Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.11.2004, Az.: L 6 U 29/00

Feststellung eines Harnblasenkarzinoms als Berufskrankheit; Begriff der Berufskrankheit; Hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer Berufskrankheit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
18.11.2004
Aktenzeichen
L 6 U 29/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 37503
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2004:1118.L6U29.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 11.11.1999 - AZ: S 22 U 417/97

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. November 1999 und der Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1997 aufgehoben. Die Krebserkrankung der Harnblase des Klägers wird als Berufskrankheit Nr. 1301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung festgestellt. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Verletztenrente vom 1. November 1996 bis 31. Juli 1999 in Höhe von 50 vom Hundert und vom 1. August 1999 bis 31. Juli 2002 in Höhe von 20 vom Hundert der Vollrente zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Harnblasenkarzinoms als Berufskrankheit (BK) Nr. 1301 (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) und Entschädigungsleistungen.

2

Der im September 1923 geborene Kläger hatte im Rahmen seiner Berufsausbildung zum Möbelpolierer (1938 bis 1940) Kontakt mit NC-Lack, Salzbeizen und Patinierbeizen auf Nitrozellulosebasis. Es bestanden keine Schutzvorrichtungen oder Absaugeinrichtungen. Während seiner Tischlerlehre (1940 bis 1941) hat er nur gelegentlich lackiert und war im Übrigen durch Lackierarbeiten von Kollegen exponiert. Nach Kriegsende war er von 1946 bis 1955 in der Möbelfabrik C. beschäftigt und hatte hier Kontakt mit NC-Lack, Schell-Lack sowie Salzbeizen, Patinierfarben (lösemittelhaltige Beizen auf Nitrobasis) und Klarlacken. Danach arbeitete er bis 1959 als Einschaler oder Tischler, bis 1967 war er wiederum bei der Firma C. im Außendienst als Montagearbeiter tätig, wo er nur gelegentlich Farbe nachgerollt hat. Bis 1974 arbeitete er im Kundendienst im Hausbau, anschließend an einem Montageband (1975 bis 1976), danach war er bis 1980 in einem Labor der Firma C. tätig (Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 25. Mai 1994). In den Zeiträumen von 1938 bis 1940 und von 1946 bis 1955 bestand Kontakt mit wässrigen Beizen und Patinierbeizen auf Nitrozellulosebasis. In der Zeit von 1946 bis 1955 war der Kläger gegenüber Azofarbstoffen, d.h. gegenüber aromatischen Aminen exponiert, die Benzidin und 2-Naphtylamin enthielten. Der TAD hielt diese Exposition mangels Durchführung von Spritzlackierarbeiten aber für gering (Stellungnahme vom 19. März 1997). Seit 1. März 1980 bezog der Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, seit 1. Oktober 1988 bezieht er Altersrente.

3

1990 wurde dem Kläger eine Y-Prothese wegen einer fortgeschrittenen arteriellen Verschlusskrankheit der Beine implantiert (Bericht des Dr. D. vom 20. Januar 1994). Im Februar 1994 erstattete Dr. D. die BK-Anzeige wegen einer Asbestose des Klägers und teilte in seinem Entlassungsbericht vom 20. Januar 1994 eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung nach Nikotin-abusus mit. Mit Bescheid vom 25. Oktober 1994 hat die Beklagte bei dem Kläger eine Asbestose als BK Nr. 4103 der Anlage zur BKV anerkannt, eine Verletztenrente wird mangels einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht gezahlt. Das Klageverfahren - S 13 U 201/95 - wie auch das Berufungsverfahren - L 6 U 32/98 - blieben erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts - SG - Hannover vom 12. Dezember 1997; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 24. August 1999). In dem auf Veranlassung der Beklagten erstatteten Gutachten der Dres. E. vom 31. Juli 1996 führten die Gutachter u.a. die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung des Klägers auf das langjährige inhalative Zigarettenrauchen zurück.

4

Im Oktober 1996 wurde bei dem Kläger ein Harnblasenkarzinom diagnostiziert, das im November 1996 operiert wurde (Entlassungsbericht des Kreiskrankenhauses F. vom 25. November 1996). Im Klageverfahren auf Zahlung von Verletztenrente wegen der BK Nr. 4103 stellte der Kläger am 6. Februar 1997 auch den Antrag, sein Harnblasenkarzinom als BK Nr. 1301 der Anlage zur BKV anzuerkennen. Er führte die Erkrankung auf den Umgang mit DT-Lacken, Nitrolacken, Polyesterlacken und Nitroverdünnung zurück.

5

Der Kläger hat das Rauchen im Zusammenhang mit seiner arteriellen Verschlusskrankheit 1990 aufgegeben. Zu seinen Rauchgewohnheiten bis dahin machte er im Verlauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben. Unter anderem gab er im Gespräch mit einem Mitarbeiter der Beklagten am 10. März 1994 an, während seiner Montagetätigkeiten 60 bis 80 Stück pro Tag, zuletzt in der Fabrik 4 bis 5 Zigaretten täglich geraucht zu haben (Vermerk vom 15. März 1994). Im Klageverfahren erklärte er, dass diese Angabe aufgrund seines euphorischen Zustandes viel zu hoch gewesen seien. Tatsächlich habe er damals zwischen 10 und 20 Zigaretten täglich über einem Zeitraum von einem Jahr geraucht. Wegen seiner Herzbeschwerden habe er die Menge dann reduziert und nur noch 3 bis 5 Zigaretten täglich geraucht (Schriftsatz vom 18. Juli 1998).

6

Im August 1980 hatte der Kläger gegenüber dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie G., seinem Hausarzt H., gegenüber dem Gutachter Dr. I. wie auch im Reha-Verfahren in der Kurklinik J. im November 1979 angegeben, 6 - 8 Zigaretten pro Tag zu rauchen (Bericht vom 28. August 1980, Bl 7 der Schweb-Akte, Bericht vom 8. März 1980, Gutachten vom 2. Juni 1980, Entlassungsbericht vom 20. November 1979).

7

Auf Veranlassung der Beklagten erstatteten Prof. Dr. K., Zentrum für Arbeits- und Umweltmedizin am Evangelischen Krankenhaus L. ihr Gutachten nach Aktenlage vom 6. Juni 1997. Unter Darstellung der Studien zum Blasenkarzinom führten sie aus, dass es sich um ein relativ seltenes Krankheitsbild handele, allerdings in 20% der Fälle von einem Zusammenhang mit einer Schadstoffexposition ausgegangen werden müsse. Das Zusammenwirken der verschiedenen Stoffe sei dabei weitgehend unbekannt, auch der Einfluss nichtberuflicher Noxen wie z.B. das Rauchen sei zu berücksichtigen. Es sei für die meisten Stoffe relativ schwierig, konkrete Dosis-Wirkungs-Beziehungen festzustellen. In der Studie von Partanen et al. (1991) fanden sich summarisch ein relativ erhöhtes Risiko urothelialer Karzinome in der Druckindustrie, in der chemischen Industrie, im metallverarbeitenden Gewerbe und im Bereich der Post, Telefon und Telegrafie. Unumstritten sei dagegen, dass ein erhöhtes Risiko für starke Raucher vor allem ab 40 Pack-Years bestehe. Bei längerer Exposition gegenüber Benzidin und beta-Naphtylamin (= 2-Naphtylamin) sei das Karzinomrisiko deutlich erhöht. Die mittleren Latenzzeiten - Zeitraum zwischen der ersten Exposition und dem Auftreten des Tumors - würden mit ca. 23 bis 40 Jahren angegeben. Vorliegend sei die Auswirkung der Schadstoffexposition nur eingeschränkt abschätzbar. Aufgrund des Arbeitsvorganges sei davon auszugehen, dass nur minimale Mengen in den Organismus gelangt seien. Allerdings sei eine unschädliche Untergrenze der Exposition gegenüber Karzinogenen nicht bekannt. Es bestehe beim Kläger aber auch ein nicht unerhebliches außerberufliches Karzinomrisiko. Unter der Annahme von durchschnittlich 1 Pack-Year für die Zeit von 1946 bis 1959, weiteren 3 bis 4 Pack-Years für die Montage- und Außendiensttätigkeit 1959 bis 1967 sowie 3 Pack-Years für die Außendiensttätigkeit 1967 bis 1974 und zuletzt ¼ Pack-Year für die Jahre 1975 bis 1990 ergebe sich eine Gesamtsumme von 55 - 63 Pack-Years bei insgesamt eher vorsichtiger Rechnung. Damit komme bei einem kritischen Vergleich den außerberuflichen Risiken der weit überwiegende, wenn nicht gar der gesamte Anteil der Krebsverursachung zu, auch wenn es unmöglich sei, die schadstoffbedingte Verursachung mit letzter Sicherheit auszuschließen. Bei der Gewichtung der Teilursachen sei es jedoch nicht möglich, die erforderliche hinreichende Wahrscheinlichkeit für die berufsbedingte Ursache auch nur annähernd zu erreichen.

8

Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Juli 1997 die Anerkennung der BK Nr. 1301 ab. Im Widerspruchsverfahren gab der Kläger an, dass im August 1997 ein Rezidiv in der Blase festgestellt worden sei. Er legte den Arztbrief seiner Hausärztin Dr. M. vom 1. Dezember 1997 vor. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1997 zurückgewiesen.

9

Hiergegen hat der Kläger am 22. Dezember 1997 Klage erhoben. Er hat vorgetragen, er sei insbesondere in den Jahren 1946 bis 1955 ganz erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen und habe ohne Maske und Schutzeinrichtung gearbeitet. Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass bis 1971 in zahlreichen Azofarb-stoffen, die zur Färbung von Holzbeizen, Klarlacken und Lasuren verwendet worden seien, aromatische Amine enthalten gewesen seien. Nach 1971 seien von deutschen Herstellern keine Azofarbstoffe mehr vertrieben worden. Den vom Kläger genannten DD-Lack gebe es erst seit Anfang der 70iger Jahre und er enthalte keine aromatischen Amine. Nach der Stellungnahme des TAD habe der Kläger lediglich bis 1955 Kontakt zu aromatischen Aminen gehabt. Der Kläger hat Auszüge aus einem Lexikon der Anstrichtechnik vorgelegt. Die Beklagte hat die Sicherheitsdatenblätter, Stellungnahmen des TAD vom 10. Dezember 1998 sowie vom 14. April 1999 und das Urteil des LSG Niedersachsen vom 10. Dezember 1996 - L 3 U 31/92, - überreicht. Das SG hat eine Auskunft des Dr. N. vom 9. September 1998 eingeholt. Mit Urteil vom 11. November 1999 hat das SG Hannover die Klage abgewiesen. Bei dem Kläger bestehe zwar das für die Anerkennung der BK Nr. 1301 erforderliche Krankheitsbild wie auch eine entsprechende - wenn auch nur geringe - Exposition gegenüber aromatischen Aminen. Nach den überzeugenden Ausführungen der Gutachter Prof. Dr. O. setze bei Krebserkrankungen eine Beurteilung des Kausalzusammenhangs mit der beruflichen Exposition eine Abwägung zwischen dieser mit nichtberuflichen Risikofaktoren voraus. Zwar seien auch geringe Mengen krebserzeugender Stoffe in der Lage, eine entsprechende Erkrankung zu verursachen. Außer bei einer hochgradigen bzw. extremen beruflichen Exposition gegenüber aromatischen Aminen sei ein Ursachenzusammenhang mit dieser aber nur dann als erwiesen anzusehen, wenn außerhalb des Berufslebens keine wesentlichen Risikofaktoren bestünden. Dieser sei bei dem Kläger aber in Form des langjährigen, erheblichen Nikotinabusus gegeben. Der genaue Umfang des Nikotinkonsums des Klägers lasse sich nicht feststellen, da er unterschiedliche Angaben hierzu gemacht habe. Die vom Kläger hierzu angegebene Begründung überzeuge die Kammer jedoch nicht, es sei nicht nachvollziehbar, warum eine euphorische Stimmung dazu verleiten solle, falsche - und im Ergebnis für ihn negative - Angaben gegenüber der Beklagten zu machen. Bei Berücksichtigung der Angaben des Klägers in Bad J. im Jahre 1979 sei von täglich 8 bis 9 Zigaretten auszugehen. Danach ergebe sich eine Nikotinbelastung von 1946 bis 1990 für einen Zeitraum von 40 Jahren, wobei die Zeit bis 1946 noch unberücksichtigt geblieben sei. Da nach dem beruflichen Lebensweg des Klägers eine berufliche Exposition gegenüber aromatischen Aminen lediglich in der Zeit von 1946 bis 1955, und dann auch nur in geringem Umfang, nachgewiesen sei, überwiege demgegenüber die erhebliche nichtberufliche Exposition gegenüber Nikotin.

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Gegen das ihm am 23. Dezember 1999 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20. Januar 2000 Berufung eingelegt. Der Kläger hat ein Schreiben der Dr. M. vom 1. Dezember 1997 sowie einen Aufsatz von Keller, SGb 2002 vorgelegt. Er trägt vor, dass nach der Einschätzung der ihn beratenden Ärztin Dr. M. die berufliche Exposition von aromatischen Aminen durch den Spritznebel innerhalb eines Zeitraumes von 10 Jahren durchaus geeignet sei, eine Neubildung der Harnblase zumindest als wesentliche Teilursache zu fördern. Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 11. November 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1997 aufzuheben,

  2. 2.

    die Krebserkrankung der Harnblase als Berufskrankheit der Nr. 1301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung festzustellen,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente vom 1. November 1996 bis 31. Juli 1999 in Höhe von 50 v.H. und vom 1. August 1999 bis 31. Juli 2002 in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 11. November 1999 zurückzuweisen.

12

Die Beklagte hat die Stellungnahmen ihrer beratenden Ärzte Dr. P. vom 29. Oktober 2002, des Arbeitsmediziners Dr. Q. vom 4. November 2002 und 16. Januar 2004, sowie des Dr. rer.nat. R. vom 10. Oktober 2002 überreicht. Sie hält das vom Senat im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten des PD Dr. S. für oberflächlich und nicht überzeugend. Er setze sich nicht mit der geringen beruflichen Exposition in einem Zeitraum von 9 Jahren und dem dieser gegenüberstehenden Nikotinkonsum über einen Zeitraum von 40 Jahren auseinander. Zudem spiele nach der von PD Dr. S. zitierten Studie von Brennan et al. für das Blasenkrebsrisiko die Dauer des Nikotinkonsums und weniger die Menge der pro Tag gerauchten Zigaretten eine Rolle. Danach seien die unterschiedlichen Angaben des Klägers zum Umfang der von ihm täglich gerauchten Zigaretten außer Acht zu lassen. Entscheidend sei vielmehr, dass er über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren geraucht habe. Bei über 40 bis 44 Jahre rauchenden Männern ergebe sich ein hohes Blasenkrebsrisiko von OR (odds ratio) von 4,68. Bei einer Beendigung des Rauchens seit 5 bis 9 Jahren sinke die OR um 0, 87. Die Studie von Brennan et al. belege im Vergleich zu Nichtrauchern ein mindestens drei- bis vierfach erhöhtes Blasenkrebsrisiko für Raucher, die mehr als 40 Jahre lang Zigaretten konsumiert haben, und zwar auch dann, wenn sie 5 bis 9 Jahre vor der Feststellung des Blasentumors das Rauchen aufgegeben haben. Demgegenüber überwiege das berufliche Risiko das außerberufliche, durch den Nikotinkonsum hervorgerufene Risiko nicht so stark, dass das außerberufliche Risiko außer Betracht bleiben könne. Nach Dr. Q. dürfte das berufliche Risiko dem außerberuflichen Risiko allenfalls entsprechen, weshalb die hinreichende Wahrscheinlichkeit zu verneinen sei. Es gebe keine Erkenntnisse über synergetische Effekte, die das Zusammenwirken beider Einflüsse als Ursache wahrscheinlich machten.

13

Der Senat hat die Schwerbehinderten-Akten beigezogen und das Gutachten des Arztes für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin PD Dr. S., Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität T., vom 26. August 2002 nebst dessen ergänzender Stellungnahme vom 25. September 2003 eingeholt.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Gerichtsakten dieses und des Verfahrens zur BK Nr. 4103 (S 13 U 201/95) und die Verwaltungsakte des Versorgungsamtes Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet. Das Harnblasenkarzinom des Klägers ist Folge der BK Nr. 1301 der Anlage zur BKV. Deshalb hat der Kläger Anspruch auf Verletztenrente nach den auf diesen Sachverhalt noch anwendbaren §§ 551, 581 Reichsversicherungsordnung (RVO, vgl. Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII). Das Urteil des SG Hannover und der Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1997 waren daher aufzuheben.

16

BKen sind diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung - in der BKV - als solche bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Dabei ist die Bundesregierung ermächtigt, in der BKV solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann BKen sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht worden sind (§ 551 Abs. 1 Satz 3 RVO).

17

Nach der BK Nr. 1301 der BKV sind Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine als BK festzustellen. Bei dem Kläger liegt diese BK vor. Der Kläger erfüllt die medizinischen und arbeitstechnischen Voraussetzungen dieser BK. Er ist seit November 1996 an einem Harnblasenkarzinom Typ G1 pT1 erkrankt. Diese Gesundheitsstörung wird von der BK Nr. 1301 der Anlage zur BKV erfasst, wovon auch die Beteiligten zutreffend ausgehen. Des Weiteren hat der Kläger über einen Zeitraum von insgesamt 12 Jahren - von 1938 bis 1940 und erneut von 1946 bis 1955 - im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit unter der Einwirkung von wässrigen Beizen und Azofarbstoffen gearbeitet. Beide Werkstoffe haben nach den Ermittlungen des TAD der Beklagten zur damaligen Zeit aromatische Amine enthalten, so dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz sowohl über die Haut wie auch über die Atemwege Kontakt zu diesen Stoffen hatte. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist unter Berücksichtigung des Gutachtens und der ergänzenden Stellungnahme des PD Dr. S. und der Stellungnahme des Dr. Q. auch mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass die Krebserkrankung des Klägers durch die berufliche Einwirkung der aromatischen Amine wesentlich mitverursacht worden ist.

18

Die hinreichende Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass nach der geltenden ärztlichen-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Beim vernünftigen Abwägen aller Umstände müssen die auf eine bk-bedingte Verursachung hinweisenden Faktoren so stark überwiegen, dass hierauf die Entscheidung gestützt werden kann (BSG Urteil vom 2. Februar 1978, - 8 RU 66/77 in BSGE 45, 285 ff; vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 119 m.w.N.w.). Nicht ausreichend ist die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs.

19

Es ist bereits seit Jahrzehnten bekannt, dass aromatische Amine geeignet sind, Neubildungen der Harnwege zu verursachen, weshalb diese Erkrankungen seit 1936 als BKen anerkannt sind (Thomann, ASUmed 34 (1999), S. 36). Nach den Ausführungen der Prof Dr. U. und des PD Dr. S. ist keine schädliche Untergrenze für diese Arbeitsstoffe bekannt. Auch in dem zu dieser BK herausgegebenen Merkblatt werden keine Grenzen genannt, unterhalb deren keine kanzerogene Wirkung der aromatischen Amine zu erwarten ist. Zudem hat der Kläger 12 Jahre unter der Einwirkung von Benzidin und 2-Naphthylamin gearbeitet (Gutachten PD Dr. S., Stellungnahme des Dr. Q.), die zu den am stärksten krebserregenden Substanzen zählen und deshalb als K 1 eingestuft sind (Thomann, ASUmed 34, (1999), S. 36; Myslak/Bolt, Zbl Arbeitsmed 38 (1988) 310, 311; vgl. hierzu auch das zu dieser BK Nr. 1301 herausgegebene Merkblatt, abgedruckt bei Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, Stand November 2002, § 9 Anh IV, 1301 Abschnitt I sowie erg. Erläuterungen S. 232 - 2.).

20

Weiterhin steht der Zeitraum von 40 Jahren zwischen dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger zuletzt unter dem Einfluss der aromatischen Aminen gearbeitet hat (1955) und dem Auftreten der Krebserkrankung (November 1996) nach der übereinstimmenden Einschätzung aller gehörten Gutachter und Sachverständigen - Prof Dr. U., PD Dr. S. und Dr. Q. - in Einklang mit den medizinischen Erkenntnissen, nach denen bei aromatischen Aminen eine derart lange Latenzzeit bekannt ist.

21

Entgegen der Auffassung der Beklagten stellt der lange Nikotinkonsum des Klägers nicht die rechtlich alleinige wesentliche Ursache für die Entstehung des Harnblasenkarzinoms dar.

22

Der Beklagten ist zwar darin zuzustimmen, dass das Rauchen mit als ein wesentlicher Faktor für die Entstehung des Harnblasenkrebses bekannt ist (so Gutachten Prof Dr. U., PD Dr. S., Stellungnahme des Dr. Q.; Myslak/Bolt, Zbl Arbeitsmed 38 (1988) S. 310; Prof Dr. Drings, Nachrichtenblatt LVA Baden 5/96, S. 262). Das ist vor dem Hintergrund, dass in Zigaretten u.a. aromatische Amine - hier auch 2-Naphthylamin - enthalten sind (vgl Drings, a.a.O.) auch plausibel. Weiterhin ist bekannt, dass sich das Risiko, durch Zigarettenrauchen an Krebs zu erkranken, mit der Zahl der täglich gerauchten Zigaretten, einem frühen Beginn des Rauchens und der Zahl der Raucherjahre (pack years) erhöht (Gutachten des Prof Dr. U., des PD Dr. S., Drings a.a.O.).

23

Weiterhin geht auch der Senat davon aus, dass der Kläger zumindest seit 1945 bis 1990 in einem zeitweise nicht unerheblichen Umfang - mindestens 6 bis 8 Zigaretten täglich, während der Montagetätigkeit (1957 bis 1967 bzw. 1974) sogar 60 bis 80 Zigaretten täglich - geraucht hat. Auch der Senat hält insoweit die zeitnahen Angaben des Klägers zu seinen Rauchgewohnheiten aus den Jahren 1979/1980 und 1986 für zutreffender als die, die mit großem zeitlichen Abstand zum Zeitpunkt der Einstellung des Nikotinkonsums erfolgt sind. Letztendlich kann aber dahingestellt bleiben, wie hoch der Zigarettenkonsum des Klägers in diesem Zeitraum von 45 Jahren im Einzelnen tatsächlich gewesen ist. Denn in jedem Fall hat sich das Risiko, durch das Rauchen an Harnblasenkrebs zu erkranken, über den vom Kläger angegebenen Zeitraum von 45 Raucher-Jahren gegenüber Nichtrauchern erheblich erhöht (vgl Gutachten Prof Dr. U., des PD Dr. S.; Stellungnahme Dr. Q., Brennan u.a. Int. J. Cancer 86 (2000), S. 289 ff (292) (vgl die von PD Dr. S. überreichte Publikation). Unter Berücksichtigung des Zeitraumes von 6 Jahren zwischen der Einstellung der Rauchgewohnheiten des Klägers (1990) und der Diagnose der Krebserkrankung (1996), die nach übereinstimmender Einschätzung von PD Dr. S. und Dr. Q. zu einer Reduzierung des Erkrankungsrisikos durch Rauchen führt, liegt das Chancenverhältnis, durch Rauchen an einem Harnblasenkarzinom zu erkranken, beim Kläger zwischen 3 bis 4 OR( Odds Ratio).

24

Hieraus lässt sich - entgegen der Auffassung der Beklagten - allerdings nicht der Schluss ziehen, dass das Rauchen die rechtlich allein wesentliche Ursache für die Entstehung des Harnblasenkrebses beim Kläger ist. Vielmehr kommt der beruflichen Einwirkung der aromatischen Aminen eine mindestens gleichwertige Bedeutung zu. Deshalb sind beide Noxen als gleichwertig mitwirkende wesentliche Teilursachen der Krebserkrankung des Klägers zu werten mit der Folge, dass diese als Folge der BK Nr. 1301 festzustellen ist. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme des PD Dr. S. und der Stellungnahme des Dr. Q ... Sowohl PD Dr. S. wie auch Dr. Q. haben anhand von einschlägigen Studien übereinstimmend darauf hingewiesen, dass sich beide Risiken - beruflicher Einfluss von aromatischen Aminen und Rauchen - nicht grundlegend unterscheiden. Insoweit haben die Ermittlungen des Senats und der Beklagten im Berufungsverfahren eine stärkere als der noch im Verwaltungs- und erstinstanzlichen Verfahren angenommenen Bedeutung der beruflichen Exposition ergeben. Auch Dr. Q., der beratende Arzt der Beklagten, zieht sowohl die berufliche Exposition gegenüber Azo-Farbstoffen wie auch das Zigarettenrauchen des Klägers als gleichwertige Ursache für die Harnblasenkrebserkrankung heran. Er schätzt das Chancenverhältnis aufgrund der beruflichen Exposition auf 2 bis 3 OR und kommt deshalb zu einem erheblich, d.h. um mehr als den Faktor 2 erhöhten Risiko gegenüber Versicherten ohne beruflichen Kontakt zu aromatischen Aminen. Weiterhin kann nach seiner Einschätzung weder dem Rauchen noch der beruflichen Exposition die Verursachung der Erkrankung allein zugeordnet werden. Angesichts dessen vermochte der Senat die Einschätzung der Beklagten nicht zu teilen, dass den Rauchgewohnheiten des Klägers eine überragende Bedeutung gegenüber der beruflichen Exposition durch aromatische Amine zukommt (vgl hierzu BSG Urteil vom 28. Juni 1991, - 2 RU 59/90- in Meso B 70/153).

25

Auch die Schlussfolgerung der Beklagten, eine BK könne nur dann mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, wenn das berufliche das außerberufliche Risiko stark überwiege, so dass das außerberufliche Risiko außer Betracht bleiben könne, trifft nicht zu (BSGE 22, 200). Entgegen der Auffassung der Beklagten kann eine wahrscheinlich wesentlich (mit)berufliche Verursachung der Krebserkrankung des Klägers im Gegensatz zu klinisch-deskriptiven BKen (z.B. Silikose, Lärm- und Hauterkrankungen) nur anhand epidemiologischer, medizinstatistischer Erkenntnisse festgestellt werden (s. hierzu näher Francks, Zbl Arbeitsmed 2003, 40, 43 f.). Ist wie in diesem Rechtsstreit durch einschlägige Studien ein erhebliches, d.h. ein um mehr als den Faktor 2 erhöhtes Erkrankungsrisiko aufgrund einer beruflichen Exposition gesichert, kann im Einzelfall eine wesentlich berufliche (Mit)Verursachung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden (vgl. Bolm-Audorff, MedSach 1993, 57, 58; Gordis, Epidemiologie, Dt Erstausgabe Marburg 2001 der 2000 in den USA erschienenen Originalausgabe, S 341). Das gilt jedenfalls dann, wenn sich - wie hier - berufliches und außerberufliches Erkrankungsrisiko nicht wesentlich unterscheiden.

26

Hinsichtlich der Höhe der MdE hat sich der Senat der Beurteilung des PD Dr. S. angeschlossen, der für den Zeitraum von der Diagnosestellung bis zum Auftreten des Rezidivs im August 1997 und die daran anschließenden ersten zwei Jahre eine MdE von 50 v.H. und für weitere 3 Jahre bis Juli 2002 eine MdE von 20 v.H. vorgeschlagen hat. Diese Einschätzung steht in Übereinstimmung mit den vom Senat zu berücksichtigenden allgemeinen medizinischen Erfahrungsgrundsätzen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 1206) und wird auch von der Beklagten als zutreffend erachtet (Schriftsatz vom 21. Januar 2004).

27

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen ( § 160 Abs. 2 SGG).