Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 02.09.1996, Az.: SS 249/96
Garantenstellung eines zur Betreuung eines Kleinkindes eingesetzten Sozialarbeiters; Fahrlässige Tötung eines Kleinkindes infolge Vernachlässigung; Verpflichtung zur Schutzgewährung als wesentliches Merkmal der sozialpädagogischen Familienhilfe
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 02.09.1996
- Aktenzeichen
- SS 249/96
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1996, 21446
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1996:0902.SS249.96.0A
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 2 S. 2 KJHG
- § 13 StGB
Fundstellen
- FamRZ 1997, 1032-1033 (Volltext mit red. LS)
- NStZ 1997, 238 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1997, 133-135
Amtlicher Leitsatz
Fahrlässige Tötung eines Kleinkindes infolge Vernachlässigung von Schutzpflichten durch einen zur Betreuung eingesetzten Sozialarbeiter.
Gründe
Das LG hat den Freispruch der Angeklagten damit begründet, die Verantwortlichkeit der Angeklagten für den Tod des Kindes lasse sich weder aus positivem Handeln, noch aus echtem Unterlassen oder aus Vernachlässigung einer durch Garantenstellung begründeten Schutzpflicht herleiten. Die Anordnung vormundschaftsgerichtlicher Maßnahmen wäre nicht zu erwarten gewesen. Aus diesem Grunde hätte auch die gerichtliche Bestätigung einer Inobhutnahme des Kindes scheitern müssen. Bei der Einleitung der sozialpädagogischen Familienhilfe habe es sich um eine im Rahmen des dem A.. hierbei zustehenden Ermessens liegende sachgerechte Entscheidung gehandelt. Nach regelrechter Ingangsetzung dieses Verfahrens seien von der Jugendhilfe keine weiteren Maßnahmen zu erwarten gewesen. Dem hierfür maßgeblichen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG = SGB VII) sei keine Vorschrift zu entnehmen, die den Mitarbeitern der Jugendhilfe Garantenpflichten auferlege. Das folge aus dem Charakter des KJHG als Leistungsgesetz, nicht Eingriffsgesetz. Überdies hätten der Angeklagten Kontrollbefugnisse gegenüber dem S.. nicht zugestanden. Dieser versehe seine Aufgaben in eigener Verantwortung und sei an Weisungen des Jugendamtes nicht gebunden. Im Übrigen sei auch bei Annahme einer Garantenstellung eine Pflichtverletzung der Angeklagten nicht zu erkennen.
Das Urteil lässt nach den getroffenen Feststellungen Rechtsfehler nicht erkennen, soweit das LG die von der Angeklagten wesentliche mitgetragene Einleitung der sozialpädagogischen Familienhilfe (§ 31 KJHG) und deren Übertragung auf den S.. als sachgerecht angesehen hat. Es ist nach den Feststellungen auch nicht zu beanstanden, dass das LG eine Mitverursachung bei dem Tod des Kindes durch positives Tun, durch ein echtes Unterlassen oder durch Misshandlung von Schutzbefohlenen ausgeschlossen hat.
Die aus der Einleitung der Familienhilfe gezogene Folgerung, eine Garantenstellung der Mitarbeiter des A.. sei dadurch entfallen, ist hingegen rechtlich nicht zutreffend. Dabei kann dahinstehen, ob die Tätigkeiten der Behörden in der vorliegenden Art eher der staatlichen Leistungsverwaltung als dem Eingriffsbereich zuzurechnen sind. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dem Sinne des KJHG Hilfsbedürftigen ein Rechtsanspruch auf Hilfe im Sinne der Vorschriften dieses Gesetzes zusteht. Wesentliches Merkmal der sozialpädagogischen Familienhilfe in den Fällen der vorliegenden Art ist mithin auch die Verpflichtung zur Schutzgewährung. Daraus kann eine strafrechtliche Garantenpflicht der zu diesem Zweck unmittelbar tätigen staatlichen Gewährsträger resultieren, hier die der mit der Sache dienstlich befassten Mitarbeiter des A.. (vgl. zur Garantenpflicht BGHSt 38, 388 ff[BGH 29.10.1992 - 4 StR 358/92], (= StV 1993, 126)). Der vom LG hervorgehobene deutlich sozialrechtliche Charakter des KJHG schließt die Entstehung einer solchen Pflicht nicht aus. Das KJHG betont zwar den Gedanken der Hilfe, weist aber auch auf die Schutzpflicht des Staates hin, § 1 Abs. 2 S. 2. Diese Pflicht gilt für alle Maßnahmen nach dem KJHG und ist demgemäß auch nach Einleitung sozialpädagogischer Hilfe zur Abwehr möglicher Gefahren zu bedenken und zu gewährleisten. Dem kann das Selbstverständnis eines freien Trägers der Familienhilfe, hier des S.., nicht entgegenstellen. Die gemäß § 3 KJHG weitgehend mögliche Übertragung von Aufgaben der Familienhilfe auf freie Träger kann deswegen die bestehende Schutzpflicht des Staates nicht völlig ablösen.
Der Senat kann dem LG dementsprechend nicht darin folgen, dass die Angeklagten bereits mangels Bestehens einer Garantenpflicht nach Einleitung der Familienhilfe für den Tod des Kindes nicht mit einzustehen habe,
§ 13 StGB. Der Senat kann auch nicht ausschließen, dass das Urteil auf dieser nicht zu teilenden rechtlichen Beurteilung des LG beruht. Nach den getroffenen Feststellungen, die für den Senat maßgeblich sind, konnte das LG bei hilfsweiser Annahme einer Garantenpflicht der Angeklagten nicht ohne weiteres zu deren Freispruch gelangen.
Die Angeklagten hat als zuständige Betreuerin mit den Mitarbeiterinnen des S.. im einzelnen erörtert, in welcher Weise die Pflege bei der Familie T. vorzunehmen sei. Aufgrund ihrer grundsätzlich fortbestehenden Gewährspflicht für den Schutz der Familie konnte sie insbesondere auf Grund des Grads der Verwahrlosung des Kindes K. nicht darauf verzichten, die Mitarbeiterinnen des S.. zu verpflichten, bei Auffälligkeiten Kontakt mit dem A.. aufzunehmen. Es reichte nicht aus, dass sie sich vor Antritt ihres Urlaubs mit der Mitteilung, die Arbeit sei gut angelaufen, begnügte und auf den bevorstehenden Arzttermin hinwies. Es hätte verlässlich Gewähr leistet sein müssen, dass der A.. nach dem fehlgeschlagenen Versuch eines Besuchs am 3.5.1994 unverzüglich unterrichtet worden wäre, um unmittelbar eingreifen zu können. Das gilt um so mehr, als die die Familie betreuende Zeugin Z. neu beim S.. eingestellt worden war. Der Senat übersieht hierbei nicht, dass bei der Pflege des Kindes K. zunächst nicht die Ernährung, sondern andere Folgen der Vernachlässigung im Vordergrund gestanden hatten. Wäre von Anfang an eine mangelhafte Ernährung zu besorgen gewesen, hätte die Angeklagten umfassendere Maßnahmen der Kontrolle festlegen müssen. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der A.. bei sofortiger Unterrichtung nach dem am 3.5.1994 fehlgeschlagenen Besuch unverzüglich eingegriffen hätte und das Kind dadurch hätte gerettet werden können.