Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 22.01.2002, Az.: 6 B 5380/01
Körperverletzung; Ordnungsmaßnahme; Rechtsverstoß; Schule; Schüler; Schülerverhalten; Sozialschädlichkeit; Unterrichtsausschluss; Verhältnismäßigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 22.01.2002
- Aktenzeichen
- 6 B 5380/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43884
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 61 Abs 2 SchulG ND
- § 61 Abs 3 Nr 4 SchulG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Eine vorsätzlich begangene gefährliche Körperverletzung stellt einen schweren Rechtsverstoß im Sinne von § 61 Abs. 2 NSchG dar, auf den gegenüber einem erwachsenen Schüler mit einem dreimonatigen Unterrichtsausschluss reagiert werden darf.
2. Für die Frage, ob eine Ordnungsmaßnahme verhältnismäßig ist, darf die Schule unabhängig von der Höhe des tatsächlich eingetretenen Schadens entscheidend auf das Maß der Sozialschädlichkeit eines exzessiven und ungehemmten Schülerverhaltens abstellen.
Gründe
I.
Der am ... 1983 geborene Antragsteller ist Schüler der Antragsgegnerin und besucht das schulische Berufsgrundbildungsjahr Bautechnik. Am 13. November 2001 beteiligte sich der Antragsteller an einer Schlägerei in den Toilettenräumen und auf dem Schulhof der Antragsgegnerin, in deren Verlauf drei Schüler, darunter der Bruder des Antragstellers, so verletzt wurden, dass sie in ärztliche Behandlung gebracht werden mussten. Mit Bescheid vom 23. November 2001 gab die Antragsgegnerin dem Antragsteller bekannt, dass die Konferenz am Vortag beschlossen hatte, ihn aus Anlass seiner Beteiligung an der Schlägerei mit sofortiger Wirkung vom Besuch des Berufsgrundbildungsjahrs Bautechnik auszuschließen. Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller Widerspruch.
Mit der am 10. Dezember 2001 bei Gericht eingegangenen Antragsschrift beanspruchte der Antragsteller zunächst vorläufigen Rechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung des Schulausschlusses. Im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens trat die Klassenkonferenz der Klasse BGJ-Bau erneut zusammen. Am 13. Dezember 2001 beschloss sie unter Änderung ihres Beschlusses vom 22. November 2001, den Antragsteller für die Dauer von drei Monaten vom Unterricht auszuschließen und ihm die Führung von Beratungsgesprächen mit dem Sozialpädagogen der Schule aufzuerlegen. Beides teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit einem an seine Verfahrensbevollmächtigte adressierten Bescheid vom 18. Dezember 2001 mit. Zur Begründung ihres Bescheides führte die Antragsgegnerin aus, der Antragsteller habe in erheblichem Maße dazu beigetragen, die Schlägerei vom 13. November 2001 entstehen zu lassen. Er habe in ihrem weiteren Verlauf bewusst und rücksichtslos auf einen am Boden liegenden Schüler eingetreten und dabei auch auf den Kopf des Schülers gezielt. Auf Beschluss der Klassenkonferenz ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Ordnungsmaßnahme im besonderen öffentlichen Interesse an.
Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 15. Januar 2002 hat der Antragsteller den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz geändert. Er beansprucht nunmehr vorläufigen Rechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 18. Dezember 2001 und vertritt die Auffassung, dass auch der jetzt angeordnete dreimonatige Unterrichtsausschluss völlig unverhältnismäßig und überzogen sei. Der Unterrichtsausschluss habe zur Folge, dass er das Schuljahr aller Voraussicht nach wiederholen müsse. Von ihm seien keinesfalls irgendwelche Aggressionen ausgegangen, aus der sich die Schlägerei oder eine Gefährdung für andere hätte entwickeln können. Seine Tatbeteiligung sei eher im Bereich der Selbstverteidigung anzusiedeln. Unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vom 7. Dezember 2001 trägt der Antragsteller vor: Nachdem sein Bruder B. und er den Mitschüler A. wegen einer gezeigten Geste ("Stinkefinger") zur Rede gestellt hätten, habe A. seinem Bruder Pfefferspray in die Augen gesprüht. Darauf sei sein Bruder gleich zu Boden gegangen. Mit zwei Freunden habe er A. die Dose mit dem Pfefferspray wegnehmen wollen, worauf sie ebenfalls mit dem Spray angegriffen worden seien. Er habe versucht, sich gegen den Angriff des A. durch zwei Tritte zu verteidigen. Der Bruder des Antragstellers sei inzwischen in die Toilettenräume gebracht worden, um das Spray aus den Augen zu waschen. Plötzlich sei A. dort erschienen, angeblich um sich zu entschuldigen. A. sei daraufhin von den Freunden des Antragstellers aus der Toilette herausgezogen und im Flur geschlagen worden.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Dezember 2001 wiederherzustellen und die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihm ab sofort wieder die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen.
Die Antragsgegnerin stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts verweist die Kammer ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten 6 B 5380/01 und 6 B 5377/01 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin.
II.
Soweit der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der die Antragsgegnerin verpflichtet werden soll, ihm ab sofort wieder die Teilnahme am Unterricht des schulischen Berufsgrundbildungsjahrs Bautechnik zu ermöglichen, ist der Antrag nach § 123 Abs. 5 VwGO unzulässig. Der Ausschluss vom Unterricht ist Folge des sofortigen Vollzugs des Verwaltungsaktes vom 18. Dezember 2001, so dass ein ausreichender vorläufiger Rechtsschutz im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erreicht werden kann.
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zulässig, aber nicht begründet.
Im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs wiederherstellen, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts im besonderen öffentlichen Interesse nicht gerechtfertigt ist. Danach setzt der Erfolg des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, vor einer Entscheidung über seinen Widerspruch vom Vollzug des angegriffenen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Durchsetzung voraus. Für den Ausgang dieser Interessenabwägung können auch die überschaubaren Erfolgsaussichten des Widerspruchs berücksichtigt werden.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist abzulehnen, weil der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Dezember 2001 aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird und bei dieser Sachlage ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Unterrichtsausschlusses besteht.
Die Entscheidung der Antragsgegnerin, den Antragsteller für drei Monate vom Unterricht auszuschließen, lässt sich rechtlich nicht beanstanden. Sie findet ihre Ermächtigungsgrundlage in § 61 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 Nr. 4 NSchG. Danach kann die zuständige Klassenkonferenz (§ 61 Abs. 5 Satz 1 NSchG) einen Schüler bis zu drei Monate vom Unterricht ausschließen, wenn der Schüler seine Pflichten grob verletzt, indem er gegen rechtliche Bestimmungen verstößt, den Unterricht stört, geforderte Leistungen verweigert oder dem Unterricht unentschuldigt fernbleibt. Der gesetzliche Zweck des § 61 Abs. 2 NSchG erschöpft sich nicht darin, repressiv Sanktionen für das schülerische Fehlverhalten zu ermöglichen; vielmehr sollen die aus Anlass von groben Pflichtverletzungen ergriffenen Ordnungsmaßnahmen die von dem Schüler gestörte Erziehungs- und Unterrichtsarbeit in der Schule sicherstellen.
Diese Rechtsgrundsätze sind von der Klassenkonferenz der Klasse BGJ-Bau beachtet worden. Das dem Antragsteller vorgeworfene und im Bescheid vom 18. Dezember 2001 näher bezeichnete Verhalten beinhaltet eine grobe Verletzung seiner Schülerpflichten und kann zum Anlass für einen dreimonatigen Unterrichtsausschluss genommen werden. Dabei kann es letztlich dahingestellt bleiben, wer letztendlich Verursacher der Schlägerei am 13. November 2001 war und in welchem Maße der Antragsteller in der ersten Phase der verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen diese durch sein eigenes Tun, zum Beispiel durch das Schlagen mit einer einem anderen weggenommenen Gehhilfe auf einen Müllbehälter, gefördert hat. Entscheidend ist vielmehr, dass sich der Antragsteller in der zweiten Phase der Auseinandersetzung im Flur des Toilettengebäudes von dem Wutausbruch seines Bruders B. leiten ließ, gemeinsam mit seinen Freunden C. und D. auf den Mitschüler A. einzuschlagen und, als dieser bereits am Boden lag, mit den Füßen auf den Mitschüler einzutreten, wobei er auch dessen Kopf traf. Das wird nicht nur durch den Inhalt des Konferenzprotokolls, sondern auch durch den Inhalt schriftlich protokollierter Schüleraussagen bestätigt und ist im Ergebnis von dem Antragsteller in der Klassenkonferenz am 22. November 2001 eingeräumt worden. Dieses Verhalten stellt eine vorsätzlich begangene, gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) und damit einen schweren Rechtsverstoß im Sinne von 61 Abs. 2 NSchG dar. Dass der Antragsteller dabei in zulässiger Weise Notwehr gehandelt und demzufolge keine grobe Pflichtverletzung begangen haben könnte, wird zwar behauptet, ist aber vom Antragsteller nicht glaubhaft gemacht worden. Der Sachvortrag in der Antragsschrift vom 7. Dezember 2001 und in der ihr beigefügten eidesstattlichen Versicherung vom selben Tag, wonach sich der Antragsteller gegen den Angriff des A. durch zwei Tritte zu verteidigen versucht habe, ist schon deshalb nicht glaubhaft, weil er in sich widersprüchlich ist. In der eidesstattlichen Versicherung hat der Antragsteller nämlich eingeräumt, zweimal nach dem Mitschüler A. getreten zu haben, als "Bekannte" den A. auf den Flur der Toilette gezogen und dort geschlagen hätten. Worin bei dem Eintreten auf einen bereits von anderen geschlagenen Mitschüler eine Verteidigungshandlung des Antragstellers bestanden haben soll, ist nicht nachvollziehbar.
Dass die Klassenkonferenz den rechtlichen Rahmen des § 61 Abs. 3 Nr. 4 NSchG vollständig ausgeschöpft und die höchstzulässige Dauer des Unterrichtsausschlusses von drei Monaten beschlossen hat, ist nicht ermessensfehlerhaft. Vielmehr hat die Klassenkonferenz am 13. Dezember 2001 von ihrem Ermessen in einer der gesetzlichen Ermächtigung des § 61 Abs. 2 NSchG entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 40 VwVfG). Sie hat sich bereits am 22. November 2001, wie der Inhalt der Niederschrift von jenem Tag zeigt, mit den Einwendungen des Antragstellers gegen die ihm gemachten Vorwürfe befasst und das Verhalten des Antragstellers rechtsfehlerfrei gewürdigt. Mag auch bei der einmaligen Beteiligung an einer Schlägerei in der Schule im Regelfall ein kürzerer Unterrichtsausschluss ausreichend sein, liegen jedenfalls im Fall des Antragstellers Umstände vor, welche die Erziehungs- und Unterrichtsarbeit der Schule in besonderem Maße gefährden. Der Antragsteller ist kein Schüler des Sekundarbereichs I im Kindes- oder Jugendlichenalter mehr, sondern ein Erwachsener. Von einer massiven Schlägerei zwischen Erwachsenen an einer berufsbildenden Schule gehen wesentlich andere Gefahren für das Schulleben aus, als von den üblichen Auseinandersetzungen von Kindern und Jugendlichen in der Regelschule. Sie können erfahrungsgemäß weitaus mehr zur Störung der Unterrichtsarbeit - z.B. durch Verunsicherung und Verängstigung anderer Schülerinnen und Schüler - beitragen, als dieses in anderen Altersstufen der Fall ist. Es kommt hinzu, dass die Schule bei der Erfüllung ihres staatlichen Auftrags auch im Hinblick auf die von den Lehrkräften zu leistende Beaufsichtigung der ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler (§ 62 Abs. 1 NSchG) darauf angewiesen ist, dass Schülerinnen und Schüler die Regeln des Schullebens akzeptieren und umsetzen. Dazu zählt auch der Respekt vor den durch die Rechtsordnung vorgegebenen Regeln, insbesondere vor der Einhaltung der durch die Strafgesetze vorgegebenen Verbote. Dem vom Antragsteller letztendlich eingeräumten enthemmten Verhaltens gegenüber seinem Mitschüler A. kommt eine besonders schwerwiegende Bedeutung zu, weil die nach dem Vorfall gezeigte Reaktion des Antragstellers eine grob pflichtwidrige Einstellung erkennen lässt. Ausweislich des Inhalts der Niederschrift der Klassenkonferenz vom 22. November 2001 hat der Antragsteller sein Verhalten auch nach längerer Diskussion damit verteidigt, dass er das Recht habe, dem Angreifer seines Bruders mindestens ebenso viele Schmerzen zufügen zu dürfen, wie sein Bruder zu erleiden habe. Wenn die Konferenz mit der getroffenen Ordnungsmaßnahme darauf abstellt, dass es in erster Linie nicht die Beteiligung des Antragstellers an der Schlägerei, sondern vorrangig die ihm fehlende Einsicht in das Unrecht seines Handelns ist, die die Gefahr einer erneuten Eskalation der Gewalt hervorruft, legt sie ihrer Entscheidung eine zulässige Ermessenserwägung zugrunde. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer darf für Schulordnungsmaßnahmen unabhängig von der Höhe des tatsächlichen eingetretenen Schadens entscheidend auf die Sozialschädlichkeit eines exzessiven und ungehemmten Verhaltens abgestellt werden (vgl. Beschlüsse vom 19.6.1998 - 6 B 4156/98 -, 12.1.2001 - 6 B 494/01 - und 29.3.2001 - 6 B 1159/01 -). Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Vandalismus in der Schule, sondern auch für alle Erscheinungsformen der Rache und Selbstjustiz. Ihre Ansätze können, wenn der Eindruck entsteht, dass ihnen nicht entgegengewirkt wird, durch gruppendynamische Prozesse eskalieren und größere Personen- und Sachschäden verursachen, insbesondere dann, wenn sie wie vorliegend vom Antragsteller verteidigt werden. Die Schule darf ihnen daher mit den Mitteln des § 61 NSchG konsequent entgegenwirken.
In Anbetracht dieser besonderen Umstände ist die Wirkung der Ordnungsmaßnahme nicht unverhältnismäßig. Es ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller ein Alter erreicht hat, in dem er bereits in die Selbstständigkeit entlassen ist. Ihm wird deshalb zugemutet, seine Situation auch in der Schule selbst zu erkennen und für sein eigenes Verhalten und dessen Folgen Verantwortung zu übernehmen.
Es besteht schließlich auch ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der offensichtlich rechtmäßigen Ordnungsmaßnahme. Angesichts der Gefahr, dass enthemmte Gewalt in der Schule leicht zu Nachahmungen führen kann und dann - dem Einwand des Antragstellers in der Klassenkonferenz entsprechend - als gerechtfertigt betrachtet wird, lässt sich bei derartigen Vorfällen ein sofortiges Handeln der Schule rechtfertigen und das Rechtsschutzinteresse des betroffenen Schülers einstweilen zurücktreten. Liegt wie hier ein Fall vor, der schulintern große Aufmerksamkeit auf sich zieht und deshalb Präzedenzwirkung erzeugt, spricht Überwiegendes dafür, dass die angewandte Ordnungsmaßnahme nur im Fall ihrer sofortigen Vollziehung effektiv etwas bewirken kann.