Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.08.2020, Az.: 1 Ws 192/20
Laufzeit der sechsmonatige Kriseninterventionsfrist mit jeder aktuellen Krise neu; Zulässigkeit der Sicherungsunterbringung nach Abschluss der Krisenintervention; Nachträgliche Anordnung von Kriseninterventionsmaßnahmen nur innerhalb der Sechsmonatsfrist statthaft
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 25.08.2020
- Aktenzeichen
- 1 Ws 192/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 43083
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2020:0825.1WS192.20.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Göttingen - 29.06.2020 - AZ: 51 FA-StVK 177/16
Rechtsgrundlage
- § 463 Abs. 6 S. 1 StPO
Fundstelle
- NStZ-RR 2021, 31-32
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Dauer von "insgesamt" 6 Monaten, die die Krisenintervention gemäß § 67 h Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB nicht überschreiten darf, bezieht sich jeweils auf die aktuelle Krise und nicht auf eine bereits zuvor erfolgreich abgeschlossene Krisenintervention.
- 2.
Es ist nicht von vornherein unzulässig, eine Kriseninterventionsmaßnahme im Anschluss an die Vollstreckung der Sicherungsunterbringung, die dann aufzuheben ist, anzuordnen. Die mögliche "Umwandlung" der Sicherungsunterbringung in eine Kriseninterventionsmaßnahme wird in solchen Fällen indes durch § 67 h Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB zeitlich begrenzt. Die nachträgliche Anordnung der Krisenintervention scheidet daher aus, wenn der Zeitraum der zuvor vollstreckten Sicherungsunterbringung bereits die zulässige Dauer der Krisenintervention von maximal 6 Monaten erreicht oder übersteigt.
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde der Untergebrachten wird der Beschluss der 51. großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 29. Juni 2020 aufgehoben.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Untergebrachten.
Gründe
I.
Mit Urteil des Landgerichts O. vom 19. Mai 2011 wurde die Unterbringung der Beschwerdeführerin (im Folgenden: Untergebrachte) in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach den Urteilsfeststellungen hatte sie am 25. April 2009 in alkoholisiertem Zustand ein Glas zerschlagen und einer Nachbarin unvermittelt mit einer Scherbe in den Arm gestoßen. Außerdem hatte sie am 22. März 2010 wiederum erheblich alkoholisiert in einer Gaststätte eine Servierkraft mithilfe eines Schälmessers, das sie zu diesem Zweck aus ihrer Tasche genommen hatte, mit dem Tode bedroht.
Die sachverständig beratene Kammer ging davon aus, dass jedenfalls die Steuerungsfähigkeit und möglicherweise auch die Einsichtsfähigkeit der an einer schizoaffektiven Psychose leidenden Untergebrachten bei der Tat vom 25. April 2009 (§ 224 StGB) wegen ihres krankheitsbedingten, zudem durch den Alkoholkonsum begünstigten Wahnerlebens aufgehoben war. Bei der Begehung der Tat vom 22. März 2010 (§ 241 StGB) nahm die Kammer aus denselben Gründen zumindest eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit an. Einen Ausschluss sowohl der Steuerungs- als auch der Einsichtsfähigkeit hielt die Kammer bei dieser Tat ebenfalls für möglich. Wegen der weiteren Einzelheit wird auf das Urteil vom 19. Mai 2011 (Bd. I Bl. 2 ff.) verwiesen.
Die Maßregel wurde vom Eintritt der Rechtskraft des genannten Urteils (am 29. Juli 2011) bis zu der Entlassung der Untergebrachten am 13. Juni 2016 (Bd. II Bl. 72 f.) vollstreckt. Die Entlassung erfolgte, nachdem die Strafvollstreckungskammer die weitere Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung ausgesetzt und der Beschwerdeführerin unterer anderem die nachfolgend erwähnten Weisungen erteilt hatte.
Mit Beschluss vom 28. August 2017 ordnete die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen ein erstes Mal gemäß § 67 h StGB die Invollzugsetzung der Unterbringung für die Dauer von 3 Monaten an (Bd. III Bl. 175 ff.). Die befristete Krisenintervention wurde ab dem 22. September 2017 (Bd. II Bl. 229) für 3 Monate vollstreckt.
Am 16. Mai 2019 erließ die Strafvollstreckungskammer sodann einen Sicherungsunterbringungsbefehl, auf dessen Grundlage die Beschwerdeführerin am 27. Mai 2019 ergriffen wurde (Bd. II Bl. 159). Der Widerruf der Maßregelaussetzung komme in Betracht, weil die Untergebrachte Treffen mit der Bewährungshelferin nicht einhalte (§ 67 g Abs.1 S.1 Nr. 3 StGB) und sowohl gegen ihre Vorstellungspflicht bei den Mitarbeitern der Psychiatrischen Institutsambulanz der A. Klinik O. als auch gegen das ihr auferlegte Alkoholkonsumverbot verstoße (§ 67 g Abs.1 S.1 Nr. 3 StGB). Die Untergebrachte befinde sich wieder in einem kritischen Zustand. Der für die Untergebrachte zuständige Arzt des Sozialpsychiatrischen Dienstes habe mitgeteilt, dass sich bei der Untergebrachten auf dem Boden der paranoiden Erkrankung ein großes Aggressionspotential aufgestaut habe. Vermutlich werde eine lange Behandlungsdauer notwendig sein, um die Untergebrachte zu stabilisieren. Hinzu komme der Umstand, dass gegen die Untergebrachte wegen eines am 6. Mai 2019 begangenen Vorwurfs der Körperverletzung Strafanzeige erstattet worden sei (StA O. 850 Js 33261/19).
Den Sicherungsunterbringungsbefehl hob die Kammer nach Einholung eines Sachverständigengutachtens durch Beschluss vom 17. März 2020 auf und beschloss zugleich, die Unterbringung gemäß § 67 h StGB für die Dauer von 3 Monaten wieder in Vollzug zu setzen. Mit dem angefochtenen Beschluss verlängerte das Landgericht Göttingen die Krisenintervention um weitere 3 Monate.
Der Beschluss wurde der Verurteilten am 1. Juli 2020 und dem Pflichtverteidiger am 2. Juli 2020 zugestellt. Sowohl die Untergebrachte selbst als auch ihr Pflichtverteidiger haben jeweils am 7. Juli 2020 beim Landgericht Göttingen sofortige Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Der Senat hat die Akten 850 Js 33261/19 bei der Staatsanwaltschaft O. beigezogen. Der zur Tatzeit 78-jährige Zeuge J, der im Auftrag der Untergebrachten an der Hauseingangstür ein Schloss angebracht hatte, warf dieser vor, dass sie ihn hinterrücks eine Waschbetontreppe hinuntergestoßen habe und er mit dem Kopf auf die unterste Stufe aufgeschlagen sei. Die Staatsanwaltschaft hat wegen dieses Vorwurfs gemäß § 153 StPO von der Verfolgung abgesehen, wofür dem Senat jedes Verständnis fehlt.
II.
Die sofortige Beschwerde ist statthaft (§§ 463 Abs. 6 S. 1, 462 Abs. 3 S. 1 StPO) und sowohl form- als auch fristgerecht angebracht (§§ 306, 311 Abs. 2 Hs. 2 StPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Die Vollstreckung der Krisenintervention war aus Rechtsgründen von vornherein unzulässig und durfte daher auch nicht verlängert werden.
Die Aufhebung erfolgt allerdings nicht bereits wegen der im Jahr 2017 für 3 Monate vollstreckten Krisenintervention. Dass die Frist des § 67 h Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB, wie hier, bei Addition beider Maßnahmen überschritten wird, schadet nicht. Wie der Senat durch Beschluss vom 12. Juli 2018 (1 Ws 139/18; unveröffentlicht) entschieden hat, bezieht sich die Frist von "insgesamt" 6 Monaten, die bei der befristeten Invollzugsetzung gemäß § 67 h Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB zu beachten ist, jeweils auf die aktuelle Krise und nicht auf eine bereits zuvor erfolgreich abgeschlossene Krisenintervention (so auch Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 67 h Rn. 11 m.w.N.).
Auch begegnet es im Grundsatz keinen Bedenken, eine Kriseninterventionsmaßnahme, wie hier, während der Vollstreckung der Sicherungsunterbringung, die dann aufzuheben ist (OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. September 2013, 1 Ws 258/13, juris, Rn.4), nachträglich anzuordnen. Der Gesetzgeber geht zwar davon aus, dass die befristete Invollzugsetzung gemäß § 67 h StGB jedenfalls auch dazu dient, die mit der Sicherungsunterbringung verbundene Stigmatisierung zu vermeiden (Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksache 16/1993, S. 16 f.), was bei späterer "Umwandlung" der Sicherungsunterbringung in eine Kriseninterventionsmaßnahme nicht mehr möglich ist. Der zuständigen Strafvollstreckungskammer, die auf eine Krise zunächst mit einem Sicherungsunterbringungsbefehl gemäß §§ 453 c, 463 Abs. 1 StPO reagiert hat, muss es aber möglich sein, stattdessen gemäß § 67 h StGB zu verfahren, um einen Widerruf nach § 67 g StGB zu vermeiden, wenn sie erst später erkennt, dass dies ausreicht (vgl. hierzu auch Rissing van Saan/Peglau in Leipziger Kommentar/StGB, 12. Aufl., § 67 h Rn. 10). Schon wegen der Frist des § 67 h Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB bleibt die Krisenintervention in solchen Fällen in der Regel gleichwohl das mildere Mittel.
Die grundsätzlich mögliche "Umwandlung" der Sicherungsunterbringung ist indes ihrerseits zeitlich begrenzt und durfte hier schon am 17. März 2020 nicht mehr erfolgen. Denn die befristete Invollzugsetzung knüpft gemäß § 67 h Abs.1 S. 1 StGB an eine akute Verschlechterung des Zustands der "aus der Unterbringung entlassenen Person" an. Weil dieser Zustand gemäß § 67 h Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StGB nur für maximal 6 Monate zur befristeten Invollzugsetzung berechtigt, ist der Zeitraum der Sicherungsunterbringung nicht nur (im Gegensatz zur einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO) gemäß §§ 453 c Abs. 2, 463 Abs. 1 StPO auf die Maßregel anzurechnen (Graalmann-Scheerer in Löwe Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 453 c Rn. 13), sondern muss nach Auffassung des Senats auch bei der Krisenintervention berücksichtigt werden, wenn sie nachträglich angeordnet werden soll. Nur diese Vorgehensweise trägt dem Umstand Rechnung, dass die akute Krise, an die angeknüpft wird, zeitlich schon vor der Sicherungsunterbringung liegt und der Gesetzgeber für die jeweilige Kriseninterventionsbehandlung maximal 6 Monate vorgesehen hat. Kann die Behandlung einer akuten Krise, wie hier, nach 6 Monaten nicht abgeschlossen werden, soll die Strafvollstreckungskammer nach dem Willen des Gesetzgebers entweder den Widerruf der Maßregelaussetzung gemäß § 67 g StGB beschließen oder die untergebrachte Person entlassen (Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksache 16/1993, S. 16 f.). Wäre das anders, könnte ein Gericht die Frist, die § 67 h S. 2 Hs. 2 StGB insgesamt für eine Kriseninterventionsbehandlung vorsieht, auf dem Umweg über eine vorangehende Sicherungsunterbringung beträchtlich verlängern.
Ob der Senat im Beschwerdeverfahren ohne Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot statt der befristeten Invollzugsetzung (§ 67 h StGB) den Widerruf der Maßregelaussetzung gemäß § 67 g StGB beschließen könnte (so OLG Hamburg, Beschluss vom 17. März 2006, 2 Ws 64/06, juris, Rn.28; Zabeck in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. § 309 Rn. 12), kann offenbleiben. Denn der Senat kann eine solche Entscheidung im aktuellen Verfahrensstadium schon deshalb nicht treffen, weil sowohl die Untergebrachte als auch der Sachverständige im vorliegenden Verfahren wegen des Grundsatzes der bestmöglichen Sachaufklärung zuvor mündlich anzuhören wären (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 10. Dezember 2019, 1 Ws 124/19, juris, Rn. 20 m.w.N.).
Weil der Senat den Beschluss über die Verlängerung der Krisenintervention aus Rechtsgründen aufheben musste, hat er schließlich auch davon abgesehen, dem Pflichtverteidiger zuvor die Akten 850 Js 33261/19 zu übersenden.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs.1 StPO.