Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 05.02.2013, Az.: 1 Ausl 60/12

Rechtshilfeersuchen der Türkei um kommissarische Vernehmung eines dort Angeschuldigten bei Verhandlung gegen diesen nach der türkischen Strafprozessordnung in Abwesenheit und Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
05.02.2013
Aktenzeichen
1 Ausl 60/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 10633
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0205.1AUSL60.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Nienburg an der Weser - 23.05.2012 - AZ: 4 AR 18/12

Fundstellen

  • NStZ-RR 2013, 6
  • NStZ-RR 2013, 212

Amtlicher Leitsatz

Einem Rechtshilfeersuchen der Türkei um kommissarische Vernehmung eines dort Angeschuldigten stehen § 59 Abs. 3 IRG und die ordre-public-Klausel des Art. 2 lit. b EuRhÜbk auch dann nicht entgegen, wenn gegen den Angeschuldigten nach der türkischen Strafprozessordnung in Abwesenheit verhandelt werden soll und eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten in Betracht kommt; indes ist eine zwangsweise Vorführung des Angeschuldigten zu der kommissarischen Vernehmung unzulässig.

In dem Rechtshilfeverfahren
betreffend den türkischen Staatsangehörigen
M. S. A.,
geboren am xxxxxx 1991 in V. / Türkei,
wohnhaft L., N./W.,
wegen kommissarischer Vernehmung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf den Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Nienburg/Weser vom 23. Mai 2012 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx sowie die Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und xxxxxx am 5. Februar 2013
beschlossen:

Tenor:

Die Voraussetzungen für die Leistung der Rechtshilfe liegen vor, soweit das 2. Schwurgericht in Alanya um richterliche Vernehmung des Angeschuldigten ersucht hat.

Die Voraussetzungen für die Leistung der Rechtshilfe liegen hingegen nicht vor, soweit darum ersucht wird, den Angeschuldigten zwangsweise vorzuführen, falls er trotz gerichtlicher Ladung nicht freiwillig zur Vernehmung erscheint.

Gründe

1

I.

1. Das türkische Generalkonsulat in Hannover hat mit Verbalnote vom 13. April 2012 dem Präsidenten des Landgerichts Verden ein Rechtshilfeersuchen des 2. Schwurgerichts in Alanya vom 2. Januar 2012 übermittelt. Dem Ersuchen liegt ein Strafverfahren gegen den Angeschuldigten A. zugrunde, dem mit der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Alanya vom 18. August 2011 zur Last gelegt wird, am 27. Juni 2010 in A. gemeinschaftlich mit einem Mitangeschuldigten C. D. durch Anwendung körperlicher Gewalt und Bedrohung mit einem spitzen Gegenstand den Geschädigten C. dazu genötigt zu haben, die Wegnahme seines Bargeldes (150 TL) zu dulden sowie mit seiner Kreditkarte von einem Geldautomat einen Geldbetrag in Höhe von 400 TL abzuheben und den Angeschuldigten zu überlassen und schließlich seine Geheimnummer preiszugeben, woraufhin die Angeschuldigten selbst mit der Kreditkarte des Geschädigten an zwei anderen Geldautomaten noch 1.000 EUR und 400 EUR abgehoben hätten, strafbar gemäß Art. 149/1 lit. a, c und h, Art. 109/2-3 lit. a und b, Art. 245/1, Art. 43/1, Art. 53 des türkischen Strafgesetzbuchs. Das 2. Schwurgericht in Alanya hat im Wege der Rechtshilfe um die Vernehmung des Angeschuldigten, der in Deutschland lebt und türkischer Staatsangehöriger ist, zu der gegen ihn erhobenen Anklage ersucht. Das Ersuchen ist auch darauf gerichtet, den Angeschuldigten zwangsweise vorzuführen, falls er trotz gerichtlicher Ladung nicht freiwillig erscheint.

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2. Das Landgericht Verden hat die Leistung der Rechtshilfe bewilligt und die Sache am 25. April 2012 an das für die Vornahme der Rechtshilfe zuständige Amtsgericht Nienburg/Weser übersandt.

3

3. Das Amtsgericht Nienburg/Weser hat am 23. Mai 2012 beschlossen, die Sache gemäß § 61 IRG dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorzulegen. Es vertritt die Auffassung, dass das Ersuchen auf eine unzulässige Vorwegnahme oder Ersetzung eines Teils der Hauptverhandlung gerichtet sei, die das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen nicht vorsehe. Zudem dürfe die Rechtshilfe gemäß § 59 Abs. 3 IRGnur erfolgen, wenn sie auch nach deutschem Recht statthaft wäre. Die kommissarische Vernehmung eines Angeklagten nach § 233 Abs. 2 StPOsei aber nur zulässig, wenn dieser einen Entpflichtungsantrag vom Erscheinen in der Hauptverhandlung gestellt habe und wenn nur Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe zu erwarten sei. Beides sei hier nicht der Fall. Außerdem sei die Rechtshilfe nach Art. 2 lit. b des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zu verweigern, weil ihre Leistung gegen den ordre public verstoßen würde.

4

4. Das Landgericht Verden hat die Sache am 23. Oktober 2012 dem Oberlandesgericht Celle übersandt.

5

5. Nach Bericht an das Niedersächsische Justizministerium gemäß § 21 Abs. 1 Satz 5 RiVASt hat dieses sich mit Erlass vom 14. Dezember 2012 dahingehend geäußert, dass die Voraussetzungen für die Leistung der Rechtshilfe mangels hinreichender Angaben zum Verfahren jedenfalls derzeit nicht vorlägen und den türkischen Stellen Gelegenheit zu geben sei, ihr Ersuchen zu ergänzen.

6

6. Seit dem 20. Dezember 2012 liegt die Sache dem Senat vor.

7

7. Die Generalstaatsanwaltschaft hat unter dem 15. Januar 2013 eine Stellungnahme abgegeben. Sie hält die Leistung der Rechtshilfe wegen Unvereinbarkeit mit dem Mündlichkeitsgrundsatz für unzulässig.

8

II.

Die Vorlage der Sache durch das Amtsgericht ist nach § 61 Abs. 1 Satz 1 IRGzulässig. Der Senat teilt indes die Bedenken des Amtsgerichts nicht in vollem Umfang.

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1. Rechtsgrundlage für die Leistung der Rechtshilfe ist im vorliegenden Fall Art. 1 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhÜbk), das im Verhältnis zur Türkei in Kraft ist seit dem 1. Januar 1977 (BGBl. 1964 II, 1369, 1386; 1976 II, 1799). Danach sind die Vertragsparteien verpflichtet, einander so weit wie möglich Rechtshilfe zu leisten. Hierunter fällt auch die Vernehmung eines in Deutschland lebenden Angeschuldigten, gegen den in der Türkei Anklage erhoben worden ist, durch einen deutschen Richter (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Dezember 1984 - 1 Ws 408/84, Nds. Rpfl. 1985, 143; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. März 1991 - 3 Ws 68/91, NStE Nr. 2 zu § 233 StPO; OLG Frankfurt, Beschluss vom 18. Oktober 2000 - 2 Ausl II 25/00, NStZ-RR 2001, 175; OLG Köln, Beschluss vom 12. Februar 2004 - Ausl 25/04, [...]). Denn es handelt sich insoweit um einen Fall der sonstigen (kleinen) Rechtshilfe, die alle Formen der Rechtshilfe umfasst, die derzeit nicht in anderen Konventionen geregelt sind (vgl. Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., Vor II B Rn. 11). Die Regelungen der Art. 7 bis 12 EuRhÜbk über einzelne Rechtshilfehandlungen enthalten dagegen keine abschließende Aufzählung zulässiger Rechtshilfehandlungen, sondern nur typische Unterstützungshandlungen im Rechtshilfeverkehr (vgl. Hackner/ Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl. Rn. 173). Das Fehlen einer speziellen Regelung steht im vorliegenden Fall der Rechtshilfe also nicht entgegen.

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2. Das türkische Rechtshilfeersuchen enthält auch die nach Art. 14 EuRhÜbk erforderlichen Angaben, insbesondere die genaue Mitteilung des Sachverhalts, zu dem die Vernehmung erfolgen soll (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 2. Februar 2009 - 1 AuslS 9/09, OLGSt IRG § 59 Nr. 1).

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3. Der von dem Schwurgericht in Alanya angestrebten richterlichen Vernehmung des in der Türkei Angeschuldigten steht § 59 Abs. 3 IRGnicht entgegen (vgl. Senat a.a.O.; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 12. Februar 2004 - Ausl 25/04, [...]). Die Vorschrift soll gewährleisten, dass die gesetzlichen Beschränkungen, die für innerdeutsche Verfahren gelten (wie die Einschränkungen bei Zwangsmaßnahmen, Beschlagnahmeverbote, Beachtung von Immunität und des Steuergeheimnisses u.Ä.) auch bei der Leistung von Rechtshilfe für ausländische Staaten Beachtung finden (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.; Lagodny, a.a.O. § 59 IRG Rn. 31). Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass nur für solche ausländischen Verfahren Rechtshilfe geleistet werden kann, die der deutschen Strafprozessordnung entsprechen. Da im Rechtshilferecht der Grundsatz gilt, dass über die Wirksamkeit eines Verfahrensaktes stets das Recht entscheidet, in dessen Hoheitsbereich er vorgenommen wird, ist die Entscheidung des Schwurgerichts in Alanya, den dort Angeklagten in Deutschland richterlich vernehmen zu lassen, und die spätere Verwertbarkeit dieser Vernehmung im dortigen Strafverfahren der Nachprüfung durch die deutschen Stellen entzogen (vgl. Senat a.a.O.; OLG Hamburg, Beschluss vom 10. August 1987 - 1 Ws 151/87, GA 1988, 376). Daher stehen die Regelungen der §§ 59 Abs. 3 IRG, 233 StPO der kommissarischen Vernehmung eines Angeschuldigten selbst dann nicht entgegen, wenn gegen ihn nach der türkischen Strafprozessordnung in Abwesenheit verhandelt werden soll und eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten in Betracht kommt (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Hamburg a.a.O.; Lagodny, a.a.O. § 59 IRG Rn. 59).

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4. Anders verhält es sich jedoch mit dem Ersuchen um zwangsweise Vorführung, falls der Angeschuldigte trotz gerichtlicher Ladung nicht freiwillig zur Vernehmung erscheint. Zwar ist die kommissarische Vernehmung eines Angeschuldigten in Erledigung eines türkischen Rechtshilfeersuchens auch dann zulässig, wenn zu diesem Zeitpunkt - wie hier - noch kein Antrag des Angeschuldigten auf Entbindung von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung vorliegt (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.). Indes ist eine zwangsweise Vorführung des Angeschuldigten zur kommissarischen Vernehmung in einem solchen Fall - also auch hier - gemäß § 59 Abs. 3 IRG i.V.m. §§ 233 Abs. 2, 230 Abs. 2 StPOunzulässig (OLG Koblenz, Beschluss vom 2. November 1987 - 1 AR 170/87, NStE Nr. 1 zu § 233 StPO).

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5. Die richterliche Vernehmung ist auch nicht nach § 73 Satz 1 IRG unzulässig, weil sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Das Amtsgericht ist mit Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zulässigkeit der Rechtshilfe vorliegend nicht an der ordre-public-Klausel des § 73 Satz 1 IRGzu messen ist, weil Art. 2 lit. b EuRhÜbk eine gemäß § 1 Abs. 3 IRGinsoweit vorrangige Regelung trifft (vgl. Vogel, in: Grützner/Plötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Stand Dezember 2012, § 73 IRG Rn. 6). Danach kann die Rechtshilfe verweigert werden, wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, dass die Erledigung des Gesuches geeignet ist, die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen des ersuchten Staates zu beeinträchtigen. Allerdings handelt es sich hierbei nach bisheriger Rechtsprechung um eine Ermessensentscheidung, die von der Bewilligungsbehörde zu treffen ist und die die Frage der Zulässigkeit der Rechtshilfe nicht berührt (BVerfG, Beschluss vom 30. September 1987 - 2 BvR 510/85, EzSt IRG § 61 Nr. 2; weit. Nachw. bei Vogel a.a.O. Vor § 1 IRG Rn. 106). Ob indes aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 113, 273 [BVerfG 18.07.2005 - 2 BvR 2236/04]) zu schließen ist, dass das Oberlandesgericht auch im Falle einer Fakultativklausel - wie hier - umfassend über die grundrechtlich geschützten Individualbelange des Betroffenen entscheiden müsse (so Lagodny a.a.O. § 1 IRG Rn. 25) oder zumindest prüfen müsse, ob das Bewilligungsermessen mit Blick auf die grundrechtlich geschützten Individualbelange des Betroffenen auf Null reduziert ist (so Vogel a.a.O.), kann hier dahingestellt bleiben. Denn eine Verletzung der im Rahmen des ordre public geschützten Individualbelange des Betroffenen ist nicht festzustellen.

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Die Leistung der Rechtshilfe ist vorliegend nicht an den Voraussetzungen zu messen, die die Rechtsprechung für die Auslieferung eines Verfolgten zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil gegen ihn verhängten Strafe aufgestellt hat. Bei der Ermittlung der Reichweite des jeweils anwendbaren und die Rechtshilfe begrenzenden ordre public ist vielmehr zwischen den verschiedenen Formen der Rechtshilfe zu differenzieren; insbesondere sind an die Leistung sonstiger Rechtshilfe - wie hier - weniger strenge Anforderungen zu stellen als an die Auslieferung oder Überstellung (Vogel a.a.O. § 73 IRG Rn. 15; Lagodny a.a.O. § 73 Rn. 5). Denn durch die richterliche Vernehmung erlangt der Angeschuldigte Kenntnis von der gegen ihn erhobenen Anklage und die Möglichkeit, einen Verteidiger hinzuzuziehen, sich zu dem Anklagevorwurf zu äußern und Einfluss auf das Verfahren zu nehmen (vgl. OLG Hamburg a.a.O.). Außerdem steht es ihm weiterhin frei, in die Türkei zu reisen und seine Verteidigungsrechte dort wahrzunehmen (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Hamburg a.a.O.; Lagodny, a.a.O. § 59 IRG Rn. 59). Dass das Hauptverfahren in seiner Abwesenheit durchgeführt werden soll, ist dem Rechtshilfeersuchen nicht zu entnehmen; insbesondere enthält es weder ein Ersuchen, den Angeschuldigten dazu anzuhören, ob er einen Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung stellen möchte, noch die Angabe, dass er einen solchen Antrag bereits gestellt habe.