Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 27.08.1992, Az.: 4 A 4038/91
Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten ; Stellung von Anträgen bei Behörden
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 27.08.1992
- Aktenzeichen
- 4 A 4038/91
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1992, 22082
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:1992:0827.4A4038.91.0A
Rechtsgrundlagen
- § 8 Abs. 2 S. 2 BSHG
- § 13 Abs. 5 SGB X
- § 13 Abs. 5 S. 1 SGB X
Verfahrensgegenstand
Zurückweisung als Beistand in Sozialhilfeangelegenheiten
Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts hat
auf die mündliche Verhandlung vom 27. August 1992
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Ungelenk,
den Richter am Verwaltungsgericht Steinhoff und
den Richter Thommes
sowie
die ehrenamtliche Richterin Edelmann und
den ehrenamtlichen Richter Geldmacher
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 1. November 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1990 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung der Klägerin als Beistand in Sozialhilfeangelegenheiten.
Die Klägerin war Vorsitzende des eingetragenen Vereins Wolfsburger Interessengruppe Sozialhilfe. Dieser Verein ist korporatives Mitglied der Arbeiterwohlfahrt (Ort ... Wolfsburg).
Am 01. November 1990 begleitete die Klägerin eine Sozialhilfeempfängerin zum Sozialamt des Beklagten. Dort wurde sie unter Bezugnahme auf § 13 SGB X als Beistand zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich ihr Widerspruch vom 08. November 1990, der mit Widerspruchsbescheid vom 04. Dezember 1990 abschlägig beschieden wurde.
Mit der am 14. Januar 1991 eingegangenen Klage erstrebt die Klägerin die Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Sie ist der Auffassung, sie sei befugt, Sozialhilfeempfänger als Beistand zum Sozialamt der Beklagten zu begleiten. Dies ergebe sich insbesondere aus §§ 8 und 10 BSHG.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 01. November 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Dezember 1990 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich im wesentlichen auf ihren Widerspruchsbescheid. Sie ist der Auffassung, die Klägerin betreibe geschäftsmäßig Rechtsberatung und sei hierzu nicht befugt.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
II.
Die Klage ist zumindest als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig, da die Klägerin für Wiederholungsfälle ein Interesse an der Klärung der hier einschlägigen Rechtsfragen hat.
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 01. November 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Dezember 1990 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte kann sich zur Begründung der angefochtenen Verwaltungsakte nicht auf § 13 Abs. 5 SGB X berufen. Nach dieser Vorschrift sind Beistände zurückzuweisen, wenn sie geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgen, ohne dazu befugt zu sein. Nach § 13 Abs. 4 SGB X kann ein Beteiligter am Verwaltungsverfahren zu Verhandlungen und Besprechungen mit einem Beistand erscheinen. Unter einem Beistand ist eine Vertrauensperson zu verstehen, die im Unterschied zum Bevollmächtigten neben dem Verfahrensbeteiligten handelt. Der Beistand wird nur unterstützend tätig und handelt zusammen mit dem Verfahrensbeteiligten (vgl. hierzu Krause/von Mutius/Schnapp/Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren 1991, § 13 Rdnr. 49; Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Auflage, § 14, Rdnr. 23). In eben dieser Funktion hat die Klägerin hier gehandelt. Sie hat eine Sozialhilfeempfängerin zum Sozialamt begleitet, um diese bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche und bei der Vertretung ihrer Interessen zu unterstützen.
Die Klägerin hat aber nicht im Sinne von § 13 Abs. 5 Satz 1 SGB X geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgt.
Die Klägerin hat im wesentlichen nicht Rechtsangelegenheiten besorgt. Bei der Interessengemeinschaft Sozialhilfe e.V. handelt es sich um eine Selbsthilfeorganisation von Sozialhilfeempfängern. Diese gewähren sich gegenseitig Unterstützung unter anderem bei dem für viele Sozialhilfeempfänger belastenden Gang zum Sozialamt. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung einleuchtend dargelegt, daß bei ihrer Tätigkeit die Belange von alleinstehenden Frauen, die laufend Sozialhilfe bezogen, im Vordergrund standen. Allein hierin kann noch keine Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten gesehen werden, denn im Vordergrund steht die soziale Beratung und die gegenseitige Unterstützung. In der Literatur wird darauf hingewiesen, daß derartige Vereinigungen sich sicherlich in einem Grenzbereich zur Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes (vom 13. Dezember 1935, Reichsgesetzblatt I, Seite 1478) bewegen; im Vordergrund stehe jedoch die soziale Beratung, wie sie auch von § 8 Abs. 2 BSHG angezielt wird (vgl. hierzu: Knopp/Fichtner, BSHG, 6. Aufl., § 8 Rndr. 31 ff.; LPK BSHG, 3. Aufl., § 8 Rdnr. 26 ff.; Schellhorn u.a. BSHG, 13. Aufl., § 8 Rdnr. 31). In diesem Zusammenhang weist der deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge in einer Stellungnahme vom 20. Oktober 1988 zutreffend auf folgendes hin: "Allerdings muß nicht jedes Tätigwerden nach außen notwendigerweise Rechtsbesorgung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes sein. Rechtsbesorgung ist immer im Hinblick auf den Schutzzweck des Rechtsberatungsgesetzes zu sehen. Sie ist nur dann gegeben, wenn überhaupt Vorgänge "rechtlicher Art" in Rede stehen, d.h. Tätigkeiten, die ihr Gepräge eindeutig von der rechtlichen Seite her erhalten, so daß auch die Kompetenz des Anwalts gefordert ist." (vgl. Überlegungen zur Schuldnerberatung in der sozialen Arbeit, NDV 1988 S. 367, 371). Der deutsche Verein folgert daraus weiter, wenn der Vorgang seinen Schwerpunkt auf der wirtschaftlich-sozialen Seite habe und rechtliche Aspekte nicht den Gesamtvorgang prägen, sei dies nicht Rechts-, sondern Geschäftsbesorgung. Bei der Interpretation des Tatbestandsmerkmals geschäftsmäßige Rechtsbesorgung in § 13 Abs. 5 SGB X ist auf dem Gebiet des Sozialhilferechts daher einerseits die strikte, wortgleiche Regelung des Rechtsberatungsgesetzes und deren traditionelle Interpretation zu berücksichtigen. Andererseits ist aber auch die normative Verankerung der Sozialberatung durch die Verbände der freien Wohlfahrt zu berücksichtigen. Nach § 8 Abs. 2 Satz 2 BSHG wird nämlich Beratung in sonstigen sozialen Angelegenheiten auch von Verbänden der freien Wohlfahrtspflege wahrgenommen. Wenn dies der Fall ist, ist der Ratsuchende zunächst hierauf hinzuweisen. Zur Interpretation dieser Vorschrift haben in einer Besprechung im Bundesministerium der Justiz am 24. Februar 1969 die hauptbeteiligten Bundesressorts, die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände und die ihr angeschlossenen Organisationen Einigkeit über bestimmte Grundsätze erzielt (abgedruckt bei Knopp/Fichtner, a.a.O., Rdnr. 37). In diesen Grundsätzen heißt es: "Im Rahmen der persönlichen Hilfe, zu der auch die "Beratung in sonstigen sozialen Angelegenheiten" gehört, dürfen die Wohlfahrtsverbände auf Rechtsfragen eingehen, wenn eine sachgerechte und ordnungsgemäße Hilfe dies erfordert. Bei der Abgrenzung des Umfanges dieser Befugnis, die sich nach dem Bundessozialhilfe- und dem Rechtsberatungsgesetz richtet, sind folgende Gesichtspunkte zu beachten: a. Die Beratung muß sich im Rahmen der Hilfe in einer sozialen Angelegenheit halten; b. die Beratung muß für hilfsbedürftige Personen erfolgen; c. bei der Beratung darf gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz BSHG nicht in den Aufgabenbereich anderer Stellen oder Personen eingegriffen werden (Rechtsberatung der Wohlfahrtsverbände). Die Rechtsberatung auf diesen Gebieten des sozialen Rechts kann vor allem bestehen in der Aufklärung über Ansprüche aufgrund eines Sozialgesetzes, in der Hilfe bei der Abfassung oder bei der Stellung von Anträgen bei Behörden, in der Unterstützung bei Rückfragen und -sprachen in behördlichen Verfahren. Eine Durchsetzung der Ansprüche in gerichtlichen Verfahren ist nicht mehr Sache der Wohlfahrtsverbände.". Gerade im Rahmen dieser Beratung bei der Durchsetzung von Ansprüchen gegenüber Behörden hat die Klägerin hier gehandelt. Auch die anderen genannten Voraussetzungen für die Beratung sind erfüllt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Sozialbeziehungen in der modernen Gesellschaft immer mehr verrechtlicht werden. Eine Beratung in sozialen Angelegenheiten ist daher - angesichts dieser fortschreitenden Verrechtlichung - ohne ein Eingehen auf rechtliche Fragen und Ansprüche gar nicht mehr möglich. Es ist daher davon auszugehen, daß die Unterstützung, die die Klägerin geleistet hat, nicht als geschäftsmäßige Besorgung von Rechtsangelegenheiten im Sinne des Gesetzes zu verstehen ist, sondern als Sozialberatung im Sinne von § 8 Abs. 2 BSHG. Nach Auffassung der Kammer wäre die Grenze zur Rechtsberatung erst dann überschritten, wenn die Klägerin geschäftsmäßig Sozialhilfeempfänger in Widerspruchs- oder gar Gerichtsverfahren vertritt. Erst dann kann nicht mehr die soziale Unterstützung und die Herabsetzung von Zugangsschwellen im Vordergrund des Geschehens stehen, sondern der Streit um die Auslegung von Rechtsnormen.
Die Klage war nach alledem mit den sich aus der Anwendung von §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 167 Abs. 2 VwGO ergebenden Nebenentscheidungen stattzugeben.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil ist die Berufung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft.
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Thommes