Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 03.11.2011, Az.: S 5 SO 97/11

Zu Leistungen der Eingliederungshilfe gehören gem. § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten; Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten als Leistungen der Eingliederungshilfe gem. § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX; Begriff der "notwendigen Sozialleistungen" i.S.v. § 4 Abs. 1 SGB IX

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
03.11.2011
Aktenzeichen
S 5 SO 97/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 32171
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2011:1103.S5SO97.11.0A

Tenor:

  1. 1)

    Der Bescheid vom 16.3.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.5.2011 wird abgeändert.

  2. 2)

    Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die ambulante Betreuung des Klägers einschließlich der indirekten Leistungen im Zeitraum April 2011 bis März 2012 im Umfang von bis zu 3 Stunden pro Woche und in Höhe von 40,48 EUR pro Stunde zu übernehmen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  3. 3)

    Die Beklagte hat dem Kläger 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für seine ambulante Betreuung im Zeitraum April 2011 bis März 2012 als Leistung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

2

Der im Jahre 1962 geborene Kläger leidet an einer geistigen Behinderung. Er arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und lebt in einer eigenen Wohnung, in der er seit Jahren durch die J. (K.) ambulant betreut wird. Die dadurch entstehenden Kosten trägt die Beklagte.

3

Der Kläger stellte am 25.1.2011 einen Antrag auf Übernahm der Kosten für die ambulante Betreuung für den Zeitraum ab April 2011. Am 11.3.2011 reichte er zusätzlich die Bedarfsfeststellung der K. vom 18.2.2011 ein, nach der ein Hilfebedarf im Umfang von 3,4 Stunden pro Woche bestehe.

4

Die Beklagte erkannte die Kosten für die ambulante Betreuung des Klägers mit Bescheid vom 16.3.2011 im Umfang von einer Fachleistungsstunde pro Woche und einer Stunde für einfache Verrichtungen an. Der Kläger habe aufgrund seiner Behinderung einen Bedarf im Umfang von zwei Stunden pro Woche, wobei lediglich eine Fachleistungsstunde erforderlich sei. Der Hilfebedarf im Bereich der alltäglichen Lebensführung im Umfang von einer Stunde pro Woche könne durch eine Haushaltshilfe gedeckt werden. Darüber hinaus sei eine Fachleistungsstunde erforderlich, um den Kläger zu motivieren und anzuleiten, am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und entsprechende Kommunikation und Orientierung zu üben. Der weitergehende Bedarf könne durch den sozialen Dienst der WfbM und die rechtliche Betreuerin gedeckt werden.

5

Der Kläger legte gegen den Bescheid mit Schreiben vom 8.4.2011 Widerspruch ein. Diesen begründet er zunächst damit, dass der Bedarf nicht fachgerecht festgestellt worden sei. Dieser belaufe sich auf 3,4 Fachleistungsstunden pro Woche, was sich aus der Bedarfsfeststellung der K. ergebe.

6

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 18.5.2011 zurück. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine weitergehende Kostenübernahme, da sein Bedarf durch die Bewilligung gedeckt werde. Der Bedarf sei fachgerecht festgestellt worden.

7

Der Kläger hat am 28.5.2011 Klage erhoben. Diese begründet er damit, dass er einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für 3,4 Fachleistungsstunden habe. Es bestehe ein Bedarf in diesem Umfang, die Feststellungen der Beklagten seien nicht zutreffend. Die Beklagte müsse die Kosten für Fachleistungsstunden übernehmen, da eine Haushaltshilfe keine Eingliederungshilfeleistungen erbringen könne. Der Bedarf werde auch nicht durch die Betreuerin, die WfbM oder die Krankenkasse gedeckt.

8

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 16.3.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.5.2011 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen die Kosten für die ambulante Betreuung des Klägers einschließlich der indirekten Leistungen im Zeitraum April 2011 bis März 2012 im Umfang von bis zu 3,4 Stunden pro Woche und in Höhe von 40,48 EUR pro Stunde zu übernehmen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die sie für rechtmäßig hält. Der Kläger habe keinen weitergehenden Anspruch auf Übernahme der Kosten für seine ambulante Betreuung. Ein solcher ergebe sich insbesondere nicht aus dem gerichtlichen Gutachten vom 7.9.2011. Die Beweiserhebung sei nicht zulässig, da der Beklagten ein Beurteilungsspielraum zustehe, der gerichtlich nicht überprüfbar sei. Darüber hinaus liege ein Verfahrensfehler vor, da der Gutachter nicht gestattet habe, dass ein Vertreter der Beklagten bei der Beweiserhebung anwesend sei. Weiterhin sei das Gutachten auch inhaltlich fehlerhaft, da der Gutachter Zeiten berücksichtigt habe, die nicht durch die ambulante Betreuung abzudecken seien. Ziehe man diese Zeiten von den Feststellungen des Gutachters ab, verbleibe ein Hilfebedarf von knapp zwei Stunden, der sich mit den Ermittlungen der Beklagten decke. Im Umfang von einer Stunde könne der Bedarf durch eine Haushaltshilfe gedeckt werden, so dass ein Anspruch auf eine Fachleistungsstunde bestehe. Diese sei dem Kläger bewilligt worden.

11

Das Gericht hat die K. L. mit Beschluss vom 14.7.2011 gem. § 75 Abs. 2 SGG zum Verfahren beigeladen. Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie hält das gerichtliche Gutachten grundsätzlich für zutreffend, der Sachverständige habe jedoch bestimmte Zeiten nicht berücksichtigt, so dass sich insgesamt ein höherer Hilfebedarf ergebe.

12

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. M. vom 7.9.2011. Auf den Inhalt des Gutachtens wird Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

14

Die Klage ist zulässig und überwiegend auch begründet.

15

Der Bescheid vom 16.3.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.5.2011 erweist sich als rechtswidrig, denn der Kläger hat im Zeitraum April 2011 bis März 2012 einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die ambulante Betreuung einschließlich der indirekten Leistungen im Umfang von bis zu 3 Stunden pro Woche und in Höhe von 40,48 EUR pro Stunde. Soweit der Kläger einen weitergehenden Anspruch geltend macht, ist die Klage unbegründet.

16

Der Anspruch des Klägers beruht auf § 53 Abs. 1 SGB XII. Nach dieser Vorschrift erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach Abs. 3 der Vorschrift ist es die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen, denn es liegt eine wesentliche Behinderung vor. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M. besteht bei dem Kläger eine geistige Behinderung.

17

Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehören gem. § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten. Der Kläger hat einen Anspruch auf solche Hilfen, da er aufgrund seiner Behinderung auf eine ambulante Betreuung angewiesen ist. Der Anspruch wird jedoch gem. § 4 Abs. 1 SGB IX begrenzt auf die notwendigen Sozialleistungen. Maßgeblich für den Umfang des Anspruchs ist also der tatsächliche Bedarf des Klägers.

18

Bei den "notwendigen Sozialleistungen" i.S.v. § 4 Abs. 1 SGB IX handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Die Beklagte beruft sich zu Unrecht auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Kinder- und Jugendhilfe, die den Jugendämtern einen Beurteilungsspielraum zubilligt. Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handele es sich um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebe, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalte, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein müsse; die verwaltungsgerichtliche Überprüfung habe sich dabei darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden seien, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden seien (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.1999 - 5 C 24/98; dem folgend Bayerischer VGH, Urteil vom 23.6.2005 - 12 CE 05.1128; Hessischer VGH, Urteil vom 8.9.2005 - 10 UE 1647/04; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4.7.2006 - 2 O 20/06; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.7.2008 - 12 E 1047/07; offen gelassen von OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.6.2008 - 4 ME 184/08). Das Vorliegen eines unbestimmten Rechtsbegriffs genügt nach Auffassung der Kammer indes nicht, um von einem Beurteilungsspielraum auszugehen. Zwar können unbestimmte Rechtsbegriffe unter Umständen wegen hoher Komplexität oder besonderer Dynamik der geregelten Materie so vage und ihre Konkretisierung im Nachvollzug der Verwaltungsentscheidung so schwierig sein, dass die gerichtliche Kontrolle an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat angedeutet, dass der rechtsanwendenden Behörde in solchen Fällen ohne Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze ein begrenzter Entscheidungsfreiraum zuzubilligen sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.4.1991 - 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34, 50; Beschluss vom 6.3.1980 - 1 BvR 967/78, 1 BvR 973/78, 1 BvR 627/78, 1 BvR 737/78, BVerfGE 54, 173 , 197 ). Nach der normativen Ermächtigungslehre ist dafür jedoch Voraussetzung, dass sich durch Auslegung der Vorschrift ein derartiger Spielraum der Verwaltung ermitteln lässt (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 27/09 R zu § 22 SGB II). Es spricht indes nichts dafür, dass der Gesetzgeber durch den Begriff der "notwendigen Sozialleistungen" in § 4 Abs. 1 SGB IX der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum einräumen wollte. Ein solcher besteht somit nicht.

19

Das Gericht hat daher eigene Ermittlungen angestellt, indem es das Gutachten des Sachverständigen Dr. M. von 7.9.2011 eingeholt hat. Die Beweiserhebung leidet nicht an einem Verfahrensfehler, denn die Beklagte hatte kein Recht, bei der Untersuchung des Klägers anwesend zu sein. Nach § 202 SGG i.V.m. § 357 Abs. 1 ZPO ist den Parteien grundsätzlich gestattet, der Beweisaufnahme beizuwohnen. Dies gilt jedoch nicht für ärztliche Untersuchungen, da unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts der Würde des Menschen (Art. 1 GG) insoweit kein Recht auf Parteiöffentlichkeit besteht (vgl. OLG München, Beschluss vom 8.8.1990 - 1 W 1996/90; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 23.2.2006 - L 4 B 33/06 SB). Das Gericht hat in der Beweisanordnung vom 8.8.2011 eine ärztliche Untersuchung veranlasst, so dass die Beklagte kein Recht auf Teilnahme an der Beweiserhebung hatte. Demgegenüber war die Anwesenheit der rechtlichen Betreuerin und der Mitarbeiter der Beigeladenen notwendig, da der Kläger aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht auf alle Frage adäquat antworten kann. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten darauf hingewiesen, dass keine Beeinflussung des Gesprächs stattgefunden habe. Die Anwesenden hätten nur nach Aufforderung Angaben im Sinne einer fremdanamnestischen Erhebung gemacht. Bestimmte Fragen seien ausschließlich von dem Kläger beantwortet worden. Die Rechte der Beklagten sind dadurch gewahrt worden, dass diese nach der Übersendung des Gutachtens sowohl schriftlich als auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 3.11.2011 ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu äußern.

20

Der Kläger hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für seine ambulante Betreuung im Umfang von 3 Stunden pro Woche. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M. leidet der Kläger an einer geistigen Behinderung, deren Ausmaß sich ohne weitere Untersuchungen nicht eindeutig feststellen lässt. Jedenfalls könne der Kläger nicht lesen und schreiben. Das Sprachverständnis sei für einfache und klare Sprache (kurze Sätze) ausreichend, für komplexere Fragestellungen oder Zahlen sowie Zeiträume unzureichend. Aufgrund der Behinderung bestehe ein Betreuungsbedarf für sämtliche Angelegenheiten mit Zahlen, Terminierungen oder Geld. Hierbei sei es gewollt, dass der Kläger mit kleineren Beträgen selbständig umgehe, ein Betreuungsbedarf bestehe jedoch auch insoweit. Darüber hinaus bestehe ein Betreuungsbedarf sowohl bei Besuchen der behandelnden Nervenfachärztin aufgrund eventueller Therapieänderungen oder Medikationswechsel als auch bei Besuchen des Zahnarztes, da der Kläger hiervor Angst habe. Zeitweise bestehe ein Reflexions- und Erklärungsbedarf nach aufgetretenen Konfliktsituationen. Aufgrund der mangelnden Kognition benötigte der Kläger Hilfe bei der Auswahl der Nahrungsmittel, dies insbesondere angesichts des massiven Übergewichts.

21

Im Einzelnen ergebe sich ein Hilfebedarf im Bereich der alltäglichen Lebensführung bei der Planung und Durchführung von Einkäufen. Grund hierfür seien der Analphabetismus und das eingeschränkte Zahlenverständnis des Klägers. Bei Lebensmitteleinkäufen neige er dazu, immer wieder die gleichen Produkte einzukaufen. Es komme daher vor, dass bestimmte Lebensmittel im Haushalt gehortet würden. Es sei daher ein Motivations-, Erklärungs-, Trainings- und Begleitungsbedarf bei Einkäufen vorhanden. Für das wöchentliche Einkaufen sei eine Gesamtzeit von 45 Minuten pro Woche als ausreichend anzusehen. Die Betreuung bei der Wohnraumgestaltung und -reinigung erfordere einen wöchentlichen Zeitaufwand von 10 Minuten, der Kläger führe sämtliche Reinigungs- und Aufräumarbeiten selbst durch. Insofern bestehe hauptsächlich ein Kontroll-, Anleitungs-, Motivations- und Erklärungsbedarf. Für die Tätigkeiten in dem Bereich der Finanzplanung sei ein wöchentlicher Zeitaufwand von 15 Minuten nachvollziehbar. Überwiegend betreffe dies die Verwaltung des Taschen- und des Haushaltsgeldes, über das der Kläger selbständig verfügen könne. Im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen bestehe ein Hilfebedarf von 30 Minuten pro Woche. Der Kläger habe Konflikte mit Personen aus der Nachbarschaft und aus seiner Familie, v.a. mit seiner Mutter. Diese müssten mit ihm besprochen werden. Darüber hinaus sei der Kläger sehr vertrauensselig und neige dazu, fremde Personen in seine Wohnung zu lassen, die dann teilweise auch bei ihm übernachten würden. Auch insoweit bestehe ein Betreuungsbedarf. Im Bereich der Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben müsse der Kläger angeleitet und motiviert werden, hauptsächlich im Bereich der Freizeitgestaltung mit anderen Personen (Teilnahme am "Treffpunkt"). Im Übrigen gestalte der Kläger seine Freizeit selbst, so dass der Zeitaufwand nur 10 Minuten pro Woche betrage. Im Bereich der Kommunikation und Orientierung seien nur 4 Minuten pro Woche zu berücksichtigen, da der Hilfebedarf überwiegend schon in den anderen Bereichen enthalten sei. Im Bereich der emotionalen und psychischen Entwicklung bestehe ein Hilfebedarf von 10 Minuten pro Woche. Insbesondere bei Planungen von bestimmten Vorhaben bestehe bei dem Kläger eine starke Ungeduld, auf die entsprechend reagiert werden müsse. Im Bereich der Gesundheitsförderung und -erhaltung sei ein Hilfebedarf von 8 Minuten pro Woche gegeben. Der Kläger nehme seine Medikamente grundsätzlich selbständig, die Wochendosette müsse jedoch kontrolliert werden. Darüber hinaus müssten die Besuche bei der Nervenärztin und dem Zahnarzt begleitet werden und der Kläger müsse zu einem gesundheitsbewussten Lebensstil angehalten werden. Zuzüglich der notwendigen Fahrzeiten von 12 Minuten pro Woche ergebe sich daraus ein Hilfebedarf von 144 Minuten pro Woche (bei der Angabe 147 Minuten handelt es sich um einen Rechenfehler). Die Kammer folgt diesen Ausführungen des Sachverständigen, die sie für schlüssig und überzeugend hält.

22

Die Einwände der Beklagten gegen das Gutachten sind - abgesehen von dem Rechenfehler - nicht berechtigt. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Finanzplanung, welche die Beklagte der rechtlichen Betreuerin zuordnet. Es trifft zwar zu, dass der Kläger einem Einwilligungsvorbehalt unterliegt, so dass seine Geschäfte grundsätzlich durch die Betreuerin genehmigt werden müssen. Nach § 1903 Abs. 1 BGB gilt jedoch unter anderem § 110 BGB (sog. Taschengeldparagraph) entsprechend. Das bedeutet, dass die Geschäfte des Klägers von Anfang an wirksam sind, wenn er sie mit Mittel bewirkt, die ihm zur freien Verfügung überlassen worden sind. Der Kläger erhält pro Woche ein Haushalts- und ein Taschengeld, über das er frei verfügen kann. Es trifft somit nicht zu, dass die gesamte Finanzplanung der Betreuerin überlassen ist, sondern es gibt einen Bereich, in dem der Kläger selbst tätig werden kann. Dabei benötigt er jedoch aufgrund seines mangelnden Zahlenverständnisses Hilfe. Die Betreuung durch die K. dient also nicht der Bevormundung des Klägers, sondern sie ermöglicht es erst, dass er diesen Teilbereich seines Lebens selbst gestalten kann. Das gilt gleichermaßen für den Umgang mit der Post. Der Kläger kann aufgrund seiner Behinderung nicht lesen, so dass er auch insoweit auf Hilfe angewiesen ist. Das Vorlesen der Briefe stellt sich damit nicht als Verletzung des Postgeheimnisses dar, sondern als Unterstützung für den Kläger, damit dieser im Rahmen seiner Möglichkeiten eigene Entscheidungen treffen kann. Die Zeiten für die Finanzplanung und das Bearbeiten der Post sind somit entgegen der Ansicht der Beklagten als Hilfebedarf zu berücksichtigen.

23

Nicht berechtigt ist weiterhin der Abzug von 10 Minuten, da keine Doppelerfassungen von Zeiten in dem Gutachten enthalten sind. Der Sachverständige betont an mehreren Stellen, dass jeweils nur der zusätzliche Hilfebedarf berücksichtigt wurde (z.B. bei dem Bereich Kommunikation und Orientierung, S. 51), so dass ein Abzug von Zeiten nicht gerechtfertigt ist.

24

Schließlich gehört es nicht zum Aufgabenbereich der gesetzlichen Betreuerin, den Kläger zu Arztbesuchen zu begleiten. Die Betreuung ist, wie schon die Überschrift "Rechtliche Betreuung" des Zweiten Titels des Vierten Buches des BGB zeigt, rechtsfürsorgerische Tätigkeit; sie ist ihrem Wesen nach bürgerlich-rechtlich geregelte gesetzliche Vertretung, nicht persönliche Pflegeleistung und Hilfe. Rein tatsächliche Hilfe- oder Pflegeleistungen sind keine rechtsfürsorgerische Tätigkeit. Der Betreuer hat sie demnach grundsätzlich nicht zu erbringen, er ist lediglich für die Organisation dieser tatsächlichen Hilfsmaßnahmen verantwortlich, soweit sie erforderlich sind. Daraus folgt, dass in der Regel rein tatsächliche Hilfeleistungen nicht zum Aufgabenkreis des Betreuers gehören und damit auch nicht vergütungsfähig sind (vgl. BayObLG, Beschluss vom 9.10.2002 - 3Z BR 146/02). Aus diesem Grund ist der Betreuer nicht verpflichtet, den Betreuten zu Arztbesuchen zu begleiten (vgl. BayObLG, Beschluss vom 9.10.2002 - 3Z BR 146/02; Palandt/Diederichsen, § 1901, Rn. 1). Der Hilfebedarf des Klägers muss also auch insoweit durch die ambulante Betreuung abgedeckt werden, so dass die von dem Sachverständigen ermittelten Zeiten zutreffend sind.

25

Die Einwände des Klägers und der Beigeladenen sind insoweit berechtigt, als das Gutachten nur den Hilfebedarf im direkten Kontakt mit dem Kläger abbildet. Dazu kommen die Leistungen für den Kläger (z.B. Gespräche im sozialen Umfeld, Koordination der Hilfeplanung, Organisation des Helferfeldes, Telefonate und Schriftverkehr, Dokumentation, Fallbesprechung, Fahrten zum Betreuten) und die indirekten Leistungen (z.B. Teilnahme an Dienstbesprechungen, Supervision, Fortbildung). Diese Zeiten sind abgesehen von den Fahrtzeiten in dem Gutachten nicht enthalten, aber notwendig, so dass sie zusätzlich berücksichtigt werden müssen. Im Zeitraum 1.4.2010 bis 31.3.2011 wurden für diesen Bereich einschließlich der Dokumentation 23 Stunden aufgewandt (= 0,44 Stunden pro Woche) und im Zeitraum 1.4. bis 30.9.2011 14 Stunden (= 0,54 Stunden pro Woche). Die Kammer hat diesen Teil der Hilfe daher mit einem durchschnittlichen Zeitaufwand von 0,5 Stunden pro Woche bewertet. Zuzüglich des von dem Sachverständigen ermittelten Hilfebedarfs von 2,5 Stunden pro Woche ergibt sich ein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten für die ambulante Betreuung im Umfang von bis zu 3 Stunden pro Woche.

26

Nicht zu folgen vermochte die Kammer dem Einwand des Klägers und der Beigeladenen, dass neben dem regelmäßigen Bedarf ein Zuschlag für außergewöhnliche Situationen gemacht werden müsse (z.B. eskalierende Konfliktsituationen im sozialen Umfeld, gesundheitliche Krisen, Erfordernis größerer Anschaffungen, Wohnungsrenovierung). Die bisherige Leistungs- und Prüfungsvereinbarung sieht in § 4 insoweit vor, dass bei einer kurzfristigen Veränderung des Hilfebedarfes für einen bestimmten Zeitraum ein abweichender Zeitfaktor vereinbart wird. Dies entspricht der gesetzlichen Regelung, die auf eine Deckung des tatsächlich vorhandenen Bedarfes abstellt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R). Aus diesem Grund ist es nicht möglich, einen zusätzlichen Zeitaufwand für unvorhersehbare Bedarfe zu berücksichtigen, sondern es muss vielmehr bei Auftreten einer solchen Situation ein Antrag auf vorübergehende Erhöhung der bewilligten Stunden gestellt werden.

27

Die Beklagte muss auch die mit der K. vereinbarten Kosten i.H.v. 40,48 EUR pro Stunde für die ambulante Betreuung übernehmen, denn der Kläger wünscht, dass die Leistungen von der K. erbracht werden. Diese Entscheidung des Klägers ist für die Beklagte bindend, denn nach § 9 Abs. 2 SGB XII soll Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. Nach Satz 3 der Vorschrift soll der Träger der Sozialhilfe in der Regel Wünschen nicht entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. Es kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob der Wunsch des Klägers, dass die Leistungen durch die K. erbracht werden sollen, schon deshalb angemessen ist, weil mit dieser Vereinbarungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII abgeschlossen wurden (vgl. Hohm, in: Schellhorn, SGB XII, 18. Aufl. 2010, § 9, Rn. 22; a.A. BVerwG, Urteil vom 30.9.1993 - 5 C 41/91; Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 9, Rn. 30). Dafür spricht allerdings, dass die Vereinbarungen gem. § 75 Abs. 3 Satz 2 SGB XII den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen müssen. Diese Kriterien werden also bereits im Rahmen des Vertragsabschlusses bzw. eines Schiedsstellenverfahrens geprüft, so dass es wenig sinnvoll erscheint, den Wunsch eines Leistungsberechtigten, eine gem. § 75 Abs. 3 SGB XII vereinbarte Vergütung zu übernehmen, dem Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII zu unterwerfen.

28

Der Wunsch des Klägers ist jedenfalls aus dem Grund angemessen, weil sein Bedarf nicht durch einen günstigeren Leistungserbringer (z.B. Pflegedienst oder Haushaltshilfe) gedeckt werden kann. Nach den Ausführungen des Sachverständigen muss der Großteil des Hilfebedarfes durch Personen mit pädagogischer Ausbildung durchgeführt werden, da bei dem Kläger eine geistige Behinderung vorliege und entsprechend geschult mit ihm umgegangen werden müsse. Lediglich ein Hilfebedarf von 6 Minuten pro Woche könne durch andere Personen gedeckt werden. Die Kammer folgt auch diesen Ausführungen des Sachverständigen, die sie für schlüssig und überzeugend hält.

29

Dem Anspruch auf Übernahme der vereinbarten Vergütung i.H.v. 40,48 EUR steht schließlich auch nicht entgegen, dass die Beklagte die Vereinbarung mittlerweile gekündigt hat, denn gem. § 77 Abs. 2 Satz 4 SGB XII gelten die vereinbarten Vergütungen nach Ablauf des Vereinbarungszeitraums bis zum Inkrafttreten neuer Vergütungen weiter. Eine neue Vergütungsvereinbarung liegt noch nicht vor.

30

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.