Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 18.04.2006, Az.: 5 B 11/06

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
18.04.2006
Aktenzeichen
5 B 11/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 44591
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2006:0418.5B11.06.0A

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: vorläufiger Rechtsschutz gegen einen Planfeststellungsbeschluss,

hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 5. Kammer - am 18. April 2006 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 20. Mai 2005 (5 A 161/05) gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 21. April 2005 wird wiederhergestellt.

    Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

    Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

  2. 2.

    Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30.000,- EUR' festgesetzt.

Gründe

1

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße durch das Gemeindegebiet der Beigeladenen.

2

Durch das Gemeindegebiet der Beigeladenen führt die Landestraße L 216 als Ortsdurchfahrt, Die L 216 verbindet die Bundesautobahn A 7 bei Garlstorf mit der Bundesautobahn A 250 im Ortsteil Ochtmissen der Antragstellerin. Das Gemeindegebiet der Antragstellerin grenzt an das Kreisgebiet des Antragsgegners und das Gemeindegebiet der Beigeladenen.

3

Bereits mit Beschluss vom 7. September 1992 hatte der Antragsgegner den Plan für den Bau einer "Ortskernentlastungsstraße" auf dem Gemeindegebiet der Beigeladenen festgestellt. Hiergegen hatten Nachbarn bei dem erkennenden Gericht Klagen erhoben und vorläufigen Rechtsschutz begehrt. Mit Beschlüssen vom 2. Juni 1993 (2 B 7/93 und 2 B 9/93) wurde die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss wiederhergestellt. Die hiergegen erhobene Beschwerde des Antragsgegners wies das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. Dezember 1993 (7 M 2914/93) zurück. Mit Gerichtsbescheid vom 26. April 1994 (2 A 213/92) hob das erkennende Gericht den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 7. September 1992 auf mit der Begründung, dass der Planfeststellungsbeschluss von einer unzuständigen Behörde erlassen worden sei. Bei der "Ortskernentlastungsstraße" handele es sich um eine Landesstraße, für die nicht als Planfeststellungsbehörde der Antragsgegner, sondern die Bezirksregierung zuständig sei. Der Planfeststellungsbeschluss sei darüber hinaus mangels einer zureichenden Verkehrsanalyse und Entlastungsprognose rechtswidrig.

4

Am 19. April 2004 beantragte die Beigeladene erneut bei dem Antragsgegner, ein Planfeststellungsverfahren für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße in ihrem Gemeindegebiet durchzuführen.

5

Hiergegen wandte die Antragstellern mit Schreiben vom 29. Juni 2004 ein, die in der Verkehrsuntersuchung prognostizierten Verkehrsbelastungen für das Jahr 2015 seien - auch im Hinblick auf die geplanten Baugebiete im Gebiet der Beigeladenen - zu niedrig geschätzt worden. Der Bau der geplanten Ortskernentlastungsstraße habe erhebliche Auswirkungen auf die Verkehrsbelastung der nach Lüneburg führenden Straßen Schnellenberger Weg und Brockwinkler Straße, die nicht entsprechend der zu erwartenden Verkehrsbelastung ausgebaut seien. Dieses belaste die angrenzenden Wohngebiete und führe zu nicht vertretbaren Verkehrsengpässen im Bereich des Städtischen Klinikums. Sie sei in planerischer Hinsicht von dem Vorhaben betroffen, weil der Bau der Ortskernentlastungsstraße erhebliche Auswirkungen auf die Verkehrsbelastungen im Bereich ihrer Bebauungsgebiete Scharperdrift/Teufelsküche/Auf der Höhe habe und in diesem Bereich auch die Beeinträchtigungen durch Verkehrslärm stark zunehmen werde. Die zukünftige Ausweisung von Baugebieten in diesem Bereich werde durch das geplante Vorhaben erheblich erschwert. Durch die Ortskernentlastungsstraße werde die direkte Anbindung des Böhmsholzer Weges, der der Erschließung des Böhmsholzer Waldes mit hoher Naherholungsfunktion diene, an die L 216 unterbrochen. Zudem würden verlängerte Fahrtwege produziert.

6

Mit Beschluss vom 21. April 2005 stellte der Antragsgegner den Plan für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße durch das Gemeindegebiet der Beigeladenen fest. Sie soll am westlichen Ortseingang von Reppenstedt in Höhe der Einmündung L 216/Schlesienstraße beginnen und dann in südöstlicher Richtung in einem Abstand von ca. 155 Metern zur vorhandenen Bebauung des Gewerbegebietes "Eulenbusch" verlaufen. Im weiteren Verlauf soll sie den Böhmsholzer Weg, den Wiesenweg und den Schnellenberger Weg kreuzen, um am östlichen Ortsausgang von Reppenstedt wieder an die L 216 anzuschließen. Die Knotenpunkte Schlesienstraße/L 216, Eulenbusch, Schnellenberger Weg und Einmündung in die L 216 am östlichen Ortsausgang sind als vier Kreisverkehrsplätze geplant. Der Wiesenweg soll keinen Anschluss an die Ortskernentlastungsstraße erhalten. Dort ist ein Fahrbahnteiler als Querungshilfe für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen! Nach der Begründung des Planfeststellungsbeschluss sei Ziel dieser gemeindlichen Planung die Herausnahme des Durchgangsverkehrs aus dem Ortskern, aber auch der gesamten Ortsdurchfahrt. Nach dem Verkehrsentwicklungsplan mit Stand Juli 2003 bewirke der Bau der Ortskernentlastungsstraße eine Entlastung der Ortsdurchfahrt um bis zu 10.600 Kfz/24h. Neben einer Verbesserung des Wohnumfeldes solle eine Attraktivitätssteigerung des Ortszentrums erreicht werden. Sogleich würden vorhandene Unfallgefahren und Behinderungen für den öffentlichen Personennahverkehr abgebaut. Die L 216 in der Ortsdurchfahrt Reppenstedt werde ohne Einschränkungen durchgängig befahrbar sein.

7

Gegen den Planfeststellungsbeschluss hat die Antragstellerin am 20. Mai 2005 die Klage 5 A 161/05 erhoben.

8

Mit Bescheid vom 2. Februar 2006 hat der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusse vom 21. April 2005 angeordnet.

9

Die Antragstellerin hat am 9. Februar 2006 die Gewährung vorläufigen Rechtschutzes beantragt.

10

Sie trägt vor, ihr Antrag sei zulässig, weil sie durch die beabsichtigte Straßenbaumaßnahme in ihren Rechten verletzt sein könne. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei nicht hinreichend begründet. Es werde lediglich die Behauptung aufgestellt, dass sich die Verkehrsdichte in der bestehenden Ortsdurchfahrt für die Zukunft derart erhöhen werde, dass mit verstärkten Verkehrsproblemen zu rechnen sei. Ebenso verhalte es sich mit der Behauptung, die jetzige Ortsdurchfahrt stelle einen Unfallschwerpunkt dar. Dass die Immissionsbelastung Grenzwerte erreiche, genüge ebenfalls nicht den Anforderungen an das öffentliche Interesse für die Anordnung des Sofortvollzuges. Auch der Umstand, dass der Straßenbaulastträger nunmehr nach langjährigem Planungsvorlauf die haushaltsrechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Maßnahme geschaffen habe, vermöge nicht das öffentliche Interesse am Sofortvollzug zu begründen. Schließlich sei der Planfeststellungsbeschluss rechtswidrig. Insoweit vertieft die Antragstellerin ihre bisherigen Einwendungen.

11

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage 5 A 161/05 gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 21. April 2005 wiederherzustellen.

12

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

13

Er trägt zur Begründung vor, es fehle der Antragstellerin an der Antragsbefugnis. Die Antragstellerin könne sich nicht auf eine Verletzung ihrer Planungshoheit berufen, da sie eine hinreichend konkretisierte oder verfestigte Planung nicht vorgetragen habe. Die Antragstellerin könne sich nicht mit Erfolg darauf berufen, das Erholungsgebiet Böhmsholzer Wald sei nur noch über eine verlängerte Fahrt erreichbar, was sich auf den landwirtschaftlichen Verkehr nachteilig auswirke. Die Geltendmachung einer Verkehrslärmzunahme für das Stadtgebiet der Antragstellerin begründe ebenfalls keine Antragsbefugnis. Das Recht auf Abwehr vermeintlicher Lärmimmissionen müsse vielmehr von den Anliegern selbst geltend gemacht werden. Eine nachhaltige Störung der Planung der Antragstellerin oder eine finanziell nicht unerhebliche Belastung seien nicht erkennbar. Das Interesse an der Vollziehung des Planfeststellungsinteresse überwiege das Aussetzungsinteresse der Antragstellern, weil der angefochtene Planfeststellungsbeschluss vom 21. April 2005 offensichtlich formell und materiell rechtmäßig sei/Dabei sei zu beachten, dass der Antragstellerin keine umfassende Überprüfungsmöglichkeit des Planfeststellungsbeschlusses zustehe, sondern sie lediglich die Verletzung der ihre Planungshoheit schützenden Belange geltend machen könne. Die Auswirkungen der Ortskernentlastungsstraße auf die Verkehrsmengen des Schnellenberger Weges seien so gering, dass sie unberücksichtigt bleiben könnten. Dass die im Verkehrsgutachten prognostizierte Verkehrsentwicklung fehlerhaft sei, sei nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Anbindung des Böhmsholzer Weges ergäben sich für die Betroffenen zumutbare Veränderungen. Untersuchungen über den Verkehrslärm in den Wohngebieten Teufelsküche/Scharperdrift seien nicht vorgenommen worden, weil auf diesem Gebiet keine wesentliche Verkehrszunahme zu erwarten sei. Aus diesem Grunde sei auch eine Erschwerung der Ausweisung zukünftiger Baugebiete nicht erkennbar. Schließlich könnten die unzureichenden Verkehrsverhältnisse in der Ortsdurchfahrt Reppenstedt nicht länger hingenommen werden. Die jetzige Ortsdurchfahrt stelle einen Unfallschwerpunkt da.

14

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

15

II.

Der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 5 A 161/05 gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 21. April 2005 hat Erfolg.

16

1. Der Antrag ist zulässig.

17

In analoger Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO ist der Antrag zulässig, wenn der Antragsteller antragsbefugt ist, das heißt, eine Verletzung in eigenen Rechten durch den Planfeststellungsbeschluss geltend machen kann (Hoppe/Schlarmann/Buchner, Rechtsschutz bei der Planung von Straßen und anderen Verkehrsanlagen, 3. Auflage 2001, Rn. 926). Greift ein Planfeststellungsbeschluss in den Aufgabenbereich einer Gemeinde ein, so kann sie sich gegen diesen Planfeststellungsbeschluss gerichtlich zur Wehr setzen, wenn die betroffenen gemeindlichen Aufgaben eigenverantwortlich zu regelnde Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne des Art. 28. Abs. 2 Satz 1 GG oder Selbstverwaltungsangelegenheiten im Sinne der entsprechenden Regelungen der jeweiligen Landesverfassung betreffen und als solche wehrfähig sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vermittelt insbesondere die gemeindliche Planungshoheit als Teilbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie eine wehrfähige, in die Abwägung einzubeziehende Rechtsposition gegen fremde Fachplanungen auf dem eigenen Gemeindegebiet. Ein Abwehrrecht gegen staatliche Fachplanungen steht der Gemeinde nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allerdings nur dann zu, wenn die Planungshoheit durch das planfestgestellte Vorhaben in qualifizierter Weise beeinträchtigt wird. Das ist der Fall, wenn das planfestgestellte Vorhaben "nachhaltig eine hinreichend bestimmte Planung der Gemeinde stört oder wegen seiner Großräumigkeit wesentliche Teile des Gemeindegebietes einer durchsetzbaren gemeindlichen Planung entzieht oder erheblich gemeindliche Einrichtungen beeinträchtigt" (BVerwG, Urt. v. 27.3.1992 - 7 C 18/91 -, BVerwGE 90, 96, 100; Hoppe u.a., a.a.O., Rn. 453 m.w.N.). Die Gemeinde kann sich auch gegen Vorhaben der Fachplanung außerhalb ihres Gemeindegebietes wehren, wenn von ihnen vergleichbare Auswirkungen auf ihre eigene gemeindliche Planung ausgehen (BVerwG, 15.12.1989 - 4 C 36/86 -, BVerwGE 84, 209, 215).

18

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Antragstellerin trägt vor, sie werde von der geplanten Ortskernentlastungsstraße in planerischer Hinsicht betroffen, weil aufgrund der erhöhten Verkehrsbelastung und der zunehmenden Beeinträchtigung durch Verkehrslärm die zukünftige Ausweisung von Baugebieten erheblich erschwert werde. Sie befürchte zudem eine Beeinträchtigung der bereits vorhandenen ausgewiesenen Baugebiete Teu-felsküche/Scharperdrift. Dazu heißt es in den Ergänzenden Betrachtungen des Verkehrsentwicklungsplans des Büros Hinz Juni 2002, Stand Juli 2003 (BA C zu 5 A 161/05, S. 7):

19

.....(28) Wird eine der beiden Anbindungen realisiert, erscheint die Anbindung am Schnellenberger Weg wirkungsvoller. Der Schnellenberger Weg ist dann aber auch eindeutig verkehrswichtige Straße mit entsprechendem Durchgangsverkehr/quartiersfremden Verkehr."

20

Wegen der danach nicht auszuschließenden erheblichen Zunahme des Durchgangsverkehrs auf dem Gebiet der Antragstellerin in bislang relativ verkehrsberuhigten Bereichen kann die Antragstellerin mithin eine Verletzung ihrer Planungshoheit geltend machen.

21

2. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet.

22

Bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmenden Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs zu betrachten, wobei allerdings nur eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage möglich und geboten ist. Ein Aussetzungsantrag ist danach in der Regel begründet, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Umgekehrt ist der Antrag in der Regel abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist.

23

Die Anfechtungsklage 5 A 161/05 wird voraussichtlich begründet sein, weil der Planfeststellungsbeschluss vom 2.1. April 2005 nach der hier gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage offensichtlich rechtswidrig ist.

24

Rechtsgrundlage für den Planfeststellungsbeschluss ist § 38 NStrG in der hier maßgeblichen (vgl. hierzu Schütz, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rdnr. 897 m. w. N.) zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Fassung vom 5. November 2004 (Nds. GVBI.-S. 406). Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift dürfen Landes- und Kreisstraßen nur gebaut oder verändert werden, wenn der Plan vorher festgestellt ist. Nach § 38 Abs. 1 Satz 2 des NStrG ist die Planfeststellung für den Bau oder die Änderung von Gemeindestraßen im Außenbereich zulässig. Gemäß § 38 Abs. 5 NStrG nehmen die Landkreise die Aufgaben der Planfeststellungsbehörde für die Kreisstraßen und für Gemeindestraßen, für die eine Planfeststellung durchgeführt wird, als Aufgabe des eigenen Wirkungskreises und für Bundes- und Landesstraßen als Aufgabe des übertragenen Wirkungskreises wahr. Diese Rechtsvorschriften sind nicht fehlerfrei angewandt worden.

25

a) Der Antragsgegner ist zwar zuständige Planfeststellungsbehörde für die geplante Ortskernentlastungsstraße. Er hätte seine Aufgabe als Planfeststellungsbehörde jedoch gemäß § 38 Abs. 5 Satz 1 NStrG nicht - wie tatsächlich erfolgt - als Aufgabe des eigenen Wirkungskreises, sondern als Aufgabe des übertragenen Wirkungskreises wahrnehmen müssen.

26

Bei der geplanten Straße handelt es sich nicht - wie der Antragsgegner meint - um eine Gemeindestraße, sondern um eine Landesstraße. Welcher Straßengruppe eine öffentliche Straße zugehörig ist, bestimmt sich nach ihrer objektiv zu ermittelnden Verkehrsbedeutung. Die Qualifikationsmerkmale sind nach dem erstrebten Endzustand der Straße zu bestimmen, soweit dieser erkennbar ist. Die Einstufung der Straße im Straßennetz steht deshalb nicht im Ermessen der Behörde (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 14.2.1994 - DVBI 1994, 1203; BVerwG, Beschl. v. 22.12.1994 - NVwZ 1995, 700; BVerwG, Urt. v. 11.11.1983-4 C 41.80-, DÖV 1984, 429). Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 NStrG sind Landesstraßen die Straßen, die innerhalb des Landesgebietes untereinander oder zusammen mit dem Bundes-. fernstraßen ein Verkehrsnetz bilden und überwiegend einem über das Gebiet benachbarter Landkreise und kreisfreier Städte hinausgehenden Verkehr, insbesondere dem Durchgangsverkehr, dienen oder zu dienen bestimmt sind. Demgegenüber sind(gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 NstrG Gemeindestraßen die Straßen, die überwiegend dem Verkehr innerhalb einer Gemeinde oder zwischen benachbarten Gemeinden dienen oder zu dienen bestimmt sind. Ist die Verlagerung des Durchgangsverkehrs gewollt, hat die geplante Straße die Verkehrsbedeutung einer Landesstraße.

27

Bei der geplanten Straße handelt es sich nach der von der Vorhabenträgerin intendierten Verkehrsbedeutung nicht um eine Gemeindestraße, sondern um eine Landesstraße. Nach Ziff. III Nr. 1 der allgemeinen Begründung des Planfeststellungsbeschlusses vom 21. April 2005 (S. 4) ist Ziel der gemeindlichen Planung die Herausnahme des Durchgangsverkehrs aus dem Ortskern, aber auch der gesamten Ortsdurchfahrt. Dies ergibt sich auch aus Ziff. III Nr. 3 der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses (S. 5/6), wonach die Nullvariante eindeutig dem Ziel der Gemeinde Reppenstedt widerspreche, den Ortskern von Durchgangsverkehr zu entlasten. Die geplante Straße soll danach den überörtlichen und örtlichen Durchgangsverkehr von der L 216 aufnehmen. Die zu entlastende Landesstraße L 216 verbindet die Bundesautobahn A 7 bei Garlstorf mit der Bundesautobahn A 250 im Ortsteil Ochtmissen der Antragstellerin und stellt somit eine wichtige Ost-West-Verbindung mit dem übergeordneten Straßennetz dar. Sie ist von ihrer Verkehrsbelastung mit den übrigen Bundesstraßen in diesem Raum zu vergleichen. Die Ortskernentlastungsstraße wird nach der Begründung im Planfeststellungsbeschluss im Wesentlichen jenen Verkehr, der bisher auf der L 216 stattfindet, auf sich ziehen. Sie wird damit dieselbe Verkehrsfunktion erfüllen wie die.L 216, zu der sie parallel verlaufen soll. Für die Annahme, dass es sich in Wahrheit bei der geplanten Straße um eine Landesstraße handelt, spricht zudem, dass sich die ganz überwiegende Wohnbebauung des Ortes Reppenstedt nördlich der Ortdurchfahrt befindet. Die geplante Straße, wird deshalb zum überwiegenden Teil nicht von den Einwohnern der Gemeinde Reppenstedt, sondern vom Durchgangsverkehr genutzt werden. Dies wird auch in den Ergänzenden Betrachtungen des Verkehrsentwicklungsplans des Büros Hinz Juni 2002, Stand Juli 2003 (BA C zu 5 A 161/05, S, 5) dargelegt:

28

"...(13) Aus den meisten Wohnquartieren Reppenstedts ist die Fahrt durch den Ortsbereich die kürzere und auch schnellere Alternative. In erster Linie nutzen Fahrten aus dem Gewerbebereich oder dem Wohnquartier Schlesienstraße die Entlastungsstraße, um zu den Einkaufseinrichtungen zu gelangen.

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(14) Fahrten aus Richtung Lüneburg (Rückfahrten z. B. von der Arbeit als gebrochene Heimfahrten ggf. mit Wohnsitz Reppenstedt) fahren zumeist weiterhin über die Lüneburger Landstraße zu den Geschäften am Wiesenweg. Auch wäre eine Nutzung der Entlastungsstraße mit deutlichen Umwegen verbunden. "

30

Danach wird der Ziel- und Quellverkehr auch nach dem Bau der geplanten Straße überwiegend durch die Ortsdurchfahrt verlaufen. Ferner hat die geplante Straße keine Erschließungsfunktion für die neu geplanten Baugebiete der Beigeladenen am Wiesenweg. Der Wiesenweg erhält nach der im Planfeststellungsbeschluss gewählten Variante keinen Anschluss an die Ortskernentlastungsstraße (Seite 5). Es ist lediglich ein Fahrbahnteiler als Querungshilfe für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen. Die Bewohner dieser neu geplanten Baugebiete sind damit auf die gegenwärtige Ortsdurchfahrt angewiesen und können nicht unmittelbar die geplante Ortskernentlastungsstraße nutzen. Dass die Ortskernentlastungsstraße daneben auch eine gewisse Erschließungsfunktion für das Gewerbegebiet südlich der L 216 haben wird, hat dem gegenüber für die Vorhaben- und Planungsträgerin nur eine untergeordnete Bedeutung. In der Planbegründung wird als dominierendes Motiv für das Straßenprojekt die Verlagerung des Durchgangsverkehrs hervorgehoben.

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Gegen die Qualifizierung der geplanten Straße als Landesstraße spricht nicht, dass nach dem Planfeststellungsbeschluss die gegenwärtige Ortsdurchfahrt nach den Vorstellungen des Antragsgegners und der Beigeladenen eine Landesstraße bleiben soll. Denn maßgeblich ist - wie oben bereits ausgeführt - nicht der Wille des Vorhaben- oder des Planungsträgers, sondern ob eine Straße noch der Einstufung gemäß § 3 NStrG entspricht. Entspricht die Einstufung einer Straße nicht mehr ihrer Verkehrsbedeutung, so ist sie gemäß § 7 Abs. 1 NStrG in die entsprechende Straßengruppe (§ 3 NStrG) umzustufen. Die Einstufung der Straße im Straßennetz steht damit nicht im Ermessen der Behörde.

32

Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass sich der Ausbau der jetzt geplanten Ortskernentlastungsstraße von der im Jahr 1992 geplanten Straße wesentlich unterscheidet. Das erkennende Gericht (Beschlüsse vom 2. Juni 1993-2 B 7/93 und 2 B 9/93-) und das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschl. v. 16.12.1993 - 7 M 2914/93-) haften bereits zu der im Jahr 1992 geplanten "Ortskernentlastungsstraße" ausgeführt, dass diese nach ihrer Verkehrsbedeutung als Landesstraße zu qualifizieren sei und dass ein "Etikettenschwindel" vorliege. Nichts anderes gilt für die im Jahr 2005 geplante Ortskernentlastungsstraße. Es ist nicht ersichtlich und vom Antragsgegner auch nicht vorgetragen, warum die im Jahr 2005 geplante Straße anders zu qualifizieren wäre als die im Jahr 1992 geplante "Ortskernentlastungsstraße". Die nunmehr geplante Ausgestaltung der Ortskernentlastungsstraße mit vier Kreisverkehren vermag an der Verkehrsbedeutung der geplanten Straße nichts zu ändern. Zum einen ist nicht ersichtlich, dass die geplante Anlage von Kreisverkehren gegen die Linienführung von Landesstraßen verstößt (vgl. dazu § 37 NStrG; Wendrich, NStrG, 4. Auflage 2000, § 37 Rn. 2). Zum anderen hätte eine Abweichung von der Linienführung durch die Anlage von Kreisverkehren keinen Einfluss auf die Verkehrsbedeutung der geplanten Straße als Landesstraße, die - auch mit Kreisverkehren - überwiegend den Durchgangsverkehr aus der Ortsdurchfahrt der Beigeladenen nehmen soll.

33

Ist die geplante Straße mithin eine Landesstraße, hat der Antragsgegner seine Aufgabe als Planfeststellungsbehörde gemäß § 38 Abs. 5 NStrG fehlerhaft nicht als Aufgabe im übertragenen Wirkungskreis wahrgenommen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Planfeststellungsbeschluss inhaltsgleich erlassen worden wäre, wenn der Antragsgegner von vorn herein lediglich im übertragenen Wirkungskreis als Planfeststellungsbehörde zuständig gewesen wäre. Bei dem angegriffenen Planfeststellungsbeschluss handelt es sich nämlich nicht um eine gebundene, sondern um eine Planungsentscheidung. Charakteristisch für eine solche Entscheidung ist regelmäßig die planerische Gestaltungsfreiheit der Planfeststellungsbehörde. Der gesetzliche Rahmen für den Bau einer Landesstraße weicht jedoch für den für eine Gemeindestraße geltenden Vorschriften in entscheidenen Punkten ab. Handelt es sich bei der geplanten Straße um eine Landesstraße, müsste das Land als Träger der Straßenbaulast gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 NStrG die finanzielle Verantwortung dafür tragen. Bei einer Landesstraße obliegt ferner dem zuständigen Minister gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 NStrG die Planung und Linienführung, wobei die Grundsätze und Ziele der Raumordnung und Landesplanung zu beachten sind (§ 37 Abs. 1 Satz 2 NStrG). Unterschiede bestehen hinsichtlich der Errichtung von Zufahrten der Straßenanlieger (§ 20 Abs. 2 NStrG) sowie der Errichtung baulicher Anlagen (§ 24 Abs. 1 NStrG; vgl. dazu Nds. OVG, Beschl. v. 11.1.2006-7 ME 288/04-).

34

Die fehlerhafte Klassifizierung der geplanten Straße führt dazu, dass der Antragsgegner nicht als Planfeststellungsbehörde im übertragenen Wirkungskreis gehandelt hat, und damit zur formellen Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses vom 21. April 2005.

35

b) Der Planfeststellungsbeschluss vom 21. April 2005 ist auch deshalb rechtswidrig, weil es an der sachlichen Zuständigkeit der Beigeladenen zur Errichtung und Unterhaltung der geplanten Ortkernentlastungsstraße fehlt. Mit dem Planfeststellungsbeschluss vom 21. April 2005 ist der Beigeladenen rechtsfehlerhaft die Genehmigung für den Bau der Ortskernentlastungsstraße erteilt worden, denn sie ist nicht die sachlich zuständige Straßenbaulastträgerin für die geplante Ortkernentlastungsstraße.

36

Träger der Straßenbaulast für Landesstraßen ist nach § 43 Abs. 1 Satz 1 NStrG das Land Niedersachsen. Da - wie bereits oben dargelegt - die geplante Straße eine Landesstraße i.S. d. §3 Abs. 1 Nr. 1 NStrG ist, ist Träger der Straßenbaulast für die geplante Ortskernentlastungsstraße das Land Niedersachsen. Die Straßenbaulast des Landes ist auch nicht wirksam auf die Beigeladene übertragen worden. Nach § 45 Abs. 1 NStrG findet § 43 NStrG keine Anwendung, soweit die Straßenbaulast nach anderen gesetzlichen Vorschriften Dritten obliegt oder von diesen in öffentlich-rechtlich wirksamer Weise übernommen wird. Eine Straßenbaulast der Beigeladenen ergibt sich jedoch weder aus anderen gesetzlichen Vorschriften, noch liegt ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen dem Land und der Beigeladenen über die Übernahme der Straßenbaulast vor Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 NStrG, wonach der zuständige Minister die Straßenbaulast auf andere Selbstverwaltungskörperschaften auf deren Antrag übertragen kann, liegen nicht vor. Dies hatte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht ebenfalls bereits zu der im Jahr 1992 geplanten "Ortskernentlastungsstraße" ausgeführt (Beschl. v. 16.12.1993-7 M 2914/93-).

37

Nach alledem wäre das Land Niedersachsen zuständiger Vorhabenträger im Planfeststellungsverfahren. Das Land Niedersachsen hat jedoch weder einen Antrag auf Planfeststellung gestellt, noch verpflichtet der Planfeststellungsbeschluss das Land zum Bau der geplanten Straße. Der Planfeststellungsbeschluss vom 21. April 2005 ist mithin auch aus diesem Gründe rechtswidrig.

38

c) Mit den Rügen der Unzuständigkeit des Planfeststellungsträgers im eigenen Wirkungskreis und der sachlichen Unzuständigkeit der Beigeladenen als Straßenbaulast- und Vorhabenträgerin ist die Antragstellerin nicht gemäß § 73 Abs: 4 Satz 3 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 NVwVfG präkludiert. Gemäß § 73 Abs. 4 Satz 3 VwVfG sind mit Ablauf der Einwendungsfrist im Planfeststellungsverfahren alle dort nicht erhobenen Einwendungen ausgeschlossen, die nicht auf besonderen privatrechtlichen Titeln beruhen. Die Antragstellerin hat sich im Planfeststellungsverfahren gegen die Beeinträchtigung ihrer Planungshoheit gewandt. Diese Rüge genügt den Anforderungen an eine Einwendung, weil sie zumindest in groben Zügen erkennen lässt, welche Rechtsgüter als gefährdet angesehen und welche Beeinträchtigungen befürchtet werden (vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.10.1986 - 7 D 2/86 -, NVwZ 1987, 341). Die fehlerhafte Klassifizierung der Straße und die fehlende sachliche Zuständigkeit der Beigeladenen für die Errichtung der geplanten Straße hat die Antragstellerin zwar nicht gerügt. Hierbei handelt es sich indes nicht um eine gesondert zu kennzeichnende Einwendung im Sinne von § 73 Abs. 4 Satz 3 VwVfG. Denn nicht erforderlich ist eine Mitwirkung des Betroffenen in Bezug auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften, die unabhängig von den konkreten Rechten und Interessen der Betroffenen den rechtlichen Rahmen des Planfeststellungsverfahrens bilden (vgl. Nds. OVG, Besohl, v. 11.1. 2006 - 7 ME 288/40 -).

39

d) Ob - wie die Antragstellerin vorträgt - keine zureichende Verkehrsanalyse und Entlastungsprognose vorliegt, kann nach alledem dahinstehen.

40

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO. Der Wert des Streitgegenstandes wird in Anlehnung an Ziffer II,34.3. i. V. ml Ziffer II.2.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - Fassung 7/2004 (NVwZ 2004, 1327) im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf 30.000,— EUR festgesetzt.