Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 07.11.2017, Az.: 3 Ws 543/17 (StrVollz)
Vorzeitige Inanspruchnahme des Überbrückungsgeldes für eine Ausgleichszahlung zur Befreiung vom türkischen Wehrdienst
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 07.11.2017
- Aktenzeichen
- 3 Ws 543/17 (StrVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 35931
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 24.08.2017 - AZ: 50 StVK 224/17
Rechtsgrundlagen
- JVollzG ND § 47 Abs. 4
- StVollzG § 51 Abs. 3
Amtlicher Leitsatz
Eine Ausgleichszahlung zur Befreiung vom türkischen Wehrdienst dient nicht der Eingliederung und kann daher keine vorzeitige Freigabe von Überbrückungsgeld rechtfertigen.
Tenor:
1. Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss der kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 24. August 2017 aufgehoben.
2. Der Antrag des Antragstellers vom 28. April 2017 auf gerichtliche Entscheidung wird zurückgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.
4. Der Streitwert wird auf 1.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 24. August 2017, mit dem die Antragsgegnerin angewiesen wurde, 1.000 € aus dem Überbrückungsgeld des Antragstellers freizugeben zur zweckgebundenen Verwendung als Ausgleichszahlung für die Befreiung des Antragstellers von der Wehrpflicht in der T.
Der Antragsteller verbüßt bei der Antragsgegnerin eine Haftstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten wegen Vergewaltigung. Das Ende der Haftzeit ist auf den 5. April 2018 notiert. Das auf 1.636,00 Euro festgesetzte Überbrückungsgeld hat der Antragsteller vollständig angespart. Der Antragsteller begehrte von der Antragsgegnerin Freigabe von Überbrückungsgeld in Höhe von 104 € für die Beantragung eines t. Reisepasses sowie weiterer 1.000 € für eine Ausgleichszahlung zur Befreiung vom Wehrdienst in der T. Nachdem er der Auffassung war, dass die Antragsgegnerin seinem Antrag nicht nachkommen würde, stellte er mit Schreiben vom 28. April 2017 Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig.
Am 8. Mai 2017 gewährte die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Ausführung zur Vorstellung beim t. Generalkonsulat in H. und gab Überbrückungsgeld in Höhe der Ausweisgebühr von 104 € als auch für Fahrtkosten frei. Die Freigabe weiterer 1.000 € aus dem Überbrückungsgeld lehnte die Antragsgegnerin mit der Begründung ab, eine Dienlichkeit im Zusammenhang mit der Eingliederung sei nicht erkennbar.
Nachdem der Antragsteller von der Strafvollstreckungskammer darauf hingewiesen worden war, er habe seinen Antrag nicht substantiiert begründet, legte der Antragsteller ein mit einem Briefkopf des Generalkonsulats der Republik T. in H. überschriebenes Schriftstück vor, wonach er bis zum 31. Dezember 2017 einen Antrag auf eine Ausgleichszahlung stellen und einen Betrag von 1.000 € überweisen müsse. Auf den weiteren Hinweis der Strafvollstreckungskammer, dass das Dokument keinen offiziellen Briefkopf aufweise und wegen zahlreicher Rechtschreibfehler dieses Schreiben von der Strafvollstreckungskammer nicht als Nachweis akzeptiert werden könne, legte der Antragsteller weitere Schriftstücke, insbesondere auch ein in t. Sprache abgefasstes Schriftstück vor.
Ausweislich eines handschriftlichen Aktenvermerks nahm die Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer am 24. August 2017 telefonisch Rücksprache mit dem Konsulat der Republik T. Auf Grundlage dieses Telefongesprächs ging die Strafvollstreckungskammer davon aus, bei dem von dem Antragsteller vorgelegten Schreiben handele sich um eine Übersetzung eines Schreibens des Konsulats. Ferner seien die Angaben des Antragstellers zu der Frist zum 31. Dezember 2017 nach Auskunft des Generalkonsulats zutreffend. Zahle der Antragsteller die Ablöse bis zu diesem Zeitpunkt nicht, werde er sofort nach seiner Einreise in die T. zu einem zwölfmonatigen Wehrdienst eingezogen.
Mit Beschluss vom selben Tag wies die Strafvollstreckungskammer die Antragsgegnerin an, 1.000 € aus dem Überbrückungsgeld des Antragstellers freizugeben. Zur Begründung führte die Strafvollstreckungskammer aus, bei der Zahlung von 1.000 € zum jetzigen Zeitpunkt an das Generalkonsulat der T. handele es sich um eine Investition, die sich schwer aufschieben ließe und gleichzeitig der Resozialisierung und Zukunftssicherung diene. Wegen einer am 31. Mai 2017 ergangenen (noch nicht bestandskräftigen) Ausweisungsverfügung der Stadt S. bestehe auch die Möglichkeit, dass der Antragsteller im Wege der Abschiebung in die T. gelange. Dem Antragsteller drohten die Verhaftung und alsdann eine sofortige Zwangseinziehung zum Wehrdienst für zwölf Monate. Dies würde die Eingliederung des Antragstellers gefährden. Die Antragsgegnerin habe insoweit nicht berücksichtigt, dass der Antragsteller weder während einer möglichen Inhaftierung in der T. noch während des dortigen Wehrdienstes in der Lage sein würde, einen Beruf auszuüben und sich sozial zu integrieren. Ferner sei unberücksichtigt geblieben, dass die Ausgleichszahlung von 1.000 € nur bis zum einem 31. Dezember 2017 geleistet werden könne. Auch habe die Antragsgegnerin nicht beachtet, dass der Antragsteller noch ca. zehn Monate Zeit habe, um sein Überbrückungsgeld wieder aufzustocken.
Gegen den ihr am 7. September 2017 zugestellten Beschluss wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer am 6. Oktober 2017 bei dem Landgericht Braunschweig eingelegten Rechtsbeschwerde.
Die Antragsgegnerin rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts und beantragt, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 24. August 2017, die die Antragsgegnerin verpflichtet, 1.000 € aus dem Überbrückungsgeld des Antragstellers freizugeben, aufzuheben. Ferner beantragt die Antragsgegnerin, den Vollzug der von der Strafvollstreckungskammer angeordneten Maßnahme auszusetzen.
Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer leide an einem formalen Fehler, da sich die Kammer nicht darauf beschränkt habe, die von der Vollzugsbehörde angegebenen Gründe für die Ablehnung des Antrags aufzuklären und nachzuprüfen, sondern eigene Recherchen betrieben habe, die bei der behördlichen Entscheidung nicht vorgelegen hätten. Ferner habe die Strafvollstreckungskammer, obgleich sie darauf beschränkt gewesen sei, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen, anstelle der Antragsgegnerin eine eigene Sachentscheidung getroffen, ohne Ausführungen dazu zu machen, ob im vorliegenden Fall eine Ermessensreduzierung auf Null vorliege. Die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer, die Ausgleichszahlung würde der Eingliederung dienen, seien nicht tragfähig.
Der zentrale juristische Dienst für den niedersächsischen Justizvollzug ist der Rechtsbeschwerde beigetreten.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat bereits auf die Sachrüge Erfolg.
1. Der Zulässigkeit steht § 116 Abs. 1 StVollzG nicht entgegen, da es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Es gilt die im Folgenden dargestellten Rechtsfehler zukünftig zu vermeiden.
2. Der angefochtene Beschluss konnte bereits deshalb keinen Bestand haben, weil die Strafvollstreckungskammer die dieser bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen gesetzten Grenzen überschritten hat. Die Strafvollstreckungskammer hätte vorliegend keine Entscheidung in der Sache treffen dürfen.
Bei dem Begehren des Antragstellers handelt es sich um einen Verpflichtungsantrag, da er die Freigabe von Überbrückungsgeld begehrt. Die Freigabe von Überbrückungsgeld vor Haftentlassung richtet sich nach § 47 Abs. 4 Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz (NJVollzG). Danach kann dem Gefangenen gestattet werden, das Guthaben auf dem Überbrückungsgeldkonto für Ausgaben zu verwenden, die seiner Eingliederung dienen. Durch diese Gesetzesformulierung ("kann") ist klargestellt, dass über die vorzeitige Freigabe von Überbrückungsgeld im Rahmen einer Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde entschieden wird. Nur im Fall von Spruchreife, also einer gebundenen Entscheidung oder einer Ermessungsreduzierung auf Null, kann das Gericht in der Sache selbst entscheiden.
Diese Grundsätze hat die Strafvollstreckungskammer nicht beachtet. Sie setzt sich in dem angefochtenen Beschluss mit der Frage des behördlichen Ermessens nicht auseinander. Eine Ermessensreduktion auf Null (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 29. Mai 2008 - 1 Ws 220/08 - juris, Rn. 12), also eine Sachlage, bei der alle anderen Entscheidungen als die vorzeitige Freigabe des Überbrückungsgeldes rechtswidrig wären, erwägt die Strafvollstreckungskammer nicht einmal.
Zwar ist auch der Senat als Rechtsbeschwerdegericht nicht befugt, sein Ermessen an die Stelle der Vollzugsbehörde zu setzen. Eine Sachentscheidung kann hier aber gleichwohl getroffen werden, da § 47 Abs. 4 NJVollzG bereits tatbestandlich nicht erfüllt ist, sodass sich die Frage der Ermessensübung auf Rechtsfolgenseite nicht stellt.
Nach § 47 Abs. 4 NJVollzG kann dem Gefangenen nur dann gestattet werden, das Guthaben auf seinem Überbrückungsgeldkonto für Ausgaben vor seiner Haftentlassung zu verwenden, wenn diese (neben der hier nicht einschlägigen Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung) seiner Eingliederung dienen. Insoweit ähnelt die gesetzliche Formulierung der bundesrechtlichen Vorschrift des § 51 Abs. 3 StVollzG, wonach der Anstaltsleiter gestatten kann, dass das Überbrückungsgeld für Ausgaben in Anspruch genommen wird, die der Eingliederung des Gefangenen dienen, so dass der juristische Erkenntnisstand zum Bundesrecht auch auf die niedersächsische Regelung übertragbar ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. Januar 2013 - 1 Ws 479 - 481/12 (StrVollz) - juris, Rn. 12; Nds. LT-Drs. 15/3565, S. 126 f.).
Die Vorschrift in § 47 Abs. 4 NJVollzG, die eine Abweichung von dem Grundsatz darstellt, dass das Überbrückungsgeld erst bei Haftentlassung auszuzahlen ist, ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. März 1988 - 1 Ws 12/88, NStZ 1989, 356; Reichenbach, in: Graf, BeckOK Strafvollzugsrecht Niedersachsen, 9. Edition 2017, § 47, Rn. 14; Nestler, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetz, 12. Auflage 2015, Abschnitt F, Rn. 187). Das Überbrückungsgeld dient in der Zeit nach der Entlassung eines Gefangenen dazu, diesem seine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu sichern, was seine Rückfallgefährdung verringert und die Chancen einer sozialen Reintegration in der schwierigen Phase unmittelbar nach der Strafentlassung erhöht. Daneben bezweckt § 47 NJVollzG eine Entlastung der Sozialhilfeträger, die dann nicht für den Lebensunterhalt des Gefangenen aufkommen müssen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 26. November 2015 - 1 Ws 533/15 (StrVollz) - juris, Rn. 11).
Ein vorzeitiger Rückgriff auf das Überbrückungsgeld ist deshalb ausnahmsweise nur dann zu gestatten, wenn dies zur Eingliederung erforderlich ist und wenn das Aufschieben bis zum Entlassungszeitpunkt für den Gefangenen wirtschaftliche oder sonstige Nachteile mit sich bringen würde (Däubler/Galli, in: Feest/Lesting, StVollzG, 6. Auflage 2012, § 51, Rn. 13).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Eine Geldzahlung zur Befreiung von der Ableistung der Wehrpflicht in der T. dient nicht der Eingliederung und der sozialen Integration des Antragstellers; auch dann nicht, wenn der Antragsteller in die T. abgeschoben werden sollte. Das Anliegen des Antragstellers, nicht zum Militärdienst herangezogen zu werden oder auch Sanktionen abzuwenden, die mit der Nichtableistung des Wehrdienstes verbunden sind, mag nachvollziehbar sein, die Wiedereingliederung des Antragstellers ist hiervon jedoch nicht betroffen.
Bei der Ableistung der Wehrpflicht handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche, mit den staatsbürgerlichen Rechten verknüpfte Pflicht. Sollte der Antragsteller, der t. Staatsangehöriger ist, diese Pflicht nicht erfüllen, droht ihm möglicherweise für den Fall, dass er sich in die T. begibt, auch die Sanktionierung einer evt. Pflichtverletzung bis hin zu einer Freiheitsstrafe. Es ist jedoch bereits umstritten, ob die zusätzliche Verbüßung von Freiheitsstrafe der Eingliederung zwingend entgegensteht (zum Diskussionsstand, ob das Überbrückungsgeld für die Zahlung von Geldstrafen im Falle drohender Ersatzfreiheitsstrafe verwendet werden kann, vgl. Laubenthal, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 6. Auflage 2013, § 51, Rn. 15). Dies könnte hier angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt hat nur ins Gewicht fallen, wenn sie im Vergleich zu dieser gewisse Erheblichkeit aufweisen würde. Dies kann vorliegend indes dahingestellt bleiben, da eine Inhaftierung des Antragstellers, die seine Wiedereingliederung infrage stellen könnte, nicht zwangsläufig droht. Der Antragsteller kann seine Wehrpflicht nicht nur durch Leistung der Ausgleichszahlung abbedingen, er könnte auch den Wehrdienst ableisten. Es ist nicht zu erkennen, dass die Ableistung des Wehrdienstes einer Eingliederung in die Gesellschaft entgegenstehen würde.
Die vorzeitige Freigabe von 1.000 € aus dem Überbrückungsgeld des Antragstellers würde vorliegend also lediglich dazu dienen, den Antragsteller von seiner staatsbürgerlichen Pflicht, seinen Wehrdienst abzuleisten, zu befreien. Dieser Zweck rechtfertigt die Reduzierung des Überbrückungsgeldes und die damit einhergehende Gefahr, dass der Antragsteller nach Entlassung aus der Haft öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen muss, nicht. Das Überbrückungsgeld ist daher zu diesem Zweck nicht vorzeitig freizugeben.
4. Der Antrag der Antragsgegnerin, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer bis zur Entscheidung des Senats auszusetzen, ist mit der Entscheidung in der Hauptsache gegenstandlos.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 S. 1 StVollzG. Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus § 1 Abs. 1 Nr. 8, 60, 52, 65 GKG.