Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 28.05.2002, Az.: 7 A 1329/02

Behinderter; Mitgliedsbeiträge; notwendiger Lebensunterhalt; Sozialverband Deutschland; öffentliches Leben

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
28.05.2002
Aktenzeichen
7 A 1329/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 41620
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein körperbehinderter Hilfeempfänger hat keinen Anspruch auf Übernahme der Mitgliedsbeiträge für den Sozialverband Deutschland (vormals Reichsbund) aus Sozialhilfemitteln. Soweit diese Mitgliedsbeiträge nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG vom Einkommen abgesetzt werden können, lässt sich daraus kein Anspruch auf Übernahme der Beiträge durch den Sozialhilfeträger ableiten

Tatbestand:

1

Der körperbehinderte Kläger begehrt die Übernahme von Mitgliedsbeiträgen für den Sozialverband Deutschland (früher Reichsbund) aus Sozialhilfemitteln. Er ist Mitglied im Verband und erhält von der Beklagten laufend Hilfe zur Pflege und Hilfe zum Lebensunterhalt.

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Nach Aktenlage beantragte der Kläger erstmals am 28.09.2001 mit Schreiben vom 27.09.2001 bei der Landeshauptstadt Hannover, die Mitgliedsbeiträge für den Sozialverband Deutschland aus Sozialhilfemitteln zu übernehmen.

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Mit Bescheid vom 29.10.2001 lehnte die Stadt Hannover diesen Antrag ab.

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Daraufhin legte der Kläger gegen diese Entscheidung Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.03.2002 zurückwies.

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Der Kläger hat am 02.04.2002 Klage erhoben.

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Er trägt vor: Wegen der Vielzahl neuer gesetzlicher Vorschriften im Behindertenbereich sei eine Mitgliedschaft im Sozialverband Deutschland sinnvoll und notwendig. Außerdem finde er dort Kontakt zu Gleichgesinnten. Er stütze seine Klage insbesondere auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.01.94. Eine analoge Anwendung der Vorschriften des § 76 BSHG sei geboten - schon um eine Diskriminierung Behinderter zu verhindern.

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Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Landeshauptstadt Hannover vom 29.10.2001 und ihres Widerspruchsbescheides vom 19.03.2002 zu verpflichten, seinen Mitgliedsbeitrag für den Sozialverband Deutschland zu übernehmen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie tritt der Klage entgegen.

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Die Kammer hat die Sache mit Beschluss vom 03.05.2002 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

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Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung übertragen hat.

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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Übernahme der in Rede stehenden Mitgliedsbeiträge aus Sozialhilfemitteln.

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Bei der begehrten Übernahme von Mitgliedsbeiträgen zählt nicht zu den Aufgaben der Eingliederungshilfe iSd §§ 39 ff. BSHG. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist nach § 39 Abs. 3 BSHG, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört vor allem, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

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Die Übernahme von Mitgliedsbeiträgen - sei es auch für den Sozialverband Deutschland - gehört nicht dazu. Durch diese Maßnahme wird die Behinderung des Klägers oder deren Folgen weder unmittelbar beseitigt noch gemildert.

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Es soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass der Reichsbund bzw. der Sozialverband Deutschland eine anerkennenswerte Arbeit leistet und eine Mitgliedschaft in diesem Verband in seiner Eigenschaft als Interessenvertretung der Behinderten durchaus sinnvoll sein dürfte. Gleichwohl stellt eine Übernahme der Mitgliedsbeiträge keine Maßnahme der Eingliederungshilfe dar, wie sie exemplarisch in § 40 Abs. 1 BSHG aufgezählt sind. Es handelt sich insbesondere nicht um Leistungen zur Teilhabe am Leben der Gemeinschaft iSd. § 40 Abs. 1 Nr. 8 in Verbindung mit § 55 SGB IX. Dem Kläger wird durch die Mitgliedschaft im Sozialverband Deutschland nicht etwa erst ermöglicht, an gemeinschaftlichen oder kulturellen Veranstaltungen iSd. § 55 Abs. 2 SGB IX teilzunehmen. Die Mitgliedschaft dient vor allem dazu, an der Interessenvertretung und der Beratungskompetenz des Sozialverbandes Deutschland zu partizipieren. Der Kläger hat selbst in diesem Zusammenhang auf die "Vielzahl neuer gesetzlicher Vorschriften" Bezug genommen,

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über die er sich in seinem Verband beraten lassen will.

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Eine Mitgliedschaft im Sozialverband Deutschland zählt aber auch nicht zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 12 BSHG.

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Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer - die der ständigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts folgt (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 31.01.1990 - 4 A 128/88 -, FEVS 41, 185, 186) - orientiert sich der Begriff des notwendigen Lebensunterhalts an dem in § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG festgelegten Grundsatz, dass dem Hilfesuchenden die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglichen soll. Dem Hilfeempfänger soll es dabei ermöglicht werden, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Die Mitgliedschaft im Sozialverband Deutschland ist jedoch nicht für Hilfeempfänger - auch nicht für den Kläger - von derart existentieller Bedeutung, dass zwingend eine Übernahme der Mitgliedsbeiträge neben dem ohnehin zu gewährenden Regelsatz in Betracht kommt.

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Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.01.1994 - 5 C 29.91 - berufen. Denn der dort entschiedene Fall ist mit dem Fall des Klägers in keiner Hinsicht vergleichbar. Seinerzeit ging es um die Frage, ob der Mitgliedsbeitrag für den damaligen Reichsbund im Rahmen der Bedarfsberechnung vom Renteneinkommen abzusetzen war oder nicht. Das Bundesverwaltungsgericht bejahte diese Frage, weil die Mitgliedschaft im Reichsbund als geeignet angesehen wurde, die Erzielung eines Renteneinkommens zu fördern oder sicherzustellen. Würde der Kläger ein Renteneinkommen erzielen, so könnte er in der Tat die Mitgliedsbeiträge für den Sozialverband Deutschland gem. § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG davon absetzen mit der Folge, dass nur der Restbetrag bei der Bedarfsberechnung als Einkommen angesetzt werden dürfte. Vorliegend erzielt der Kläger jedoch kein Renteneinkommen, so dass sich die Frage der Absetzbarkeit von Beträgen vom Einkommen nicht stellt.

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§ 76 Abs. 2 BSHG regelt nur die Frage der Absetzbarkeit bestimmter Ausgaben vom Einkommen. Ansprüche auf Leistungen der Sozialhilfe - um überhaupt erst diese Ausgaben tätigen zu können - lassen sich aus dieser Vorschrift unter keinen Gesichtspunkten ableiten.

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Entgegen der Ansicht des Klägers stellt dies auch keine Diskriminierung Behinderter dar. Zu Recht weist der Kläger zwar sinngemäß auf die Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hin, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Der Kläger kann aber den Mitgliedsbeitrag für den Sozialverband Deutschland nicht etwa deshalb nicht absetzen, weil er behindert ist. Vielmehr scheitert eine Absetzung daran, dass er kein anrechenbares Einkommen bezieht, von dem der Mitgliedsbeitrag hätte abgesetzt werden können. § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG hat nur den Sinn, die Aufwendungen, die ein Hilfeempfänger für seine Einkommenserzielung hatte, vom Einkommen wieder abzurechnen, weil er "unter dem Strich" auch nur um dieses bereinigte Einkommen bereichert ist. Da, wo gar kein Einkommen erzielt wird, geht dieser Zweck ins Leere.

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Im Übrigen folgt das Gericht der Begründung des angefochtenen Bescheides der Landeshauptstadt Hannover vom 29.10.2001 und des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 19.03.2002 und sieht gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von der weiteren Begründung ab.

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Gründe für die Zulassung der Berufung gem. §§ 124 a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO sind nicht ersichtlich.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.