Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 30.09.1998, Az.: 1 WS 421/98
Abwägung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit bei der Strafaussetzung von Restfreiheitstrafen und des Resozialisierungsinteresses des Verurteilten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 30.09.1998
- Aktenzeichen
- 1 WS 421/98
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1998, 28721
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1998:0930.1WS421.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB
- § 454 Abs. 2 StPO
- § 66 Abs. 3 S. 1 StGB
Amtlicher Leitsatz
Zur Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit bei der Strafaussetzung von Restfreiheitstrafen bei Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten
Gründe
Soweit dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer die Auffassung zu entnehmen sein könnte, dass nach der durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlich Straftaten eingeführten Neufassung der § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB i.V.m. § 454 Abs. 2 StPO in Fällen, in denen - wie hier - wegen eines Verbrechens eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängt worden ist, eine Strafaussetzung nur in Betracht kommt, wenn auf Grund des einzuholenden Gutachtens auszuschließen ist, dass die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht, vermag der Senat dem allerdings nicht beizupflichten.
Durch die Neufassung des § 57 StGB ist vom Gesetzgeber lediglich in Übereinstimmung mit der schon seit langem bestehenden einhelligen Rechtsprechung klargestellt worden, dass eine Abwägung zwischen dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vorzunehmen ist. Je größer das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts und das daraus folgende Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit ist, desto höher ist das Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit, das für eine Strafaussetzung zu verlangen ist.
Auch in Fällen schwerer Kriminalität vermag aber die bloße abstrakte Möglichkeit der zukünftigen Begehung rechtswidriger Straftaten die weitere Vollstreckung nicht zu rechtfertigen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist vielmehr anhand von Fakten zu konkretisieren. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte neue Straftaten begehen werde, kommt eine Strafaussetzung nicht in Betracht. Umgekehrt schließt die Klausel von der Verantwortbarkeit der Vollstreckungsaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit es mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird (BVerfG NStZ 1998, 373, 374) [BVerfG 22.03.1998 - 2 BvR 77/97].
Um den Richter in solchen Fällen in die Lage zu versetzen, die Art der durch den Verurteilten drohenden Straftaten und das mit der Entlassung verbundene Risiko wesentlich zuverlässiger einzuschätzen, ist - soweit die Vollstreckung einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 S. 1 StGB bezeichneten Art auszusetzen ist - nach der Neufassung des § 454 Abs. 2 StPO wegen des hohen Sicherungsbedürfnisses der Allgemeinheit in der Regel ein Gutachten insbesondere dazu einzuholen, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Eine absolute Aussage des Inhalts, dass von einem Menschen keine Gefahr ausgehe, ist jedoch, wie der Sachverständige nachvollziehbar dargelegt hat, angesichts dessen, dass menschliches Verhalten unendlich variantenreich und durch unendlich viele, nicht vorhersehbare Umstände zu beeinflussen ist, mit den Mitteln der Psychiatrie nicht möglich. Eine verantwortungsvolle Begutachtung muss sich deshalb darauf beschränken, die wesentlichen Umstände der Persönlichkeit und der Umgebung des Verurteilten bewertend zu würdigen. Es ist allein Aufgabe des Richters, auf Grund der hierdurch gewonnenen erweiterten Prognosebasis zu beurteilen, ob ein Rückfallrisiko nach menschlichem Ermessen weitestgehend ausgeschlossen ist (BT-Drucksache 13/7163 S. 9) und eine Strafaussetzung deshalb auch unter Berücksichtigung des in diesen Fällen regelmäßig hohen Sicherungsbedürfnisses der Allgemeinheit zu verantworten ist.