Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 25.09.2017, Az.: 10 B 8095/17
Anhörung; Asylverfahren; Belehrungspflicht; Doppelte Zustellung; Ladungsschreiben; Rücknahmefiktion; vorläufiger Rechtsschutz; Zustellungsfiktion; Zustellungsvorschriften
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 25.09.2017
- Aktenzeichen
- 10 B 8095/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 53985
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 10 Abs 2 AsylVfG
- § 33 Abs 2 S 1 Nr 1 AsylVfG
- § 33 Abs 4 AsylVfG
- § 33 Abs 5 AsylVfG
- § 74 Abs 1 Halbs 2 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Kein Beginn der Klage- und Antragsfrist durch fingierte Zustellung des Bescheides, wenn das Bundesamt nach erfolgloser Zustellung selbst einen neuerlichen Zustellungsversuch unternimmt.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 12. September 2017 gegen die in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. August 2017 ausgesprochene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben gambischer Staatsangehöriger. Er reiste ebenfalls eigenen Angaben zufolge am 2. März 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 9. März 2017 einen formellen Asylantrag. In seiner ersten Befragung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Antragsgegnerin gab der Antragsteller an, u. a. über Mali, Ägypten, Italien und die Schweiz in die Bundesrepublik gereist zu sein. Nach den Ermittlungen des Bundesamts war der Antragsteller im Besitz eines Schengen-Visums der deutschen Botschaft mit einer Gültigkeit von 1. bis 10. März 2017; der Antragsteller bestritt dies in seiner Anhörung.
Mit Schreiben des Bundesamts vom 21. Mai 2017 wurde der Antragsteller unter seiner damals bekannten, von der Region Hannover als Amtsvormund mitgeteilten Wohnanschrift zu einer persönlichen Anhörung am 14. August 2017, 09.30 Uhr in Düsseldorf geladen. Das Schreiben enthielt in einem Kasten folgenden Hinweis: „Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Asylantrag nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, wenn Sie zu diesem Termin nicht erscheinen. Dies gilt nicht, wenn Sie unverzüglich nachweisen, dass Ihr Nichterscheinen auf Hinderungsgründe zurückzuführen war, auf die Sie keinen Einfluss hatten. Im Falle einer Verhinderung durch Krankheit müssen Sie unverzüglich die Reise- und/oder Verhandlungsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachweisen, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt nicht. Wenn Sie bei der Krankenkasse als arbeitsunfähig gemeldet sind, müssen Sie dieser die Ladung zum Termin unverzüglich mitteilen. Können Sie dem Bundesamt keinen Nachweis über die Hinderungsgründe vorlegen, entscheidet das Bundesamt ohne weitere Anhörung nach Aktenlage, ob Abschiebungsverbote vorliegen.“
Ausweislich einer Postzustellungsurkunde vom 23. Juni 2017 wurde die Ladung nicht zugestellt, weil der Antragsteller unbekannt verzogen sei. Zum Anhörungstermin am 14. August 2017 erschien der Antragsteller nicht. Das Bundesamt stellte sodann mit Bescheid vom 18. August 2017 fest, dass der Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen gelte und das Asylverfahren eingestellt sei (Nr. 1). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor (Nr. 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen; sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Gambia abgeschoben (Nr. 3). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller zum Anhörungstermin nicht erschienen sei und keine Hinderungsgründe dargelegt habe.
Hiergegen hat der Antragsteller am 12. September 2017 Klage erhoben – 10 A 8094/17 –, über die noch nicht entschieden ist, und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
Er beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung seiner zum Aktenzeichen 10 A 8094/17 erhobenen Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. August 2017 ausgesprochene Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Einen Antrag auf Wiederaufnahme des Asylverfahrens hat der Antragsteller nach Aktenlage bisher nicht gestellt.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
Die Entscheidung ergeht aufgrund von § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, da die Klage gegen den Einstellungsbescheid vom 18. August 2017 gemäß § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung hat. Der am 12. September 2017 eingereichte Eilantrag gegen die Abschiebungsandrohung (Ziffer 3) in dem Bescheid der Antragsgegnerin ist auch innerhalb der zweiwöchigen Klagefrist erhoben worden (§ 74 Abs. 1 HS. 1 AsylG).
Zwar ist ein erster Zustellversuch am 21. August 2017 an die zuletzt behördlich mitgeteilte Adresse erfolglos geblieben, der eine wirksame Zustellung nach § 10 Abs. 2 AsylG hätte begründen können. Nachdem die Antragsgegnerin den Bescheid ausweislich des von ihr übermittelten Vorgangs am 30. August 2017 erneut an dessen aktuelle Anschrift versandt hat, leitet sie selbst aus dem früheren Zustellversuch keine Rechte her. Nachdem der Bescheid unter allen denkbaren Umständen frühestens am Tag der Aufgabe zur Post zugegangen sein kann, hat der Antragsteller seinen Antrag noch bis zum 13. September 2017 fristgerecht stellen können.
Die Klagefrist ist nicht nach § 74 Abs. 1 Hs. 2 AsylG auf eine Woche verkürzt, weil weder ein Fall des § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG (Anordnung der Abschiebung in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat) noch des § 36 Abs. 3 S. 1 und 10 AsylG (Unbeachtlichkeit bzw. offensichtliche Unbegründetheit des Asylantrages sowie Klagen gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes) vorliegt. Auch aus § 33 Abs. 6 AsylG ergibt sich keine Verkürzung der Klage- und Antragsfrist, weil von diesem Verweis nur Entscheidungen des Bundesamtes nach § 33 Abs. 5 Satz 6 AsylG – also über die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag – erfasst sind.
Dem Antrag fehlt auch nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil der Antragsteller vorliegend auf die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrages gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG als einfachere und effektivere Möglichkeit zur Realisierung seines Rechtsschutzziels verwiesen werden könnte. Dem Asylbewerber soll durch den Wiederaufnahmeantrag die Möglichkeit der Heilung eines einmaligen Fehlverhaltens eingeräumt werden; die erstmalige Einstellung entfaltet somit lediglich Warncharakter (vgl. BT-Drs. 18/7538, S.17). Der Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG legt indes nahe, dass die erste Wiederaufnahmeentscheidung nach § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann sperrt, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG rechtwidrig gewesen ist. Damit handelt es sich bei dem Wiederaufnahmeverfahren aber um kein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren, dass das Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz entfallen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris, Rn. 8).
2. Der Antrag erweist sich auch als begründet. Es bestehen bei der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen zu behandeln und das Asylverfahren einzustellen. Damit überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorläufig von den Wirkungen des kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Bescheids verschont zu bleiben, das entgegenstehende öffentliche Interesse.
Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer oder die Ausländerin das Verfahren nicht betreibt. Das Nichtbetreiben wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG gesetzlich vermutet, wenn der Ausländer bzw. die Ausländerin einer Aufforderung zur Anhörung nach § 25 AsylG nicht nachgekommen ist.
Die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier nach Aktenlage insofern erfüllt, als der Antragsteller zu der am 14. August 2017 anberaumten Anhörung nicht erschienen ist.
Allerdings setzt das Eingreifen der Fiktion der Rücknahme des Asylantrags wegen Nichtbetreibens nach § 33 Abs. 1 AsylG wegen der damit verbundenen weitreichenden Konsequenzen voraus, dass der Ausländer gemäß § 33 Abs. 4 AsylG schriftlich und gegen Empfangsbestätigung speziell auf diese Rechtsfolgen hingewiesen wurde. Dies ist hier nach Aktenlage nicht ersichtlich.
Einen Hinweis, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, wenn der Antragsteller zur persönlichen Anhörung nicht erscheine, enthält zwar das Ladungsschreiben zur Anhörung vom 21. Juni 2017. Dieses Ladungsschreiben vermag jedoch keine Rücknahmefiktion zu begründen, weil keine Empfangsbestätigung im Sinne von § 33 Abs. 4 AsylG vorliegt. Der Antragsteller hat das Ladungsschreiben ausweislich der Postzustellungsurkunde gar nicht erhalten, sondern es wurde als unzustellbar zurückgesandt.
Es genügt insofern nicht, dass das Ladungsschreiben nach § 10 Abs. 2 AsylG von Gesetzes wegen als zugestellt gilt, weil es an die letzte behördlich mitgeteilte Anschrift versandt worden ist. Dies mag im Rahmen der allgemeinen Zustellungsvorschriften des § 10 AsylG im normalen Schriftverkehr genügen, um etwa Fristen in Gang zu setzen. Es ersetzt aber weder ein Empfangsbekenntnis, noch lässt sich aus einer Zustellungsfiktion ein subjektiver Wille des Antragstellers konstruieren, das Verfahren nicht weiter zu betreiben. Ebenso wenig kann vermutet werden, dass der Antragsteller der Anhörung schuldhaft ferngeblieben ist, wenn schon nicht erkennbar ist, ob er die Ladung überhaupt zur Kenntnis hat nehmen können. Nach § 33 Abs. 4 AsylG setzt die Rücknahmefiktion daher die tatsächliche Kenntnisnahme der Belehrung des Antragstellers voraus, die bei der Zustellung durch Postzustellungsurkunde durch Vermerke wie „keine Ersatzzustellung“ sichergestellt werden kann und im Übrigen anhand der Zustellungsvermerke über eine persönliche Übergabe oder Ersatzzustellung nachprüfbar ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).