.

23

Diese ganz eindeutig nachweisbaren Restfunktionen der Hirnrinde machen die Pflege eines Kindes in der Situation des Klägers nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen ... viel aufwendiger und erfordern viel mehr als bei einem vollständigen Fehlen dieser Funktionen die menschliche Verpflichtung, auf diese Regungen des Klägers mit größter Sorgfalt einzugehen und durch entsprechende Verhaltensweisen und Maßnahmen sein Los so weit wie möglich zu erleichtern und zu verbessern.

24

Was die Frage angeht, ob eine Verbesserung des Zustands des Klägers in der Zukunft möglich ist, so konnte der Sachverständige ... dies nicht völlig ausschließen. Aus seinem Gutachten folgt jedoch, daß der Kläger seine schwere tetraparetische Bewegungsstörung behalten wird. Es muß mit demselben Wahrscheinlichkeitsgrad ferner davon ausgegangen werden, daß ihm auch später eine verbale Kommunikation kaum möglich sein und daß sein intellektuelles Abstraktionsvermögen extrem gering bleiben wird.

25

Die von den Beklagten zu verantwortende Kreislaufdepression hat danach das Leben des Klägers praktisch zerstört. Seinem Leben wird die typische Perspektiven- und Erlebnisvielfalt eines unbehinderten jungen Lebens für immer fehlen, sein Leben wird im Höchstmaß arm an Erfahrungen und voll von Einsamkeit sein. Im Vordergrund stehen damit Abhängigkeit und die Ohnmacht, die ein Mensch empfindet, wenn er keinen Wunsch, und sei er auch noch so bescheiden, ohne fremde Hilfe verwirklichen kann. Die notwendige immerwährende Anwesenheit von Helfern wird es dem Kläger unmöglich machen, sich je eine eigene Sphäre aufzubauen, und ihm werden die für jedes Leben ganz wesentlichen Erfahrungen für immer verwehrt sein. Das alles zeigt, daß die dem Kläger zugefügten Beeinträchtigungen zu den schwersten gehören. Da das Schmerzensgeld auch als Indikator und Bewertungsmaßstab für das Ausmaß der erlittenen Schäden fungiert, ist das für den Kläger angemessene Schmerzensgeld an den höchsten bisher von der Rechtsprechung überhaupt zugestandenen Beträgen zu orientieren (vgl. zu einem ähnlichen Fall LG Bremen in DAR 92, 65).

26

Der dem Schmerzensgeld innewohnende Gesichtspunkt des Ausgleichs führt ferner dazu, dem Kläger neben dem Kapital eine lebenslange Rente zuzubilligen. Nach dem Gutachten des Sachverständigen ... steht nämlich - wie vorstehend ausgeführt - fest, daß der Kläger kompensatorische Annehmlichkeiten erfahren kann. Die von den Beklagten verschuldete Hilflosigkeit des Klägers bringt es jedoch mit sich, daß die Verschaffung auch nur kleinster Annehmlichkeiten extrem kostenintensiv ist, weil der Kläger sie sich nicht selbst ermöglichen kann, sondern hierzu stets der Hilfe Dritter und vielfach bezahlter Helfer bedarf.

27

Endlich kommt hier auch ein verfeinerter pönaler Aspekt zum Tragen. Aufgrund der ihm im Verantwortungsbereich der Beklagten zugefügten Schwerstschäden wurde es dem Kläger nahezu unmöglich gemacht, seine ihm angeborene Menschenwürde in unserer Gesellschaft zu behaupten. Das Schmerzensgeld für ihn muß deshalb besonders hoch sein. Dem Schmerzensgeld kommt hier nämlich die besondere Aufgabe zu, gewissermaßen symbolhaft zu bestätigen, daß der Kläger trotz der ihm zugefügten Schwerstbehinderung körperlicher und geistiger Art seine Menschenwürde nicht verloren hat (ebenso LG Bremen, ebendort).

28

Bei Abwägung all dieser Gesichtspunkte hält die Kammer ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 420.000,00 DM und eine lebenslange Schmerzensgeldrente von monatlich insgesamt 1.000,00 DM für die angemessene Entschädigung.

29

Der Zinsanspruch beruht auf den §§ 284, 288 BGB. Da der Kläger eine den Verzug begründende Mahnung nicht dargetan hat, gerieten die Beklagten erst mit Zustellung der Klage in Verzug.

30

Auch das Feststellungsbegehren ist begründet. Nach dem Gutachten des Sachverständigen ... steht nämlich zur Überzeugung des Gerichts fest, daß etwa in fünf bis sechs Jahren Teilfunktionen des Hirnmantels erkennbar werden können, von denen gegenwärtig jedoch nicht feststellbar ist, ob sie den Zustand des Klägers eher verbessern oder im Gegenteil eher verschlechtern und erschweren.

31

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 2, 100 Abs. 4, 709 S. 1 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert beträgt bis zu 400.000,00 DM.