Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 12.08.1992, Az.: 4 B 4316/92
Verpflichtung zur Zahlung von Unterbringungskosten für einen Obdachlosen in einer Pension ; Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 12.08.1992
- Aktenzeichen
- 4 B 4316/92
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1992, 22074
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:1992:0812.4B4316.92.0A
Rechtsgrundlagen
- § 11 BSHG
- § 12 BSHG
- § 22 BSHG
- § 72 BSHG
Verfahrensgegenstand
Sozialhilfe (übernähme von Unterkunftskosten)
Antrag nach § 123 VwGO
Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
am 12. August 1992
beschlossen:
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die Unterbringung des Antragstellers zunächst längstens bis zum 19. August 1992 bis zur Höhe von 35,- DM täglich zu übernehmen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Antragsgegners, Unterbringungskosten für den Antragsteller in einer Pension zu übernehmen.
Der Antragsteller wurde am 7. Juli 1992 nach längerer Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel entlassen. Seitdem ist er überwiegend obdachlos. Anfänglich war er noch bei seinem in Wolfenbüttel ansässigen Vater wohnhaft. Dieser hat ihn jedoch des Hauses verwiesen. Die Stadt Wolfenbüttel hat dem Antragsteller angeboten, ihn in der Obdachlosenunterkunft in der Salzdahlumer Straße 124 unterzubringen. Dort soll der Antragsteller in einem 2-Bett-Zimmer mit einem anderen Sozialhilfeempfänger zusammenleben.
Am 3. August 1992 beantragte der Antragsteller im Sozialamt der für den Antragsgegner handelnden Stadt Wolfenbüttel die Übernahme von Pensionskosten. Zur Begründung berief er sich auf seine psychischen und physischen Probleme. Dieser Antrag wurde mit Schreiben des Sozialamtes vom ... 6. August 1992 abgelehnt. Zur Begründung wurde darauf hingewiesen, daß die vom Antragsteller geltend gemachten gesundheitlichen Gründe durch ein ärztliches Attest glaubhaft gemacht werden müßten.
Mit seinem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erstrebt der Antragsteller weiter die sozialhilferechtliche Übernahme der Kosten für seine Unterbringung in einer Pension oder in einer ähnlichen Unterkunft. Er ist der Auffassung, durch die Unterbringung im Obdachlosenasyl werde seine Resozialisierung gefährdet. Das dortige Sozialmilieu sei von einem hohen Alkoholkonsum gekennzeichnet. Die bei ihm vorhandene Alkoholproblematik könne sich dadurch erneut aktualisieren. Auch psychisch sei ihm derzeit die Unterbringung in dem Obdachlosenasyl nicht zumutbar. Einen Arzttermin habe er erst für den 13. August 1992 erhalten. Erst danach könne er das verlangte ärztliche Attest vorlegen.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für ein Zimmer in einer Pension umgehend zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Der Antragsgegner hat zwar keinen förmlichen Antrag gestellt; jedoch hat sich Herr ... vom Sozialamt des Antragsgegners dahingehend geäußert, daß der Antragsgegner dem Antrag nicht abhelfen werde. Der Antragsgegner ist der Auffassung, die Unterbringung im Obdachlosenasyl reiche aus, um die sozialhilferechtlichen Ansprüche des Antragstellers zu befriedigen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da nach Zweck und Wesen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Erbringung von Geldleistungen - wie sie im vorliegenden Fall vom Antragsteller begehrt werden - im einstweiligen Anordnungsverfahren nur ausgesprochen werden, wenn der Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch und weiterhin glaubhaft macht, er befände sich wegen fehlender anderer Geldmittel in einer existentiellen Notlage und sei deswegen - mit gerichtlicher Hilfe - auf die sofortige Befriedigung seines Anspruchs dringend angewiesen.
Der Antragsteller hat vorliegend sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 11, 12 BSHG i.V.m. § 3 der Verordnung zur Durchführung des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (vom 20. Juli 1962, zuletzt geändert durch Verordnung vom 21. März 1990, BGBl I S. 562). Danach ist demjenigen Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann. Zum notwendigen Lebensunterhalt in diesem Sinne gehört insbesondere auch der Bedarf für die Unterkunft. Laufende Leistungen für die Unterkunft sind in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu gewähren. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf anzuerkennen, wenn es dem Hilfeempfänger nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, die Aufwendungen zu senken. So liegen die Dinge hier. Der Antragsteller hat im Sozialamt der für den Antragsgegner handelnden Stadt Wolfenbüttel beantragt, als Kosten der Unterkunft diejenigen Kosten zu übernehmen, die notwendig sind, um ein Zimmer in einer Pension anzumieten. Hierauf hat er nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung einen Anspruch. Zwar übersteigen die dabei anfallenden Kosten den Umfang des sozialhilferechtlich Angemessenen im Sinne von § 3 der Verordnung zu § 22 BSHG. Sie sind jedoch gleichwohl anzuerkennen, da es dem Antragsteller derzeit nicht zuzumuten ist, durch Einzug in die angebotene Obdachlosenunterkunft die Unterkunftskosten zu senken. Die Unzumutbarkeit ergibt sich für die Kammer zunächst daraus, daß die vom Antragsteller behaupteten Risiken für seine weitere gesundheitliche Entwicklung noch nicht abzusehen sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Antragsteller nach dem langen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt psychisch und sozial so instabil ist, daß die Unterbringung in der Obdachlosenunterkunft dazu führen würde, seine Fähigkeit zur Führung eines Lebens in sozialer Verantwortung ohne Begehung von Straftaten zu verhindern. Die Herbeiführung dieser Fähigkeit ist aber oberstes Ziel des Strafvollzuges (§ 2 Satz 1 StrVollG vom 16. März 1976, BGBl I S. 511, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 1990, BGBl I S. 2847). Um den Eintritt dieser Gefahr zu verhüten, hält die Kammer den Erlaß der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO für notwendig. Sie hat die Wirkung auf eine Woche begrenzt, weil bis dahin der Untersuchungsbericht des behandelnden Facharztes für Neurologie vorliegen wird. Aus diesem wird genauer zu entnehmen sein, wie gefährdet der Antragsteller ist.
Die grundsätzliche Möglichkeit der Gefährdung der Resozialisierung des Antragstellers entnimmt die Kammer mehreren tatsächlichen und normativen Hinweisen.
Zunächst haben zwei Sozialarbeiter, die mit dem Fall des Antragstellers vertraut sind, dem Berichterstatter in dieser Sache fernmündlich bestätigt, daß der Antragsteller in einer äußerst gefährdeten Situation lebt. Beide Sozialarbeiter haben auch aus ihrer Erfahrung in solchen Fällen heraus bestätigt, daß es dem Antragsteller aus der Unterkunft in der Salzdahlumer Straße 124 heraus unmöglich sein wird, auf dem privaten Wohnungsmarkt eine neue Wohnung zu finden, da diese Adresse allen privaten Vermietern wohl bekannt sei. Weiter wurde darauf hingewiesen, daß die Befürchtungen des Antragstellers im Hinblick auf die Unterbringung in der Salzdahlumer Straße 124 insbesondere hinsichtlich der Alkoholproblematik zu Recht bestünden. Insoweit nimmt die Kammer ausdrücklich Bezug auf die in der Akte befindlichen Gesprächsvermerke.
Der Kammer ist aber auch sowohl abstrakt als auch aus mehreren von ihr entschiedenen anderen Verfahren bekannt, daß gerade bei entlassenen Strafgefangenen in derartigen Konstellationen oft der Beginn eines langen, Nichtseßhaftendaseins liegt. Dies gilt es, zu verhindern.
Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit i.S.v. § 3 der VO zu § 22 BSHG ist auch der normative Gesichtspunkt zu berücksichtigen, daß der Antragsteller auch Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG i.V.m. §§ 1 Abs. 2 Nr. 4, 3, 8 der Verordnung zur Durchführung des § 72 des Bundessozialhilfegesetzes (vom 9. Juli 1976, BGBl I S. 1469) hat. Danach ist Personen, bei denen besondere soziale Schwierigkeiten der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen, Hilfe zur Überwindung dieser Schwierigkeit zu gewähren, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind. Diese Hilfe umfaßt alle Maßnahmen, die notwendig sind, um die Schwierigkeiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Hierunter fallen insbesondere Maßnahmen bei der Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung. Der Antragsteller erfüllt in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 72 BSHG. Er ist vor kurzem aus langer Strafhaft in ungesicherte Verhältnisse entlassen worden. § 72 BSHG umfaßt nicht nur persönliche, sondern auch materielle Hilfe. Materielle Hilfen sind immer dann zu gewähren, wenn eine Hilfsbedürftigkeit, die auf den besonderen Lebensverhältnissen nach § 72 BSHG beruht, anders nicht zu beseitigen ist (LPK BSHG 3. Aufl., § 72 Rdnr. 43). In diesem Zusammenhang hat das Nds. Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluß vom 7. November 1990 (AZ: 4 L 197/89) ausgeführt:
"... mit der "Unterkunft" im Sinne der §§ 12 BSHG, 3 Resatzverordnung ist nicht eine Obdachlosenunterkunft gemeint. Es ist im Gegenteil Aufgabe der Sozialhilfe, Personen, die z.B. in Obdachlosenunterkünften leben, durch persönliche Hilfe oder Geldleistungen bei der Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung zu helfen (§§ 72 Abs. 2 BSHG, 2, 8 VO zu § 72 BSHG). Hier muß dem Kläger also nach der Zwangsräumung seiner Unterkunft unter Umständen für einen angemessenen Zeitraum Gelegenheit gegeben werden, sich eine andere, preiswerte Unterkunft zu suchen. Als angemessen könnte unter Berücksichtigung der Umstände dieses Einzelfalles ... ein Zeitraum von vier Wochen in Betracht kommen. In dieser Zeit wären dann die Aufwendungen des Klägers für das von ihm vorübergehende gemietete Hotelzimmer in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen (§ 3 Abs. 1. Regelsatz VO)."
(Ähnlich etwa Brühl, ZfF 1991, S. 49, 50, 52).
Im Beschluß vom 16. Januar 1992 (AZ 4 M 22 88/91) heißt es weitergehend:
"Ausreichend im Sinne der genannten Vorschriften ist Wohnraum nämlich nur dann, wenn er es erlaubt, die Grundbedürfnisse eines Menschen zu befriedigen; zu ihnen gehören auch "Privatheit" und "Rückzug von anderen Menschen" (ebenso LPK BSHG a.a.O. Rndr. 8)."
Teilweise wird sogar von einem Sachleistungsanspruch auf eine Wohnung ausgegangen (VGH Kassel, Beschl. vom 10. Januar 1986, FEVS 35, 417 ff; LPK BHSG 3. Aufl., § 72 Rdnr. 45; Steinmeier/Brühl KJ 89, 275 ff; Brühl a.a.O., jetzt auch OVG Lüneburg, Beschluß v. 31.5.1991, AZ: 4 O 2038/91, in info also 1992 S. 32 mit Anm. Schlegel). Zumindest unter den speziellen Voraussetzungen des hier zu entscheidenden Falles kann sich unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung auch aus § 72 BSHG zumindest ein Anspruch auf die vom Antragsteller beantragten Leistungen ergeben. Dieser ist aber gemäß § 72 Abs. 1 Satz 2 BSHG nachrangig gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt, über ihn braucht daher letztlich nicht entschieden zu werden.
Es ist in der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts und der erkennenden Kammer - wie den Beteiligten bekannt ist - unumstritten, daß in allen Fällen, in denen um Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt gestritten wird, vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes i.S.v. § 123 VwGO auszugehen ist. Dieser ist daher auch hier ohne weiteres zu bejahen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Beschluß ist die Beschwerde an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft.
...
Steinhoff
Thommes