Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 01.06.2016, Az.: 1 AR 19/16
Gerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung über die Aufhebung der Beschlagnahme oder des dinglichen Arrestes nach Anklageerhebung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 01.06.2016
- Aktenzeichen
- 1 AR 19/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 29706
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2016:0601.1AR19.16.0A
Rechtsgrundlagen
- StPO § 111i Abs. 2
- StPO § 111i Abs. 3 S. 5
- StPO § 111i Abs. 4
- StPO § 162 Abs. 3
- StPO § 111c
- StPO § 111d
Fundstellen
- NStZ-RR 2017, 17-18
- wistra 2016, 509-511
Amtlicher Leitsatz
Im Stadium des § 111i Abs. 2 bis 4 StPO bleibt das nach der Anklageerhebung mit der Sache befasste Gericht auch nach Rechtskraft für die Entscheidung über die Aufhebung der Beschlagnahme oder des dinglichen Arrests nach § 111i Abs. 3 Satz 5 StPO zuständig.
Tenor:
Die 5. große Strafkammer des Landgerichts Stade ist zur Entscheidung über den Antrag des Verurteilten T. vom 23. Februar 2016, mit dem dieser aufgrund einer Zahlung an die Geschädigte und deren darauf beruhendem Verzicht auf weitergehende Forderungen die Aufhebung des Arrestbeschlusses vom 24. Oktober 2013 begehrt, zuständig.
Gründe
I.
Es besteht ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Stade und der 5. Großen Strafkammer des Landgerichts Stade als Gericht des ersten Rechtszuges.
Die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Stade verurteilte den Angeklagten T. mit Urteil vom 24. Oktober 2013 wegen leichtfertiger Geldwäsche 147 Fällen zu einer Gesamtfreistrafe von einem Jahr und sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Es wurde festgestellt, dass wegen eines Geldbetrages in Höhe von 315.490,82 € lediglich deshalb nicht auf Verfall erkannt wird, weil Ansprüche der Verletzten entgegenstehen. Am Tag der Urteilsverkündung wurde der zuvor in der Höhe von 315.490,82 € angeordnete dinglicher Arrest für die Dauer von 3 Jahren ab Rechtskraft aufrechterhalten. Das Urteil ist bezüglich des Angeklagten T. seit dem 1. Oktober 2013 rechtskräftig.
Mit Schriftsatz vom 23. Februar beantragte der Verurteilte gem. § 111i Abs. 3 Satz 5 StPO die Beschlagnahme aufzuheben, weil die Geschädigte ihm nach Zahlung von 20.000 € die weitergehenden Forderungen erlassen habe.
Die Staatsanwaltschaft Stade hielt zunächst eine Zuständigkeit des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht Stade für gegeben. Dieser wies jedoch darauf hin, dass seiner Meinung nach eine Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges gegeben sei. Er bezog sich dabei auf eine Entscheidung des OLG Koblenz vom 4. Januar 2016 (Az.: 2 WS 459/15). Dort bestätigte das OLG Koblenz eine Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichtes gem. § 111 i Abs. 3 Satz 5 StPO, ohne eine etwaige Zuständigkeit des Ermittlungsrichters auch nur zu problematisieren.
Die Staatsanwaltschaft Stade schloss sich daraufhin dieser Sichtweise an und legte die Akten über Vermittlung des Amtsgerichtes der 5. Großen Strafkammer des Landgerichts Stade zur Entscheidung vor.
Diese hält sich für unzuständig und legte die Akten dem Senat zur Bestimmung der Gerichtszuständigkeit vor.
Zur Begründung führte das Landgericht aus, dass nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters gem. § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO wieder auflebe. So stelle sich der Antrag auch auf Aufhebung des dinglichen Arrestes nach § 111 i Abs. 3 Satz 5 in Verbindung mit 111 d StPO als eine in den Bereich des § 98 StPO fallende Ermittlungsmaßnahme eigener Art dar, wofür § 162 StPO eine gesetzliche Zuständigkeitsregelung vorsehe. Es stützt sich dabei auf die Rechtsprechung und des OLG Hamburg (NStZ 2012, 51 [OLG Oldenburg 31.01.2011 - 1 Ss 7/11]). Die entgegenstehende Rechtsprechung des OLG Stuttgart (NStZ 2015, 50 [OLG Stuttgart 15.10.2013 - 1 Ws 178/13]), der sich auch das OLG Hamm (NStZ-RR 2015, 7) angeschlossen hat und nach der eine Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichtes gegeben sei, sei abzulehnen. Diese sei weitgehend von teleologischen Erwägungen geleitet. Angesichts der klaren Zuständigkeitsregel des § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO sei mangels Regelungslücke für eine Rechtsfortbildung im Bereich des § 111 I Abs. 3 StPO kein Raum.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die 5. große Strafkammer des Landgerichts Stade als zuständiges Gericht zu bestimmen. Die Gesetzessystematik spreche dafür, dass das Gericht des ersten Rechtszuges nicht nur den Eintritt und Umfang der staatlichen Auffangrechtserwerbs nach § 111i Abs. 6 StPO feststellt, sondern darüber hinaus auch entscheidet, ob der von diesem erlassene Arrest infolge der Befriedigung des Tatverletzten aufzuheben ist.
II.
1. Die Vorlage ist gem. § 14 StPO zulässig. Das Oberlandesgericht hat danach als das gemeinschaftliche obere Gericht das für die weitere Verhandlung und Entscheidung zuständige Gericht zu bestimmen. Insbesondere ist die 5. große Strafkammer außerhalb eines Beschwerdeverfahrens dem Ermittlungsrichter nicht übergeordnet, so dass dieses die Zuständigkeit nicht selbst festlegen darf.
2. Zuständig für die Entscheidung ist die 5. große Strafkammer des Landgerichts Stade.
Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Aufhebung des Arrests folgt aus § 111 i Abs. 3 Satz 5 StPO. Wenn dort von "dem Gericht" die Rede ist, bezeichnet dies das nach der Anklageerhebung mit der Sache befasste Gericht. Insoweit handelt es bei dem Regelungskomplex des § 111 i Abs. 2 bis 4 StPO um eine abdrängende Sonderzuständigkeit gegenüber § 162 Abs. 3 Satz 2 StPO.
a) Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift als Ausgangspunkt der Gesetzesauslegung. § 111i Abs. 2 StPO regelt, dass "das Gericht" im Urteil feststellen kann, dass es nur deshalb nicht auf Verfall erkannt hat, weil Ansprüche eines Verletzten im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB dem entgegenstehen. In diesem Zusammenhang steht es außer Zweifel, dass hierdurch das nach der Anklageerhebung mit der Sache befasste Gericht gemeint ist, weil nur dieses Feststellungen im Urteil treffen kann. Absatz 3 Satz 1 der Vorschrift ist im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Befugnis zu sehen. Dort wird bestimmt, dass "das Gericht" soweit es nach Absatz 2 verfährt, die Beschlagnahme (§ 111c) des im Sinne des Absatzes 2 Satz 2 und 4 Erlangten sowie den dinglichen Arrest (§ 111d) bis zur Höhe des nach Absatz 2 Satz 3 und 4 festgestellten Betrages durch Beschluss für drei Jahre aufrechterhält. Die Sätze 2 bis 4 des Absatzes 3 regeln die näheren Modalitäten dieser Anordnung. Absatz 3 Satz 5 bestimmt darauf aufbauend, dass "das Gericht", soweit der Verletzten innerhalb der Frist nachweislich aus Vermögen befriedigt wird, dass nicht beschlagnahmt oder im Wege der Arrestvollziehung gepfändet worden ist, die Beschlagnahme oder den dinglichen Arrest auf Antrag des Betroffenen aufhebt. Hiermit kann nur das Gericht gemeint sein, von dem auch in den vorangegangenen Sätzen und Absätzen der Vorschrift die Rede war.
Dieser Befund wird noch dadurch verstärkt, dass § 111i Abs. 4 StPO "dem Gericht" die Aufgabe zuweist, die Anordnung nach Absatz 3 sowie den Eintritt der Rechtskraft dem durch die Tat Verletzten unverzüglich mitzuteilen.
In beiden Absätzen wird bei der Zuständigkeit "des Gerichts" gerade nicht zwischen dem Zeitraum von Urteilserlass bis Rechtskraft und der Zeit nach Rechtskraft unterschieden.
Hier liegt mithin ein zusammenhängender Regelungskomplex vor. Sofern der Gesetzgeber hier trotz der sachlich aufeinander aufbauenden Entscheidungen eine unterschiedliche Zuständigkeit in einzelnen Verfahrensstadien hätte schaffen wollen, hätte er dies ausdrücklich angeordnet.
§ 111i Abs. 6 StPO weist die Entscheidung über den Eintritt und Umfang des staatlichen Auffangrechtserwerbs dem Gericht des ersten Rechtszuges zu. Diese ausdrückliche Zuweisung war erforderlich, weil sich diese Zuständigkeit im Gegensatz zu der in den vorangegangenen Absätzen nicht bereits aus dem Gefüge der Norm selbst ergibt.
b) Dem Oberlandesgericht Hamburg und diesem folgend dem Landgericht Stade ist zwar darin zuzustimmen, dass eine allein an teleologischen Gesichtspunkten orientierte Gesetzesauslegung nicht gegen den Wortlaut des Gesetzes eine nicht vorhandene Regelungslücke schließen darf. Hier spricht indessen der Wortlaut des § 111i Abs. 2 bis 4 StPO gerade für die Annahme eines eigenständigen und in sich geschlossenen Regelungskomplexes. Der Umstand, dass das nach Anklageerhebung mit der Sache befasste Gericht eine besondere Kompetenz auch für Entscheidungen nach § 111i Abs. 3 Satz 5 StPO besitzt, kann daher bei der Erforschung des Willens des historischen Gesetzgebers durchaus Berücksichtigung finden.
In diesem Zusammenhang ist nicht erkennbar, dass der historische Gesetzgeber bei der Einführung des neuen § 162 Abs. 3 Satz 2 StPO durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts im Bereich des § 111i Abs. 3 Satz 5 StPO eine Änderung beabsichtigte. In der Gesetzesbegründung heißt es zu Nummer 12 (§ 162 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 - neu - StPO-E lediglich (BT-Drucksache 16/11644 S. 35):
Mit der Änderung von § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO und dem neu geschaffenen § 162 Abs. 3 StPO-E wird höchstrichterliche Rechtsprechung umgesetzt, nach der - abweichend von dem Wortlaut von § 162 StPO - die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters mit der Anklageerhebung endet und Ermittlungshandlungen durch das jeweils mit der Sache befasste Gericht anzuordnen sind (BGHSt 27, 253; Meyer-Goßner, StPO, 51. Auflage, § 162, Rn. 16 m. w. N.). Während des Revisionsverfahrens bleibt die Zuständigkeit des letzten Tatsachengerichts bestehen (vgl. die Ausführungen zu § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO-E, Artikel 1 Nr. 6). Nachrechtskräftigem Abschluss des Verfahrens lebt die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters wieder auf.
Hieraus geht deutlich hervor, dass mit dem Gesetz nur die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zur Auslegung des § 162 StPO normiert werden sollte. Sachliche Änderungen der Zuständigkeit im Bereich des § 111 i Abs. 3 Satz 5 StPO waren ausdrücklich nicht beabsichtigt.
c) Zwar gilt § 162 StPO über die den Verweis in § 98 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht nur für die Beschlagnahme, sondern auch für die gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen anderer Art (OLG Hamburg a.a.O, mit weiteren Nachweisen). Dies rechtfertigt indessen nicht den Schluss, dass die Vorschrift daher auch für den Bereich des § 111i Abs. 2 bis 4 StPO erfasst. Der allgemeine Hinweis auf den breiten Anwendungsbereich des Rechtsschutzsystems des § 98 Abs. 2 Satz 3 StPO in Verbindung mit § 162 StPO sagt nichts über etwaige abdrängende Sonderreglungen aus. Hier wird somit vorausgesetzt, was erst noch erwiesen werden soll.
d) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg vom 11. Januar 2011 (a.a.O.) und diesem folgend der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 30. September 2013 (NStZ-RR 2014, 85) beziehen sich im Übrigen nicht auf die Auslegung des § 111i Abs. 2 bis 4 StPO, sondern auf die Zulassung der Zwangsvollstreckung gem. § 111g Abs. 2 StPO beziehungsweise auf Maßnahmen in Vollziehung eines Arrests gem. § 111f Abs. 5 StPO. Daraus folgt, dass die Besonderheiten des Regelungsgefüges des § 111i Abs. 2 bis 4 StPO in diesen Entscheidungen nicht zum Tragen kamen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass sowohl das Oberlandesgericht Stuttgart (a.a.O.) als auch das Oberlandesgericht Oldenburg (Beschluss vom 26. 2. 2015 - 1 Ws 585/14) die Zuständigkeit des nach der Anklage mit der Sache befassten Gerichts für Entscheidungen über die Zulassung der Zwangsvollstreckung unter Rückgriff auf die Regelung des § 111i Abs. 2 bis 4 StPO begründen. Es spricht zwar viel dafür, in allen vorstehenden Fällen einen Gleichlauf der Zuständigkeit anzunehmen. Hier braucht diese Frage für die §§ 111g und 111f StPO jedoch nicht entschieden zu werden.