Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 09.08.2004, Az.: L 4 KR 193/04ER
Begehren der Zahlung der Praxisgebühr im einstweiligen Rechtsschutzverfahren; Gefährdung des Sicherstellungsauftrags durch Nichtzahlung der Praxisgebühr; Verhältnis der säumigen Zahlung zu den geleisteten Honorarzahlungen; Anfallende Gerichtskosten als Anordnungsgrund; Zumutbarkeit des Abwartens des Hauptverfahrens aufgrund einer verhältnismäßig schnellen Entscheidung von Massenverfahren; Grundgesetzlicher Anspruch einer Körperschaft des öffentlichen Rechts auf bevorzugten Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 09.08.2004
- Aktenzeichen
- L 4 KR 193/04ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 18463
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2004:0809.L4KR193.04ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - AZ: S 16/10 KA 71/04 ER
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 2 S. 1 SGG
- § 18 Abs. 5 S. 4 BMV-Ä
- Art. 19 Abs. 4 GG
Fundstellen
- Breith. 2004, 817-819
- GesR 2004, 421-422
- NJW 2005, 382 (amtl. Leitsatz)
- NZS 2005, 166-167 (Volltext mit amtl. LS)
- SGb 2005, 106-107 (amtl. Leitsatz)
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragsgegners und Beschwerdegegners auch aus dem Beschwerderechtszug.
Gründe
I.
Die Antragstellerin (im Folgenden: Ast) erstrebt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Verurteilung des Antragsgegners (im Folgenden: Ag) zur Zahlung der so genannten Praxisgebühr von 10,- EUR für das erste Quartal 2004.
Der Ag nahm am 1. Januar 2004 die chirurgische Ambulanz des B. in C. für eine Behandlung in Anspruch. Das Krankenhaus forderte ihn mit Schreiben vom gleichen Tage, dessen Empfang von ihm durch Unterschrift quittiert wurde, zur Zahlung der Praxisgebühr auf. Der Ag zahlte jedoch nicht. Mit Schreiben vom 19. März 2004 forderte die Ast den Ag unter Fristsetzung zum 29. März 2004 erneut zur Zahlung der Gebühr auf, ebenfalls ohne Erfolg.
Mit Schriftsatz vom 7. April 2004, bei dem Sozialgericht (SG) Hannover eingegangen am 13. April 2004, beantragte die Ast einstweiligen Rechtsschutz dahingehend, den Ag zur Zahlung von 10,- EUR zu verpflichten. Zur Begründung erläuterte sie, der für die Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens erforderliche Anordnungsanspruch sei ebenso gegeben, wie ein Anordnungsgrund. Der Anspruch sei durch die Inanspruchnahme der ärztlichen Leistungen am 1. Januar 2004 entstanden. Der Anordnungsgrund Folge daraus, dass bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache erhebliche wirtschaftliche Nachteile drohten. Diese lägen nicht in dem Einzelfall des Ag begründet, sondern in der Vielzahl weiterer Patienten, die bereits im ersten Quartal die Praxisgebühr nicht gezahlt hätten. Sie, die Ast, sei gegenüber ihren Mitgliedern verpflichtet, für jedes Quartal Abschlagszahlungen in bestimmter Höhe zu leisten. Bei einem Volumen von etwa 224.000,- EUR nicht gezahlter Praxisgebühren werde der Sicherstellungsauftrag gefährdet, zumal allein in der ersten Instanz mit Gerichtsgebühren von etwa 3,3 Millionen EUR gerechnet werden müsse.
Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 7. Mai 2004 abgelehnt und ausgeführt, dass es im Hinblick auf das einstweilige Rechtsschutzverfahren an dem erforderlichen Anordnungsgrund fehle. Der Ast sei es zuzumuten, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Bei der Praxisgebühr handele es sich nur um einen kleinen Betrag, der den Sicherstellungsauftrag der Ast angesichts der Höhe der Gesamtvergütungen durch die Krankenkassen nicht zu gefährden vermöge. Die zu erwartenden Gerichtskosten könnten bei diesen Überlegungen keine Rolle spielen, sprächen vielmehr im Gegenteil dafür, dass für derartige Bagatellverfahren im einstweiligen Rechtsschutz kein Raum sei.
Gegen diesen ihr am 2. Juni 2004 zugestellten Beschluss hat die Ast am 28. Juni 2004 Beschwerde eingelegt. Sie macht geltend, das SG habe bei seiner Entscheidung im Hinblick auf den Anordnungsgrund lediglich den Einzelfall betrachtet. Erfahrungsgemäß dauere die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens mehrere Jahre. Ein mehrjähriges Abwarten sei ihr bei der Vielzahl der Fälle aus wirtschaftlichen Gründen jedoch nicht zumutbar. Allein die Verfahrenskosten seien 15 Mal höher als die Gebühr selbst. Effektiver Rechtsschutz sei aus diesen Gründen für die Ast nur im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu erhalten.
Das SG hat der Beschwerde mit Datum vom 29. Juni 2004 nicht abgeholfen.
Der Ag hat sich weder im erstinstanzlichen Rechtszug noch im Beschwerdeverfahren geäußert.
II.
Die gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Ast vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rdnr. 27 und 29). Der materielle Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Prüfung zu unterziehen (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 36).
Das SG ist in dem angefochtenen Beschluss zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass es vorliegend an dem erforderlichen Anordnungsgrund mangelt. Insbesondere ist eine besondere Eilbedürftigkeit nicht ersichtlich. Zutreffend hat das SG herausgestellt, dass der Sicherstellungsauftrag der Ast im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Verweisung auf das Hauptsacheverfahren nicht gefährdet erscheint. Selbst wenn bedacht wird, dass im ersten Quartal des Jahres 2004 im Land Niedersachsen ca. 25.000 Versicherte die Praxisgebühr auch auf Aufforderung durch den Arzt nicht gezahlt haben (vgl. niedersächsisches Ärzteblatt 2004, 68) und die Ast eine entsprechende Zahl von Mahnungen verschicken musste, ergibt sich daraus ein finanzieller Ausfall in Höhe von allenfalls 250.000,- EUR, wenn tatsächlich alle Säumigen nicht zahlen sollten. Angesichts der Tatsache, dass die Ast allein im Quartal 4/2003 Honorarzahlungen in Höhe von ca. 551 Millionen EUR geleistet hat (vgl. niedersächsisches Ärzteblatt 2004, 57), handelt es sich im Verhältnis dazu nur um eine kleine Summe.
Etwas anderes ergibt sich für die Ast auch nicht aus dem Gesichtspunkt der Höhe der Gerichtskosten. Nach § 18 Abs. 5 Satz 3 des zwischen den Primärkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geschlossenen Bundesmantelvertrages-Ärzte (BMV-Ä) in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung führt die Kassenärztliche Vereinigung Vollstreckungsmaßnahmen durch, wenn der Versicherte auf ihre Zahlungsaufforderung hin die Praxisgebühr nicht zahlt. § 18 Abs. 5 Satz 4 BMV-Ä bestimmt, dass die Verrechnung der betreffenden Zuzahlung mit der Gesamtvergütung entfällt, soweit die Vollstreckungsmaßnahme erfolglos bleibt. Die zuständige Krankenkasse erstattet in diesem Fall der Kassenärztlichen Vereinigung die nachgewiesenen Gerichtskosten zuzüglich einer Pauschale von 4,- EUR (§ 18 Abs. 5 Satz 5 BMV-Ä). Gleichlautende Regelungen finden sich für den Ersatzkassenbereich in § 21 Abs. 5 des Bundesmantelvertrags -Ärzte-/Ersatzkassen. Daraus folgt, dass für die Kosten der Erlangung eines Titels gegen den säumigen Versicherten und die nachfolgenden Vollstreckungsmaßnahmen im Ergebnis die Krankenkassen aufzukommen haben. Auch die auf Seiten der Ast anfallenden Verwaltungskosten werden durch die Zahlung der Pauschale zumindest teilweise gedeckt.
Zur Dauer der Hauptsacheverfahren ist anzumerken, dass Massenverfahren in der Regel verhältnismäßig schnell entschieden werden. Im Übrigen ergibt sich aus Artikel 19 Abs. 4
Grundgesetz (GG) kein Anspruch der Ast auf bevorzugten Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG ist bereits seinem Wortlaut nach nicht auf die Ast als Körperschaft des öffentlichen Rechts anwendbar (vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2004 - 2 BVR 1248/03, 1249/03 - Rdnr. 22 ff.). Angesichts der von ihr verwalteten Gelder und des letzten Endes nicht bei ihr verbleibenden Kostenrisikos ist eine übergangsweise eintretende finanzielle Belastung bis zum Ausgleich mit den betroffenen Krankenkassen hinzunehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.