Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 13.09.2017, Az.: S 81 R 54/16
Erwerbsminderung; Fehlende Behandlung; Psychische Erkrankung; Psychische Krankheit; Psychische Störung; Verweigerung der Behandlung
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 13.09.2017
- Aktenzeichen
- S 81 R 54/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 53648
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB 6
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Annahme, eine psychische Erkrankung sei nur dann als erwerbsmindernd anzusehen, wenn eine erfolglos gebliebene Behandlung durchgeführt sei, lässt sich weder mit dem Wortlaut, noch mit der Systematik oder dem Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbaren.
2. Der Wortlaut des Gesetzes nimmt keinerlei Unterscheidung danach vor, ob die Krankheit/die Behinderung behandelbar ist oder sie aufgrund fehlender Behandlung unnötig lange aufrechterhalten wurde oder aufgrund dessen "selbstverschuldet" fortdauert.
3. Auch nach der Systematik des Gesetzes kann nicht begründet werden, die fehlende Behandlung einer psychischen Erkrankung als Ausschlusskriterium für eine Erwerbsminderung anzusehen. Insbesondere sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, eine Rente nur befristet zu gewähren und dem Versicherten gem. § 66 Abs. 2, Abs. 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch Auflagen zu erteilen.
4. Auch nach dem Sinn und Zweck kann die Annahme, eine nichtbehandelte psychische Störung sei tatbestandlich nicht als Erwerbsminderung werten, nicht überzeugen. Hierin läge eine Negierung der heutigen medizinischen Erkenntnisse, und der Rechtslage des Krankenversicherungsrechts (inklusive der Anerkennung von ICD-10-Codierungen), die psychiatrischen Störungen unzweifelhaft Krankheitswert beimessen.
Zudem liegt hierin eine nicht gerechtfertigte Unterscheidung zwischen psychischen und somatischen Erkrankungen. Denn bei körperlichen Erkrankungen wird (von der Rechtsprechung und vom Gesetz) unstreitig nicht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einer Erwerbsminderung verlangt, dass eine Behandlung erfolgen muss und andernfalls keine erwerbsmindernde Krankheit vorliegt.
Tenor:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 09.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2016 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, ausgehend von einem Leistungsfall am 20.01.2017, ab dem 01.08.2017 befristet bis zum 30.06.2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.
3. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.
Der am E. 1961 in der Türkei geborene Kläger ging in seinem Herkunftsland fünf Jahre zur Schule. Im Jahre 1979 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über und war zunächst in einer Raffinerie, später bis zum Jahre 2002 als Bauhelfer tätig. Danach arbeitete er noch stundenweise als Hausmeister. Er bezieht Arbeitslosengeld II.
Der Kläger beantragte am 28.01.2015 bei der Beklagten die Gewährung einer Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 09.06.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zwar leide der Kläger unter einer koronaren Dreigefäßerkrankung mit Zustand nach Dilatation und Stent sowie unter einer somatoformen Störung. Er sei aber noch in der Lage, mindestens sechs Stunden arbeitstäglich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten.
Der Kläger legte gegen den Bescheid am 09.07.2015 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Mit seiner am 10.02.2016 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er leide unter einer Herzerkrankung und Wirbelsäulenerkrankungen sowie unter einer psychiatrischen Erkrankung.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 09.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat zur weiteren medizinischen Sachaufklärung zunächst Befundberichte des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. F. vom 05.09.2016 sowie des Facharztes für Orthopädie Dr. G. vom 14.10.2016 eingeholt.
Das Gericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Orthopädie Dr. H. vom 25.01.2017 sowie des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie I. vom 13.03.2017.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung einer befristeten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der Anspruch ergibt sich aus § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 60 Monaten vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit gezahlt und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Bei einem täglichen Leistungsvermögen von mehr als 3 Stunden, jedoch weniger als 6 Stunden ist ein Versicherter teilweise erwerbsgemindert. Voll erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Bei einem Leistungsvermögen von mindestens 6 Stunden täglich besteht grundsätzlich kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die vorgenannten Tatbestandsvoraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung liegen nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme bei dem Kläger vor. Der Kläger ist erwerbsgemindert, da er nicht in der Lage ist, jedenfalls drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein.
In dieser Ansicht stützt sich das Gericht auf die während des Verwaltungsverfahrens und des Gerichtsverfahrens beigezogenen ärztlichen Unterlagen und insbesondere die vom Gericht eingeholten Gutachten. Die Sachverständigen haben den Kläger eingehend untersucht und alle Befunde sorgfältig bewertet. Die Gerichts- und Verwaltungsakten wurden ausgewertet. Die Gutachter leiten jeweils für ihr Fachgebiet nachvollziehbare und überzeugende Folgerungen aus den Untersuchungsergebnissen ab.
Der Schwerpunkt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen liegt bei dem Kläger auf psychiatrischem Fachgebiet. Aufgrund dieser Einschränkungen ergibt sich nach dem seitens des Gerichts eingeholten fachpsychiatrischen Gutachten ein aufgehobenes Leistungsvermögen. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie I. diagnostizierte im Gutachten vom 13.03.2017 bei dem Kläger aufgrund Anamnese, körperlicher Untersuchung und Durchführung verschiedener testpsychologischer Verfahren:
eine Depression, mittelschwer bis schwer,
eine somatoforme Schmerzstörung sowie
eine koronare Dreigefäßkrankheit.
Der Kläger gab gegenüber dem Sachverständigen an, er habe ständig Schmerzen im Bereich des Kopfes und des Rückens. Er leide unter Schwindel und die Stimmung sei nicht gut. Sein Antrieb sei herabgesetzt und er habe wenig Interesse an den Dingen. Die Konzentration sei ebenfalls schlechter geworden. Zudem habe er Angstzustände, wenn er allein sei. Einkaufen könne er nur zusammen mit seiner Ehefrau. Sein Schlaf sei unruhig. Hobbys habe er keine. Er sei nicht in psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung.
Der Sachverständige I. schilderte, auf körperlich neurologischem Fachgebiet habe sich kein schwerwiegender krankhafter Befund ergeben, aber der psychopathologische Befund des Klägers sei erheblich auffällig gewesen. Zwar sei der Kläger wach, bewusstseinsklar und orientiert gewesen. Er habe auch keine Wahrnehmungsstörungen gehabt. Jedoch sei die Stimmungslage ins Depressive verschoben gewesen. Unter Stressbedingungen habe sich zudem eine verminderte Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit gezeigt. Die affektive Schwingungsfähigkeit sei etwas herabgesetzt und die motorische Geschwindigkeit verlangsamt gewesen. Die Auffassungsgabe sei etwas unsicher gewesen. Hinweise auf Simulation oder Aggravation fänden sich nicht.
Insgesamt diagnostizierte der Sachverständige aufgrund dieses Befundes eine mittelschwere bis schwere Depression. Die Depression gehe mit kognitiven Einschränkungen und Affektstörungen einher.
Darüber hinaus diagnostizierte der Sachverständige eine somatoforme Schmerzstörung. Zwar führe diese in der Regel lediglich zu qualitativen Einschränkungen, jedoch bestehe bei dem Kläger keine ausreichende Willensbildung und Willensstärke mehr, um bei zumutbarer Anstrengung die Symptomatik soweit überwinden zu können, dass eine ausreichende Leistungsfähigkeit für eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert bestehe. Daher liege in diesem Fall eine quantitative Leistungseinschränkung vor.
Aufgrund der beiden diagnostizierten Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet kam der J. nachvollziehbar zu der Einschätzung, dass der Kläger in seiner Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben erheblich eingeschränkt ist. Das Leistungsvermögen ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen auf unter drei Stunden täglich herabgesetzt.
Das Gericht ist nach dem Gutachten des Herrn I.davon überzeugt, dass der Kläger voll erwerbsgemindert ist. Dass die zuvor vom Gericht beauftragte Sachverständige Dr. H. zu einer anderen Leistungseinschätzung kam, widerspricht dem nicht, da Frau Dr. H. den Kläger in orthopädischer und nicht in psychiatrischer Hinsicht begutachtete. Für ihr Fachgebiet sind die Ausführungen plausibel und überzeugend. Dass der Kläger von der Sachverständigen Frau Dr. H. von organischer Seite her für leistungsfähig gehalten wurde, entspricht dem Krankheitsbild der von Herrn I. diagnostizierten Somatisierungsstörung, denn diese umfasst gerade erhebliche Diskrepanzen zwischen Beschwerdesymptomatik und organisch nachvollziehbarer Grundlage. Die beiden Gutachten widersprechen sich also nicht, sondern ergänzen sich auf unterschiedlichen Fachgebieten. Zudem hat Frau Dr. H. während der orthopädischen Begutachtung bereits fachfremd einen erheblich auffälligen psychopathologischen Befund geschildert und zur Klärung der Leistungsfähigkeit des Klägers folgerichtig eine psychiatrische Begutachtung angeregt. Das sodann eingeholte fachpsychiatrische Gutachten des Herrn I. bestätigte in einen erwerbsmindernden psychopathologischen Befund in nachvollziehbarer und überzeugender Weise.
Als Leistungsfall der Erwerbsminderung regte der Sachverständige I. die Untersuchung durch den Facharzt für Orthopädie Dr. K. im Verwaltungsverfahren vom 02.12.2015 an. Dieses Datum vermag das Gericht unter Berücksichtigung der Beweislast des Klägers jedoch nicht als Leistungsfall zugrunde zu legen. Denn eine psychiatrische Untersuchung hatte bis zu der Untersuchung durch den Sachverständigen I. zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Insbesondere war der Kläger seit Rentenantragstellung zu keiner Zeit in fachpsychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung. Eine sorgfältige psychiatrische Befunderhebung erfolgte erstmals im Gerichtsverfahren. Es kann mangels früherer Dokumentation eines psychopathologischen Befundes für die Vergangenheit nicht als erwiesen angesehen werden kann, dass der Kläger seit dem 02.12.2015 durchgehend bis heute aufgrund psychiatrischer Erkrankungen erwerbsgemindert war.
Ergänzend ist auszuführen, dass aus dem Umstand, dass der Kläger bei der orthopädischen Untersuchung durch Dr. K. sein Alter nur mühsam errechnen konnte, nicht per se der Schluss einer schweren psychiatrischen Erkrankung gezogen werden kann. Denn insofern ist der türkische Kulturhintergrund des Klägers zu berücksichtigen, im Rahmen dessen das Geburtsdatum und die jährlichen Geburtstage in der Regel lediglich eine untergeordnete Rolle spielen.
Als Leistungsfall kann erst die Untersuchung durch die gerichtliche Sachverständige Dr. H. am 20.01.2017 angesehen werden. Sie hat den Kläger in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu dem psychiatrischen Sachverständigen I. (dessen Untersuchung am 07.03.2017 stattfand) begutachtet. Zwischen den Untersuchungen lagen lediglich etwa sechs Wochen. Frau Dr. H. hat - wenn auch fachfremd - einen auffälligen psychopathologischen Befund erhoben, den wenige Wochen später Herr I. bestätigte. Frau Dr. H. ging davon aus, dass bei dem Kläger eine depressive Entwicklung mit Somatisierungstendenzen vorliege und empfahl dementsprechend eine fachpsychiatrische Begutachtung. Der Sachverständige I. bestätigte kurz darauf eine erhebliche Depression und eine somatoforme Schmerzstörung. Es ist insgesamt unter Berücksichtigung der Beweislast des Klägers davon auszugehen, dass die von Herrn I. diagnostizierten psychischen Erkrankungen jedenfalls bereits seit dem 20.01.2017 in leistungsminderndem Schweregrad vorlagen. Eine Depression und eine somatoforme Schmerzstörung entwickeln sich regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Es ist nach einem Vergleich der Gutachten davon auszugehen, dass jedenfalls bei der Untersuchung durch Frau Dr. H. ein ähnlicher Zustand vorlag, wie kurze Zeit später bei der Untersuchung durch Herrn I..
Der Kläger ist erwerbsgemindert, da er für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten nicht mehr in der Lage ist, jedenfalls drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein. Er hat daher einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente.
Nicht zu folgen ist der Argumentation der Beklagten, dass eine psychische Erkrankung nicht zu einer Erwerbsminderung führe, wenn keine ärztliche Behandlung erfolgt. Diese Argumentation, bei der sich die Beklagte auf die ständige Rechtsprechung des Landessozialgerichts Bayern stützt (vgl. nur beispielhaft LSG, Urt. v. 09.04.2014 - L 19 R 426/08 mit weiteren Nachweisen, zitiert nach juris), vermag nicht zu überzeugen.
Die Annahme, eine psychische Erkrankung sei nur dann als erwerbsmindernd anzusehen, wenn eine erfolglos gebliebene Behandlung durchgeführt sei, lässt sich weder mit dem Wortlaut, noch mit der Systematik oder dem Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbaren.
Der Wortlaut des Gesetzes nimmt keinerlei Unterscheidung danach vor, ob die Krankheit/die Behinderung behandelbar ist oder sie aufgrund fehlender Behandlung unnötig lange aufrechterhalten wurde oder aufgrund dessen „selbstverschuldet“ fortdauert (sei es z.B. weil die Behandlung abgelehnt wird oder eine mangelnde Compliance besteht).
Das Gesetz verlangt nach dem Wortlaut an keiner Stelle, dass der Zustand nicht (mehr) behandelbar ist oder nicht gebessert werden kann. Der § 43 SGB VI setzt als Tatbestandsmerkmal lediglich die „Erwerbsminderung“ voraus. Eine Erwerbsminderung ist eine erhebliche Einschränkung des Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen Krankheit oder Behinderung. Erforderlich ist also lediglich die objektive Leistungsminderung. Die Ursache der Erkrankung oder das Verhalten des Versicherten und insbesondere die Behandelbarkeit der Erkrankung sind nach dem Wortlaut des Gesetzes gänzlich irrelevant für das Tatbestandsmerkmal der Erwerbsminderung.
Auch nach der Systematik des Gesetzes liegt es fern, eine fehlende Behandlung einer psychischen Erkrankung als Ausschlusskriterium für eine Erwerbsminderung anzusehen. Das Gesetz sieht für den Fall einer bisher fehlenden Behandlung andere Reaktionsmöglichkeiten vor.
Insbesondere sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, eine Rente nur befristet zu gewähren. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass bei entsprechender Behandlung zukünftig eine Besserung des Gesundheitszustandes möglich ist. (so auch BSG, Urt. v. 29.03.2006 - B 13 RJ 31/05 R, zitiert nach juris, wonach eine Besserungssicht dazu führt, dass statt einer Dauerrente lediglich eine befristete Rente zu gewähren ist) Die in Rente auf Zeit setzt die begründete Aussicht voraus, dass die Erwerbsminderung in absehbarer Zeit behoben sein wird. Das zeigt systematisch, dass das Gesetz selbst davon ausgeht, dass die Behebbarkeit der Gesundheitsstörungen den Eintritt des Versicherungsfalles nicht verhindert (vgl. auch BSG, Urt. v. 19.06.1979 - 5 RJ 122/77, zitiert nach juris).
In systematischer Hinsicht ist auch zu beachten, dass § 66 Abs. 2, Abs. 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) die Möglichkeit von Auflagen vorsieht. Danach kann der Rentenversicherungsträger die Rente ganz oder teilweise versagen oder entziehen, wenn der Versicherte seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt und deshalb seine Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird. Voraussetzung ist, dass der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und er seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten, angemessenen Frist nachgekommen ist.
Das Gesetz sieht also durch die Möglichkeit einer Auflage nach § 66 SGB I ausdrücklich eine Sanktionsmöglichkeit für den Fall vor, dass sich der Versicherte nicht Behandlung begibt. Allerdings ist eine solche Sanktion (vorliegend also die Rentenentziehung) an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, insbesondere an eine vorherige Belehrung des Versicherten und eine angemessene Fristsetzung.
Die Auflage nach § 66 SGB I ist interessengerecht und ausgewogen. Sie trägt den Interessen der Versichertengemeinschaft nach Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ausreichend Rechnung und berücksichtigt andererseits auch die Interessen von erwerbsgeminderten Versicherten an Aufklärung und Fristsetzung, bevor für ihn negative Rechtsfolgen eintreten. Lediglich dann, wenn der Rentenversicherungsträger nach § 66 Abs. 2, Abs. 3 SGB I vorgeht, kann er die Rente ganz oder teilweise versagen oder entziehen. (So auch bereits: BSG, Urt. v. 19.06.1979 - 5 RJ 122/77, zitiert nach juris).
Es besteht nach systematischer Auslegung kein Bedarf, die Vorschrift des § 43 SGB VI über seinen Wortlaut hinaus einschränkend dahingehend auszulegen, dass es unbehandelten psychiatrischen Erkrankungen schon am Tatbestandsmerkmal der Erwerbsminderung fehlt, denn das Gesetz sieht nach der Systematik interessengerechtere Lösungen vor.
Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 43 SGB VI kann die Annahme, eine nichtbehandelte psychische Störung sei tatbestandlich nicht als Erwerbsminderung werten, nicht überzeugen.
Hierin läge eine Negierung der heutigen medizinischen Erkenntnisse, und der Gesetzeslage des Krankenversicherungsrechts (inklusive der Anerkennung von ICD-10-Codierungen), die psychiatrischen Störungen unzweifelhaft Krankheitswert zumessen.
Zudem liegt hierin eine nicht gerechtfertigte Unterscheidung zwischen psychischen und somatischen Erkrankungen. Denn bei körperlichen Erkrankungen wird (von der Rechtsprechung und vom Gesetz) unstreitig nicht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einer Erwerbsminderung verlangt, dass z.B. Rückenbeschwerden (etwa mit Reha-Sport, Krankengymnastik und Schmerzmedikamenten) behandelt sein müssen oder andernfalls nicht als erwerbsmindernde Krankheit anerkannt werden könnten.
Nach alledem ist es für die Beurteilung der Erwerbsminderung irrelevant, ob bisher eine Behandlung in Anspruch genommen wurde. Es besteht bei nicht ausgeschöpften Behandlungsmöglichkeiten ein Anspruch auf befristete Erwerbsminderungsrente, solange die Rentenversicherung keine wirksame Auflage erteilt hat, deren angemessene Frist abgelaufen ist.
Diese Auslegung des § 43 SGB VI stimmt mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung überein. So führte auch das BSG aus, dass eine bestehende Besserungsaussicht (dort bei einer bestehenden Knieschädigung und einer Besserungssicht im Falle der Implantation einer Knieprothese) lediglich dazu führt, dass die Rente zu befristen ist, anstatt sie dauerhaft zu zahlen (Urt. v. 29.03.2006 - B 13 RJ 31/05 R, zitiert nach juris,). Das BSG hat nicht die Anforderung aufgestellt, dass eine Erkrankung austherapiert sein muss, bevor sie als erwerbsmindernd angesehen werden kann.
Das Bundessozialgericht hat zudem auch bereits entschieden, dass sogar die aktive Verweigerung einer Behandlung nicht dazu führt, dass eine Gesundheitsstörung nicht als Krankheit im Sinne von § 43 SGB VI anzusehen wäre (so etwa BSG, Urt. v. 19.06.1979 - 5 RJ 122/77, zitiert nach juris). Zwar hat die Rechtsprechung des BSG bei seelischen Störungen eine Krankheit dann verneint, wenn sie durch Willensentschlüsse des Betroffenen behoben werden können (vgl. BSGE 21, 189, 191 [BSG 01.07.1964 - 11/1 RA 158/61]). Abgesehen von den Besonderheiten, die für die Beurteilung einer Neurose als Krankheit aufgestellt wurden, hat das BSG aber bei Vorliegen einer psychischen Störung, die sich nicht allein durch Willensentschlüsse des Versicherten beheben lässt, sondern allenfalls durch eine daran anschließende ärztliche Behandlung, ausdrücklich auch bei unterbliebener Behandlung eine Erwerbsminderung angenommen. Die Behandlungsfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit der festgestellten Gesundheitsstörungen steht dem Eintritt des Versicherungsfalles und dem Rentenanspruch also nicht im Wege. (BSG, Urt. v. 19.06.1979 - 5 RJ 122/77, zitiert nach juris)
Zwar ist der Versicherte verpflichtet, in zumutbarem Umfang an der Beseitigung des Versicherungsfalles mitzuwirken und sich insbesondere medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen zu unterziehen, jedoch ist bei unzureichender Mitwirkung nicht bereits das Tatbestandsmerkmal einer Erwerbsminderung zu verneinen. Die Folgen einer unberechtigterweise verweigerten Mitwirkung ergeben sich allein aus § 66 Abs. 2, Abs. 3 SGB I. (vgl. hierzu bereits: BSG, Urt. v. 19.06.1979 - 5 RJ 122/77, zitiert nach juris).
Die unterbliebene Behandlung führt insgesamt nach wertender Auslegung des Gesetzes (ohne Rücksicht auf die Ursachen der Unterlassung) nicht dazu, dass vorhandene Gesundheitsstörungen nicht als Krankheit im Rechtssinne anzusehen sind. Die Annahme, eine psychische Erkrankung sei nur dann als erwerbsmindernd anzusehen, wenn eine erfolglos gebliebene Behandlung durchgeführt sei, lässt sich weder mit dem Wortlaut, noch mit der Systematik oder dem Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbaren und wird auch nicht durch höchstrichterliche Rechtsprechung gestützt. Ihr ist daher nicht zu folgen.
Danach hat der Kläger einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Das Leistungsvermögen des Klägers ist aufgrund der oben aufgeführten Gesundheitsstörungen insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet erheblich eingeschränkt. Neben qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit besteht nach Überzeugung des Gerichts eine Einschränkung des Leistungsvermögens auch in zeitlicher Hinsicht. Ein Versicherter, der – wie der Kläger – nicht mehr täglich mindestens drei Stunden tätig sein kann, kann eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beanspruchen.
Die Erwerbsminderungsrente ist im vorliegenden Fall jedoch in zeitlicher Hinsicht zu befristen, weil eine Besserungsperspektive besteht. Wie der Sachverständige I. nachvollziehbar ausgeführt hat, kann nach einem teilstationären oder stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nach einem Behandlungszeitraum von drei bis sechs Monaten von einer Besserung der gesundheitlichen Situation des Klägers ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung eines gewissen Vorlaufs für die Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik hält die Kammer eine Befristung der Erwerbsminderungsrente bis zum 30.06.2018 für gerechtfertigt. Die Rentenzahlung beginnt gem. § 101 SGB VI mit Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit, also am 01.08.2017.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz und berücksichtigt, dass der nachweisbare Leistungsfall erst deutlich nach Klageerhebung liegt.