Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 15.12.2011, Az.: S 13 KR 161/11
Zuständigkeit der Pflegekasse als Trägerin der Pflegeversicherung für die Festsetzung der Pflegeversicherungsbeiträge; Festsetzung der Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in einem gemeinsamen Beitragsbescheid
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 15.12.2011
- Aktenzeichen
- S 13 KR 161/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 34763
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOSNAB:2011:1215.S13KR161.11.0A
Rechtsgrundlagen
- § 46 Abs. 1 S. 1 SGB XI
- § 46 Abs. 2 S. 4 SGB XI
Fundstelle
- NZS 2012, 267
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2011 wird insoweit aufgehoben, als die Beklagte die Beiträge zur Pflegeversicherung für die Jahre 2009 und 2010 festgesetzt hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1/10. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten sind Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung streitig.
Die Agentur für Arbeit G. bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 8. Juli 2008 einen Gründungszuschuss für die Zeit vom 2. August 2008 bis zum 1. Mai 2009 in Höhe von monatlich 994,50 EUR.
Am 2. August 2008 nahm die Klägerin eine selbständige Tätigkeit als Gastwirtin auf. Sie beantragte am 28. August 2008 den Beitritt zur freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung bei de Beklagten zum 1. August 2008.
Die Beklagte setzte in der Folgezeit die Beiträge der Antragstellerin zur Kranken- und Pflegeversicherung mit mehreren Bescheiden unter Vorbehalt für die Zeit ab dem 2. August 2008 fest, da eine Beitragsfestsetzung abschließend erst nach Vorlage des Einkommenssteuerbescheides vorgenommen werden könne.
Die Agentur für Arbeit G. bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 28. April 2009 einen Gründungszuschuss in Höhe von monatlich 300,00 EUR für die Zeit vom 2. Mai 2009 bis zum 1. November 2009.
Das Finanzamt H. erließ am 14. Juni 2010 gegenüber der Klägerin den Bescheid für 2008 über Einkommenssteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag. Danach betrugen die Einnahmen aus Gewerbebetrieb 20.157,00 EUR und die Einnahmen aus Kapitalvermögen 474,00 EUR.
Die Beklagte setze mit Bescheid vom 11. Januar 2011 die Beiträge der Klägerin zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit ab dem 2. August 2008 endgültig fest.
Die Klägerin erhob gegen den endgültigen Beitragsbescheid Widerspruch.
Die Beklagte setzte hieraufhin die Beiträge der Klägerin zur Kranken- und Pflegeversicherung mit Bescheid vom 3. Februar 2011 für die Zeit ab dem 1. Februar 2011 unter Vorbehalt fest und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2011 zurück.
Hiergegen richtet sich die am 6. April 2010 bei Gericht eingegangene Klage. Die Klägerin wendet sich ausschließlich gegen die Beitragsfestsetzung für die Jahre 2009 und 2010, die ihrer Auffassung nach unter Vorbehalt hätte erfolgen müssen. Sie akzeptiert die Festsetzung für das Jahr 2008 sowie die laufende Festsetzung.
Die Klägerin trägt vor, dass das Vorgehen der Beklagten sie mit unbilliger Härte treffe. Es werde nicht auf ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abgestellt, sondern auf in der Vergangenheit liegende Werte. Sie hält die Anwendung des Rechts aus verfassungsrechtlichen Gründen für höchst problematisch.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihren Antrag unter der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass der angefochtene Bescheid rechtmäßig sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Die Beteiligten erklärten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 11. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2011 betreffend die Festsetzung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Jahre 2009 und 2010. Nur hiergegen richtet sich die von der Klägerin erhobene Klage. Der Beitragsbescheid vom 3. Februar 2011 ist nicht Streitgegenstand, weil er das Jahr 2011 betrifft.
Die zulässige Klage ist hinsichtlich der Festsetzung der Krankenversicherungsbeiträge für die Jahre 2009 und 2010 unbegründet (1) und insoweit begründet, als die Beklagte die Beiträge für die Pflegeversicherung festgesetzt hat.
1.
Der Beitragsbescheid der Beklagten vom 11. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2011 ist hinsichtlich der Festsetzung der Krankenversicherungsbeiträge rechtmäßig.
Für freiwillige Mitglieder wird die Beitragsbemessung einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt, § 240 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Für freiwillige Mitglieder, die hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind, gilt als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag der dreißigste Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (§ 223), bei Nachweis niedrigerer Einnahmen jedoch mindestens der vierzigste, für freiwillige Mitglieder die Anspruch auf einen monatlichen Gründungszuschuss nach § 57 des Dritten Buches (SGB III) oder einen monatlichen Existenzgründungszuschuss nach § 421 l des SGB III oder eine entsprechende Leistung nach § 16 des Zweiten Buches haben, der sechzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße.
Ausgehend hiervon hat die Beklagte die Beiträge zur Krankenversicherung zutreffend unter Berücksichtigung des Einkommenssteuerbescheides für das Jahr 2008 festgesetzt.
Es ist zulässig, den bei Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit erlassenen vorläufigen Beitragsbescheid nach Vorliegen des ersten Einkommenssteuerbescheides durch einen endgültigen Bescheid zu ersetzen (Urteil des Bundessozialgerichts vom 22. März 2006, B 12 KR 14/05 R).
Die Klägerin hat keinen Nachweis niedrigerer Einnahmen erbracht.
Bei hauptberuflich selbstständig erwerbstätigen freiwilligen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse darf eine Anpassung der Beitragshöhe an die verschlechterte Einkommenssituation erst und nur zum Beginn des auf die Vorlage des letzten Einkommensteuerbescheids folgenden Monats vorgenommen werden (Urteil des Bundessozialgerichts vom 2. September 2009, B 12 KR 21/08 R).
Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelungen des § 240 SGB V.
Eine mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbare Ungleichbehandlung liegt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht vor. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet gleiche Sachverhalte ohne sachlichen Grund unterschiedlich zu regeln. Die Einkommenssituation von Arbeitnehmern und Selbständigen ist kein vergleichbarer Sachverhalt. Die Regelungsgruppe sind die hauptberuflich Selbständigen, die sich freiwillig gesetzlich versichern. Die Vergleichsgruppe sind die hauptberuflich Selbständigen, die privat versichert sind und deren Beiträge im Regelfall ohne Berücksichtigung ihrer Einnahmen festgesetzt werden.
Auch die von der Klägerin im Übrigen vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken vermögen nicht zu überzeugen, weil verkannt wird, dass es sich bei der freiwilligen Krankenversicherung nicht um eine Pflichtversicherung handelt und vom Versicherten beendet werden kann.
2.
Der Bescheid vom 11. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2011 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, als die Beklagte die Beiträge zur Pflegeversicherung festgesetzt hat.
Für die Festsetzung der Pflegeversicherungsbeiträge ist nicht die Beklagte sachlich zuständig, sondern die Pflegekasse als Trägerin der Pflegeversicherung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Durch die gesetzliche Neuregelung zum 1. Juli 2008 können Krankenkassen und Pflegekassen gemäß § 46 Abs. 2 Satz 4 SGB XI für Mitglieder, die ihre Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge selbst zu zahlen haben, die Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in einem gemeinsamen Beitragsbescheid festsetzen. Von dieser Möglichkeit haben die Beklagte und die Pflegekassen keinen Gebrauch gemacht, weil die Pflegekasse in dem Bescheid vom 11. Januar 2011 nicht als erlassende Behörde in Erscheinung tritt. Vielmehr hat die Beklagte für die Pflegekasse in deren Namen die Pflegeversicherungsbeiträge festgesetzt. Für eine derartige Vertretung existiert keine gesetzliche Grundlage.
Die Kammer folgt nicht der entgegenstehenden Rechtsprechung des 1. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 28. September 2011, Az. L 1 KR 153/10), der es für ausreichend erachtet, dass die Beitragsfestsetzung für die Krankenversicherung und für die Pflegeversicherung "im Rahmen des getrennt geregelten Entscheidungsprozesses" getroffen wurde und dann in Form einer zusammengefassten Entscheidung durch die Krankenkasse erfolgt.
Nach Auffassung der Kammer entbindet § 46 Abs. 2 Satz 4 SGB XI die Pflegekasse nicht von der Festsetzung der Beiträge mit Außenwirkung. Er ermöglicht die Festsetzung der Pflegeversicherungs- und Krankenversicherungsbeiträge in einem Bescheid durch beide Kassen, was voraussetzt, dass sowohl Kranken- als auch Pflegekasse als erlassende Behörden im gemeinsamen Bescheid aufgeführt werden. Erfolgt dies nicht, müssen sie zumindest in dem Tenor oder in der Begründung des Bescheides als erlassende Behörde erkennbar sein. § 46 Abs. 2 Satz 4 SGB X ermächtigt die Krankenkassen nicht zu einer Zusammenfassung von intern getroffenen Entscheidungen der beiden Kassen.
§ 42 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist auf Verstöße gegen die sachliche Zuständigkeit nicht entsprechend anwendbar (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. Dezember 1987, 12 RK 22/86).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Das Gericht hat gemäß § 161 Abs. 2 SGG die Sprungrevision zugelassen, da der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zukommt. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung zu, wenn eine Rechtsfrage aufgeworfen wird, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Eine Rechtsfrage in diesem Sinne wirft die vorliegende Streitsache auf, weil der Kläger bedarf, ob § 46 Abs. 2 Satz 4 SGB XI die Krankenkassen ermächtigt, für die Pflegekassen die Pflegeversicherungsbeiträge festzusetzen oder deren Entscheidung über die Beitragsfestsetzung bekanntzugeben.