Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 26.01.2015, Az.: 1 B 46/15

Gefahr der erneuten Straffälligkeit eines Asylbewerbers aufgrund früherer Straftaten

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
26.01.2015
Aktenzeichen
1 B 46/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 11139
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2015:0126.1B46.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 26.01.2015 - AZ: 1 B 46/15

Fundstelle

  • AUAS 2015, 50-51

Amtlicher Leitsatz

Bei der Frage, ob ein Ausländer aus dem Schutz seines Privatlebens nach Art. 8 EMRK eine außergewöhnliche Härte i.S.v. § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG herleiten kann, sind im Rahmen der erforderlichen Abwägung seine Straftaten zu berücksichtigten. Insoweit ist die Prognose anzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner früheren Straftaten die Gefahr besteht, dass er erneut straffällig werden könnte.

Gründe

1

Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis und eine Abschiebungsandrohung.

2

Er ist am XX.XX.XX in K. L. mit dem Nachnamen M. geboren. Er erhielt erstmals am 14.12.1990 eine Aufenthaltserlaubnis nach der Niedersächsischen Bleiberechtsregelung für staatenlose Kurden aus dem Libanon vom 18.10.1990. Die Aufenthaltserlaubnis wurde regelmäßig verlängert, letztmalig bis zum 14.12.2004. Am 24.11.2004 beantragte der Antragsteller rechtzeitig die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Hierüber wurde erst mit dem im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Bescheid vom 15.10.2014 entschieden; bis dahin erhielt der Antragsteller Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bzw. § 69 Abs. 3 AuslG. Am 21.11.2014 erhielt der Antragsteller erstmals eine Duldung. Das ausländerrechtliche Verfahren zog sich u. a. deshalb so lange hin, weil der Antragsgegner im Januar 2004 erfahren hatte, dass die Eltern des Antragstellers tatsächlich türkische Staatsangehörige mit dem Nachnamen B. waren. Die Ausländerbehörde bemühte sich in der Folgezeit, den Sachverhalt aufzuklären und den Antragsteller in das türkische Personenstandsregister eintragen zu lassen, damit dieser einen türkischen Nationalpass erhalten konnte. Am 05.08.2010 wurde dem Antragsteller erstmals ein türkischer Nationalpass für ein Jahr ausgestellt, der dem Antragsgegner Mitte August 2010 vorlag. Mit Schreiben vom 29.08.2011 wies der Antragsgegner den Antragsteller darauf hin, dass sein Nationalpass abgelaufen sei und forderte ihn auf, sich um eine Verlängerung bzw. Neuausstellung zu bemühen. Dem kam der Antragsteller zunächst nicht nach. Mit Schreiben vom 14.01.2013 forderte der Antragsgegner den Antragsteller mit Fristsetzung auf, verschiedene Unterlagen, u.a. einen gültigen Nationalpass, vorzulegen, damit über die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis entschieden werden könne. Ferner stellte er Nachforschungen an, ob gegen den Antragsteller Strafverfahren geführt worden waren. Der Antragsteller kam der Aufforderung des Antragsgegners im Wesentlichen nach; einen gültigen Nationalpass legte er Anfang 2014 vor (gültig bis 03.08.2021).

3

Mit Bescheid vom 15.10.2014 lehnte der Antragsgegner nach vorheriger Anhörung den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und forderte den Antragsteller unter Fristsetzung zur Ausreise auf. Er drohte die Abschiebung in die Türkei an, falls der Antragsteller nicht innerhalb der gesetzten Frist ausreise. Zur Begründung führte er aus, als Anspruchsgrundlage für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis komme ausschließlich § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Betracht. Dies setze voraus, dass das Verlassen des Bundesgebiets für den Antragsteller eine außergewöhnliche Härte darstelle. Letzteres könne bei einer starken Verwurzelung in Deutschland angenommen werden. Der Antragsteller sei zwar in Deutschland geboren und hier zur Schule gegangen. Er habe jedoch keinen Schulabschluss erworben; eine Berufsausbildung habe er ebenfalls nicht absolviert. Ein in Aussicht gestellter Ausbildungsplatz ab 01.08.2015 falle aktuell nicht ins Gewicht. Positiv sei zu bewerten, dass er sich seit dem 27.11.2013 in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis befinde. Zu seinen Lasten sei zu berücksichtigen, dass er in der Vergangenheit strafrechtlich in Erscheinung getreten und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt sei, verurteilt worden sei. Insofern könne nicht von seiner gelungenen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse ausgegangen werden. Seine Ausreise in die Türkei würde für ihn keine außergewöhnliche Härte bedeuten. Ein Neuanfang in der Türkei werde ihm sicher nicht leicht fallen, weil er im Bundesgebiet geboren sei und sein bisheriges Leben hier verbracht habe. Unter Berücksichtigung seines Alters würden jedoch keine Zweifel bestehen, dass ihm eine Integration im Heimatland gelingen werde. Dabei könne er von einem in der Türkei lebenden Bruder und ggfs. von weiteren Verwandten Unterstützung erhalten. Ferner habe er die Möglichkeit, bei freiwilliger Ausreise Rückkehrhilfen des deutschen Staates in Anspruch zu nehmen.

4

Soweit der Antragsteller vortrage, sein weiterer Verbleib in der Bundesrepublik sei notwendig, weil er seine pflegebedürftigen Eltern versorge, führe dies zu keinem anderen Ergebnis. Seine Eltern seien nachweislich lediglich in Pflegestufe I eingestuft und könnten ohne weiteres auch durch andere Familienmitglieder betreut werden. Zwar komme es im Rahmen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK grundsätzlich nicht darauf an, dass die Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könne. Dies sei jedoch dann anders, wenn ein Missbrauch vorliege und ein Ausländer nur deshalb Beistandsleistungen übernehme, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Dies sei vorliegend offensichtlich der Fall. Die Betreuung der Eltern des Antragstellers sei bisher ausschließlich durch dessen Schwägerin erfolgt. Erst nachdem sich im vorliegenden Verfahren abgezeichnet habe, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt werde, habe der Antragsteller die Betreuungsleistungen für seine Eltern übernommen. Es sei auch nicht überzeugend, dass die Schwägerin wegen der bevorstehenden Geburt und anschließenden Betreuung ihres Kindes die Betreuungsleistungen nicht mehr erbringen könne. Bei Pflegestufe I sei nur ein geringer Zeitaufwand notwendig. Andernfalls könnte der Antragsteller neben der Betreuung seiner Eltern auch nicht ganztags berufstätig sein. Hinzu komme, dass die Eltern des Antragstellers nur deshalb eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hätten, weil im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei ihre weitere Pflege durch Angehörige nicht sichergestellt sei. Sollte der Antragsteller seine Eltern tatsächlich pflegen, könnten diese gemeinsam mit ihm in die Türkei ausreisen und wären in der Türkei durch ihn versorgt.

5

Der Antragsteller könne auch aus dem Beschluss des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19.09.1980 (ARB 1/80) kein Aufenthaltsrecht ableiten. Eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne dieses Beschlusses setze eine gesicherte und nicht nur vorläufige Rechtsposition auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines Aufenthaltsrechts voraus. Lediglich fiktiv erlaubte Aufenthaltszeiten oder das Fortbestehen eines Aufenthaltstitels würden hierfür nicht genügen. Der Antragsteller könne deshalb auch unter Berücksichtigung der fast 10jährigen Fiktionswirkung seines früheren Aufenthaltstitels keine ordnungsgemäße Beschäftigung im oben genannten Sinne nachweisen.

6

Der Antragsteller hat am 03.11.2014 Klage gegen den Bescheid vom 15.10.2014 erhoben und am 16.01.2015 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.

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Er ist der Ansicht, dass er als faktischer Inländer im Sinne des Art. 8 EMRK zu betrachten und ihm eine Ausreise in die Türkei nicht zumutbar sei. Er habe zwar keinen Schulabschluss erworben; seine Noten im Abschlusszeugnis der N. -O. -Schule seien jedoch nicht so schlecht, dass er als Schulversager anzusehen sei. Er habe sich wirtschaftlich integriert und ihm sei es bisher auch ohne Schulabschluss gelungen, seinen Lebensunterhalt selbst zu sichern. Nachdem sich im Jahr 2008 eine bei der Firma P. Trockenbau in I. geplante Ausbildung wegen Insolvenz der Firma zerschlagen habe, habe er ein Jahr für 1.100,00 Euro netto monatlich bei Q. in I. gearbeitet. 2009 habe er zur R. Zeitarbeitsfirma in H. gewechselt, die ihn bei der Firma S. in T., einem Zulieferer für die Automobilbranche, eingesetzt habe. Bei dieser Firma sei er durchgehend tätig (gewesen), auch nachdem er von der R. zur U. GmbH aus V. und ab 2014 zur W. X. GmbH in Y. gewechselt habe. Man sei bei der S. mit seiner Arbeit sehr zufrieden und es bestünden Überlegungen, ihn Anfang 2015 direkt anzustellen. Dass er wirtschaftlich sehr gut integriert sei, ergebe sich auch aus der vorgelegten Stellungnahme seines derzeitigen Arbeitgebers, der W. X. GmbH, vom 19.01.2015. Er habe auch starke persönliche und soziale Kontakte in der Bundesrepublik. Er habe seit sechs Jahren eine feste Beziehung mit der deutschen Staatsangehörigen Z. AA.. Seine Lebensgefährtin und er beabsichtigten, zusammenzuziehen, sobald er seine Schulden aus seiner letzten Verurteilung beglichen habe. Seit seinem Umzug vor ca. 12 Jahren nach D. -E. spiele er Fußball im SG AB. -AC. und Baseball bei den AC. AD.. Insbesondere der Baseballsport sei sein Steckenpferd. Er habe an mehreren Trainingscamps in der Schweiz und Dänemark teilgenommen und in Sichtungsspielen für die Deutsche Nationalmannschaft mitgespielt. Er habe sogar einen Trainerschein machen sollen, dies sei dann aus finanziellen Gründen gescheitert. Demgegenüber rechtfertige seine Verurteilung zu einem Jahr und 10 Monaten Freiheitsstrafe kein überwiegendes öffentliches Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung. Dabei sei zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er bei Tatbegehung noch Heranwachsender gewesen und dementsprechend vor dem Jugendschöffengericht angeklagt worden sei. Das Amtsgericht I. habe ihm eine positive Sozialprognose bescheinigt, was sich schon daraus ergebe, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt sei. Die positive Prognose des Amtsgerichts habe seine Bewährungshelferin in ihrem Bewährungsbericht vom 22.10.2014 zudem bestätigt. Eine Ausreise in die Türkei sei ihm auch deshalb nicht zumutbar, weil er keinerlei Beziehung zu diesem Land habe. Zu einem dort lebenden Bruder habe er keinen Kontakt. Er spreche weder türkisch noch kurdisch. Seine Eltern hätten ihn in keiner Weise mit der Türkei vertraut gemacht, weil sie sich selbst als Araber aus dem Libanon ansehen würden.

8

Ihm stehe auch ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 zu. Außerdem habe der Antragsgegner durch die jahrelange Verlängerung von Fiktionsbescheinigungen bei ihm das Vertrauen geschaffen, nicht abgeschoben zu werden.

9

Der Antragsteller hat im Klageverfahren sinngemäß beantragt,

10

den Bescheid des Beklagten vom 15.10.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts über seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis neu zu entscheiden.

11

Der Antragsgegner hat im Klageverfahren beantragt,

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die Klage abzuweisen.

13

Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Auch unter Berücksichtigung der positiven Prognose der Bewährungshelferin liege die notwendige Verwurzelung des Antragstellers im Bundesgebiet nicht vor. Es bestünden auch keine Zweifel daran, dass der Antragsteller sich in der Türkei reintegrieren könnte. Er könnte hierbei sicher die Unterstützung seines Bruders in Anspruch nehmen, auch wenn er aktuell keinen Kontakt zu ihm haben sollte. Durch die langjährige Verlängerung der Fiktionsbescheinigungen habe der Antragsgegner beim Antragsteller auch kein Vertrauen auf einen gesicherten Aufenthalt in der Bundesrepublik geschaffen. Der Antragsteller sei regelmäßig und ausdrücklich auf die Bedeutung dieser Bescheinigungen hingewiesen worden.

II.

14

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (1 A 219/14) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.10.2014 ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO zulässig. Dies folgt für die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus §§ 84 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung aus § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. §§ 70 Abs. 1 NVwVG, 64 Abs. 4 Nds. SOG.

15

Der Antrag ist begründet.

16

Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers geht zu Lasten des Antragsgegners aus, weil der Bescheid vom 15.10.2014 nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sich als rechtswidrig erweist und der Antragsteller derzeit einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat. Es besteht deshalb kein öffentliches Vollzugsinteresse an der Abschiebung des Antragstellers.

17

Als Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis kommt hier allein § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Betracht. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 scheidet aus, weil der Antragsteller nicht mindestens ein Jahr ordnungsgemäß beschäftigt im Sinne dieser Vorschrift ist. Die ordnungsgemäße Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur eine vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus. Keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt hat ein türkischer Arbeitnehmer in Beschäftigungszeiten, in denen - wie im vorliegenden Fall - sein Aufenthalt gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend gilt (Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage, 2013, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 35 ff. [40]).

18

Nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG kann abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 eine Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Nach § 8 Abs. 1 AufenthG finden auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung. Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG setzt zunächst voraus, dass der Ausländer im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder - wie im vorliegenden Fall - einer Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 4 AufenthG) - ist (vgl. Nr. 25.4.2.2 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz).

19

Eine außergewöhnliche persönliche Härte setzt eine Sondersituation voraus, aufgrund derer die Aufenthaltsbeendigung den Ausländer nach Art und Schwere des Eingriffs wesentlich härter treffen würde als andere Ausländer, die nach denselben Vorschriften ausreisepflichtig sind. Als außergewöhnliche Härte kann nach den konkreten Umständen des Einzelfalls u.a. die Betreuungsbedürftigkeit eines im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen in Betracht kommen. Dies setzt voraus, dass der Familienangehörige des Ausländers in besonderer Weise auf dessen Pflege angewiesen und dem Ausländer nicht zuzumuten ist, den der Betreuung bedürftigen Angehörigen ohne den erforderlichen Beistand in Deutschland zurückzulassen. Bei der Beurteilung, ob die Beendigung des Aufenthalts eines in Deutschland aufgewachsenen Ausländers eine außergewöhnliche Härte darstellt, ist auch der Schutz des privaten Lebens nach Art. 8 EMRK zu berücksichtigen (Renner/Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 25 AufenthG, Rn. 71 ff.).

20

Nach diesem Maßstab scheidet für den Antragsteller eine außergewöhnliche Härte wegen der Betreuungsbedürftigkeit seiner Eltern aus. Die Eltern des Antragstellers haben laut Auskunft des Antragsgegners nur deshalb eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erhalten, weil sie in Deutschland von ihrer Schwiegertochter betreut werden und ihre Betreuung in der Türkei nicht gewährleistet wäre. Sollte nunmehr tatsächlich der Antragsteller seine Eltern (vorrangig) betreuen, wäre der Verbleib der Eltern in Deutschland nicht mehr notwendig. Sie könnten mit dem Antragsteller in die Türkei ausreisen und dort von ihm versorgt werden. Es bestehen aber auch Zweifel daran, ob der Antragsteller tatsächlich - wie seine Schwägerin AE. AF. in ihrer schriftlichen Erklärung vom 16.06.2014 gegenüber dem Antragsgegner angegeben hat - nunmehr anstelle der Schwägerin seine Eltern betreut. So ist AE. AF. offenbar nach wie vor als Betreuerin für den Vater des Antragstellers bestellt (s. Bl. 423 VV). Der Antragsteller hat auch nicht näher dargelegt, wie sich für ihn die Betreuung seiner Eltern im Einzelnen und mit welchem zeitlichen Aufwand gestaltet und wie er die Betreuung neben seiner ganztägigen Berufstätigkeit gewährleisten kann. Ob er seine Eltern tatsächlich betreut, ist auch deshalb fraglich, weil er sich nach Angaben seiner Bewährungshelferin AG. AH. im Bewährungsbericht vom 22.10.2014 an den Wochenenden hauptsächlich bei seiner Freundin in AI. aufhält.

21

Der Antragsteller kann sich aber erfolgreich auf den Schutz seines Privatlebens nach Art. 8 EMRK berufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und die davon umfassten persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt, nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, wenn er eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellt, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist. Auf den Schutz des Art. 8 EMRK kann sich ein Ausländer nur berufen, wenn er sein Privatleben faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann. Hierbei ist einerseits auf die Integration des Ausländers im Aufenthaltsstaat, andererseits auf die Möglichkeit zur (Re-) Integration im Staat der Staatsangehörigkeit abzustellen. Die bei dieser Prüfung ermittelten konkreten individuellen Lebensverhältnisse und auch Lebensperspektiven des Ausländers sind schließlich im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach den Maßgaben des Art. 8 Abs. 2 EMRK in eine gewichtende Gesamtbewertung einzustellen und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.02.2011 - 2 BvR 1392/10 - und OVG Lüneburg, Beschluss vom 14.01.2015 - 8 ME 136/14 -, jeweils zitiert nach ).

22

Diese Abwägung fällt hier zugunsten des Antragstellers aus. Sein privates Interesse an der Aufrechterhaltung seiner persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bindungen überwiegt das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts im Bundesgebiet.

23

Der 24jährige Antragsteller ist in Deutschland geboren, hier zur Schule gegangen und beherrscht die deutsche Sprache. Sein schulischer Werdegang verlief zwar eher negativ. Er wechselte nach der dritten Grundschulklasse auf eine Schule für Lernhilfe; sein Abgangszeugnis wies eine ungenügende und zwei mangelhafte Noten auf. Auch sein Abgangszeugnis der Berufsbildenden Schule II in I. wies zwei mangelhafte Noten auf. Trotz dieser ungünstigen Ausgangsvoraussetzungen ist er jedoch nachweislich mindestens seit Mitte August 2012 berufstätig und hat seinen Lebensunterhalt selbst gesichert. Er war ab 15.08.2012 bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen in Vollzeit beschäftigt; ab 15.08.2012 bei der U. GmbH (Bl. 329 ff. VV), ab 27.11.2013 bei der AJ. AK. GmbH (Bl. 342 ff. VV) und ab Mai 2014 bei der AL. X. GmbH (Bl. 86 GA). Auch vor dem 15.08.2012 war er - nach seinen Angaben im gerichtlichen Verfahren ein Jahr - bei Q. in I. beschäftigt (Bl. 336 VV). Seine derzeitige Arbeitgeberin, die AL. X. GmbH, hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 19.01.2015 eine sehr positive Bewertung über den Antragsteller abgegeben. Danach ist er äußerst vielseitig einsetzbar. Er habe sowohl als Handwerkshelfer wie auch in der Produktion die Kunden der AL. immer wieder überzeugen können. Er sei wiederholt namentlich angefordert oder ihm seien nach kurzer Zeit Aufgaben übertragen worden, die für Zeitarbeiter nicht selbstverständlich seien. Das Feedback der Kunden der AL. zeige, dass er seine Arbeiten völlig eigenständig, zuverlässig und gewissenhaft erledige. Dabei profitiere er von seinen sehr guten deutschen Sprachkenntnissen. Das persönliche Verhältnis zum Antragsteller sei ebenfalls einwandfrei. Er sei sowohl bei den Kunden der AL. als auch der AL. selbst als zuvorkommender, sehr höflicher und verlässlicher Mensch bekannt. Er sei immer pünktlich, in schwierigen Situationen lösungsorientiert und kompromissbereit. Nach alledem ist der Antragsteller im Bundesgebiet wirtschaftlich integriert. Er ist aber auch in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik eingebunden. Nach seinen unbestrittenen Angaben ist er seit 12 Jahren in zwei Sportvereinen aktiv, insbesondere spielt er sehr intensiv Baseball. Er ist auch persönlich eingebunden. Er hat seit sechs Jahren eine feste Beziehung mit einer deutschen Staatsangehörigen, die in AI. lebt. Seine Lebensgefährtin und er beabsichtigen, zusammenzuziehen.

24

All diese Gesichtspunkte hat der Antragsgegner bei seiner Abwägungsentscheidung nicht ausreichend berücksichtigt. Er hat die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sehr einseitig mit den gegen den Antragsteller geführten Strafverfahren abgelehnt. Nach Aktenlage wurden gegen den Antragsteller von März 2009 bis Anfang Januar 2013 über 20 Ermittlungsverfahren hauptsächlich wegen Eigentumsdelikten, Körperverletzung und geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz geführt. Die Verfahren endeten überwiegend mit einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, z.T. auch mit einer Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO oder es wurde gemäß § 31 a BtMG von einer Verfolgung abgesehen. Soweit der Antragsteller durch Urteil des Amtsgerichts I. vom 08.06.2010 nach Jugendstrafrecht wegen Raubes schuldig gesprochen, aber keine Strafe verhängt wurde (X Ds XX Js XX/XX), ist diese Straftat aus dem Bundeszentralregister bereits wieder gelöscht und darf nicht mehr zu seinen Ungunsten berücksichtigt werden. Das Gleiche muss für die in denselben Zeitraum fallenden Ermittlungsverfahren gelten, die zu keiner Anklage führten. Zu seinen Lasten wirkt sich jedoch aus, dass auch während der vom Amtsgericht I. angeordneten zweijährigen Bewährungszeit weitere Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt wurden (s.o.). Zuletzt wurde er durch Urteil des Amtsgerichts I. vom 07.11.2013 wegen eines im Juni 2012 gemeinschaftlich begangenen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen (25.09.2012 und 06.01.2013) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten verurteilt (X Ls XX Js XX/XX). Aber auch diese negative Entwicklung rechtfertigt gegenüber der ansonsten gelungenen Integration des Antragstellers (noch) nicht seine Aufenthaltsbeendigung in Deutschland. Dies wäre nur dann der Fall, wenn unter Berücksichtigung seines strafrechtlichen Werdegangs, insbesondere seiner letzten Verurteilung, davon auszugehen wäre, dass er auch zukünftig wieder straffällig werden wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.08.2010 - 2 BvR 130/10 -, Rn. 33 ff., zitiert nach ). Der Antragsgegner hat es bereits versäumt, insoweit überhaupt eine Prognose anzustellen. Diese Prognose fällt nach derzeitigem Erkenntnisstand zu Gunsten des Antragstellers aus. Dabei ist positiv zu berücksichtigen, dass seine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die damit verbundene Annahme des Strafgerichts, er werde zukünftig nicht wieder straffällig werden, hat sich bisher bestätigt. Seit seiner rechtskräftigen Verurteilung vom 03.09.2013 wurden - soweit dem Gericht bekannt -bis Ende 2014 keine neuen Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt. Soweit lt. Auskunft der Polizeiinspektion I. /AM. vom 21.01.2015 (Bl. 93 ff. GA) gegen den Antragsteller seit Januar 2015 wegen gefährlicher Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen ermittelt wird, gibt auch dieses Verfahren keinen Grund zu einer anderen Bewertung. Nach dem dem Gericht vorliegenden "Kurzsachverhalt" zu dem genannten Ermittlungsverfahren ist der Antragsteller offenbar verdächtig, am 01.01.2015 aus einer 6köpfigen Personengruppe einen Feuerwerkskörper in Richtung eines Kindes geworfen zu haben. Das Kind sei durch die anschließende Explosion am Oberschenkel verletzt worden. Demnach geht es allenfalls um eine fahrlässige Körperverletzung. Die näheren Tatumstände, insbesondere ob der Antragsteller tatsächlich der Täter ist, sind noch unbekannt. Positiv zugunsten des Antragstellers wirkt sich insbesondere der Bewährungsbericht seiner Bewährungshelferin AG. AH. vom 22.10.2014 aus. Frau AH. betreut den Antragsteller seit Dezember 2013. Nach ihrer Einschätzung hat sich der Antragsteller nach seiner Verurteilung vom 07.11.2013 sehr positiv entwickelt. Die ihm mit Bewährungsbeschluss auferlegte Geldbuße von 800,00 Euro habe er in monatlichen Raten vollständig bezahlt. Auch die Gerichtskosten zahle er ordnungsgemäß in monatlichen Raten ab. Weitere Schulden seien ihr nicht bekannt. Sie habe während ihrer Hausbesuche mit dem Antragsteller dessen Straftaten ausführlich erörtert. Der Antragsteller habe sein Verhalten reflektiert und sich insbesondere nach seiner letzten Verurteilung hiervon distanziert. Sein Hauptaugenmerk richte sich auf seinen zukünftigen, insbesondere seinen beruflichen, Werdegang. Er sei von seiner ganzen Art her in die deutsche Gesellschaft voll integriert. Er sei nach seiner Verurteilung deutlich nachgereift. Sie erlebe ihn als einen verantwortungsvollen jungen Erwachsenen. Sie gehe nicht davon aus, dass er in Zukunft weitere erhebliche Straftaten begehen werde. angels anderweitiger, gegenteiliger Erkenntnisse schließt sich die Kammer dieser positiven Prognose an. Sie weist jedoch darauf hin, dass eine erneute Straffälligkeit des Antragstellers durchaus zu einem anderen Ergebnis bei der Prognoseentscheidung führen kann.

25

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG scheitert nicht an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Danach setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Ein Ausweisungsgrund liegt hier wegen der letzten Straftat des Antragstellers vor (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG), denn hierbei handelt es sich um einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften. Von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist hier jedoch im Rahmen der nach § 5 Abs. 3 Satz 2 zu treffenden Ermessensentscheidung aus den gleichen Gründen abzusehen, die die positive Prognose für den Antragsteller rechtfertigen. Insoweit liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

27

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ - Beilage 2013 Heft 2, 57 ff.). Danach ist bei einem Streit um eine Aufenthaltserlaubnis im Hauptsacheverfahren der Auffangstreitwert von 5.000,00 Euro zugrunde zu legen. Dieser Betrag wird im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des Eilverfahrens halbiert (Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs, a.a.O.).