Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 09.09.2020, Az.: 11 W 27/20
Beschwerde gegen die Zurückweisung eines gegen einen medizinischen Gerichtssachverständigen gerichteten Ablehnungsantrags; Voreingenommenheit des abgelehnten Sachverständigen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 09.09.2020
- Aktenzeichen
- 11 W 27/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 45705
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2020:0909.11W27.20.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 29.07.2020 - AZ: 7 O 1613/17
Rechtsgrundlagen
- § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO
- § 406 Abs. 5 ZPO
Fundstellen
- BauR 2021, 856-858
- BauSV 2020, 77-78
- DS 2021, 168
- GuG 2021, 123-125
- IBR 2020, 672
- KfZ-SV 2021, 33-35
- NJW-Spezial 2020, 686
- r+s 2022, 57-58
Amtlicher Leitsatz
Aus der Sicht eines Ablehnenden kann es als Voreingenommenheit des abgelehnten Sachverständigen verstanden werden, wenn dieser auf die Bitte des Gerichts um eine ergänzende Stellungnahme mitteilt, dass er dafür erneut die Akte studieren müsse, er aber bereits wisse, dass sich "mit hoher Wahrscheinlichkeit" keine neuen Erkenntnisse ergeben werden.
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 29.07.2020 abgeändert und das Ablehnungsgesuch des Klägers gegen den Sachverständigen Dr. med. H. für begründet erklärt.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf eine Wertstufe bis 65.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich mit seiner sofortigen Beschwerde gegen die Zurückweisung seines gegen einen medizinischen Gerichtssachverständigen gerichteten Ablehnungsantrags durch das Landgericht Braunschweig.
Die Parteien streiten um Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung.
Mit Beweisbeschluss vom 07.08.2018 (Bl. 168 ff. d.A.) hat das Landgericht die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu der Behauptung des Klägers angeordnet, er sei seit dem 24.06.2013, spätestens jedoch seit August 2016 infolge einer depressiven Erkrankung außer Stande, den zuletzt ausgeübten Beruf zu einem Leistungsanteil von mehr als 50 % auszuüben. Dem Sachverständigen wurde aufgegeben, seinem Gutachten zunächst nur die von dem Kläger behauptete - im Einzelnen aber bestrittene - bisherige Tätigkeitsbeschreibung zugrunde zu legen. Zum Sachverständigen wurde Herr Dr. L. H. bestellt.
Der Sachverständige hat mit Schreiben vom 11.09.2018 gegenüber dem Landgericht Braunschweig mitgeteilt, dass eine neuropsychologische Zusatzbegutachtung zur Beschwerdevalidierung erforderlich sei, um ausreichend belastbare Befunde zu erheben. Er hat insoweit eine Begutachtung durch Herrn PD Dr. B., H.. angeregt (Bl. 180 d.A). Das Landgericht Braunschweig hat daraufhin mit Beschluss vom 19.10.2018 den genannten Sachverständigen mit der Erstellung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens beauftragt (vgl. Bl. 183 d.A.).
Der Sachverständige Dr. B. hat unter dem 28.01.2019 sein Zusatzgutachten (vgl. Gutachtenband) erstattet. Dieses wurde dem Sachverständigen Dr. H., versehentlich jedoch nicht den Parteivertretern zur Verfügung gestellt. Unter dem 27.06.2019 hat der Sachverständige Dr. H. sein Gutachten erstattet (vgl. Gutachtenband).
Mit Verfügung vom 09.07.2019 (Bl. 198 d.A.) wurde das Gutachten des Sachverständigen Dr. H. an die Parteivertreter zur Stellungnahme bis zum 06.08.2019 übersandt. Nachdem der Klägervertreter das Gericht - zunächst mehrfach erfolglos - um die Übersendung des Zusatzgutachtens des Sachverständigen Dr. B. gebeten hatte, wurde die Stellungnahmefrist zuletzt bis zum 31.01.2020 verlängert.
Der Kläger hat am 30.09.2019 den Sachverständigen Dr. H. wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zu den Einzelheiten der genannten Ablehnungsgründe wird verwiesen auf den Schriftsatz des Klägervertreters vom 30.09.2019 (Bl. 214 ff. d.A.).
Nachdem zunächst versehentlich der Sachverständige Dr. B. um Stellungnahme zu dem Ablehnungsgesuch gebeten wurde, erhielt der Sachverständigen Dr. H. das Ablehnungsgesuch des Klägers erst mit Verfügung vom 18.03.2020. Ihm wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 04.05.2020 eingeräumt.
Der Sachverständige Dr. H. hat am 22.06.2020 gegenüber dem Landgericht mitgeteilt, dass er infolge der Corona-Pandemie bisher zu einer Stellungnahme nicht in der Lage gewesen sei. Weiter hat er ausgeführt, dass "eine konkrete Stellungnahme zu den umfangreichen Vorwürfen [ ] ein erneutes Aktenstudium erfordern und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu keinen neuen Erkenntnissen" führen würde. Zu näheren Einzelheiten wird verwiesen auf das Schreiben des Sachverständigen Dr. H. vom 22.06.2020 (Bl. 299 d.A.).
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 09.07.2020 dieses Schreiben zum Anlass genommen, erneut Ausführungen zur Befangenheit des Sachverständigen zu machen. Danach lasse das Schreiben des Sachverständigen Dr. H. erkennen, dass dieser nicht gewillt sei, sich weiter mit den für den Kläger existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. Die Darlegung eines antizipierten Ergebnisses habe deutlich seine Voreingenommenheit gezeigt. Zu weiteren Einzelheiten dieser Stellungnahme wird verwiesen auf den Schriftsatz des Klägervertreters vom 09.07.2020 (Bl. 301 f. d.A.).
Das Landgericht Braunschweig hat den Ablehnungsantrag des Klägers mit Beschluss vom 29.07.2020 (Bl. 303 ff. d.A.) als unbegründet zurückgewiesen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beschluss Bezug genommen.
Der Beschluss ist dem Klägervertreter am 05.08.2020 zugestellt worden. Er hat mit Schriftsatz vom 07.08.2020 sofortige Beschwerde eingelegt. Das Landgericht habe es insbesondere unterlassen, sich mit dem von ihm im Schriftsatz vom 09.07.2020 erhobenen Bedenken gegen den Sachverständigen Dr. H. auseinanderzusetzen.
Die Beklagte und der Streithelfer beantragen, die sofortige Beschwerde des Klägers zurückzuweisen. Sie verteidigen die landgerichtliche Entscheidung.
Das Landgericht Braunschweig hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 31.08.2020 nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 31.08.2020 Bezug genommen.
II.
Die sofortige Beschwerde des Klägers ist gem. §§ 567 Abs. 1 Nr. 1, 406 Abs. 5 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist sie innerhalb der Notfrist gem. § 569 Abs. 1 ZPO eingelegt worden.
Die sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Die Ablehnung eines Sachverständigen findet statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 406 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO). Es muss sich dabei um Tatsachen oder Umstände handeln, die vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung erwecken können, der Sachverständige stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber (vgl. BGH, Beschluss vom 11.04.2013 - VII ZB 32/13 -, juris Rn. 10). Nicht erforderlich ist, dass der Sachverständige tatsächlich befangen ist; entscheidend ist allein, ob aus Sicht des Ablehnenden genügend objektive Gründe vorliegen, die nach der Meinung einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, an dessen Unvoreingenommenheit zu zweifeln (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.09.2019 - II-3 WF 92/19 -, juris Rn. 14). Die angebliche oder tatsächliche Unrichtigkeit einer sachverständigen Feststellung oder Bewertung kann dagegen grundsätzlich nicht im Wege einer Ablehnung der Besorgnis der Befangenheit geltend gemacht werden, da diese kein Mittel zur Fehlerkontrolle ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 24.11.2014 - 4 W 90/14 -, juris Rn. 28). Mangel an Sachkunde, Unzulänglichkeiten oder Fehlerhaftigkeit im Gutachten rechtfertigen für sich allein aber nicht die Ablehnung des Sachverständigen wegen Befangenheit (BGH, Beschluss vom 15. März 2005 - VI ZB 74/04 -, Rn. 14, juris). Derartiges gibt allenfalls Anlass, eine ergänzende erläuternde Stellungnahme anzufordern oder die mündliche Anhörung des Sachverständigen zu veranlassen (OLG Hamm, Beschluss vom 28. Januar 2010 - I-1 W 82/09 -, Rn. 6, juris)
Diese Maßstäbe zu Grunde gelegt hat die sofortige Beschwerde des Klägers Erfolg. Die Reaktion des Sachverständigen Dr. H. in seinem Schreiben gegenüber dem Gericht vom 22.06.2020 vermag vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei vernünftiger Betrachtung durchaus die Befürchtung erwecken, der Sachverständige stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber.
Dabei kann dahinstehen, ob der Sachverständige Dr. H. die Pflicht hatte, sich zum Ablehnungsgesuch des Klägers zu äußern. Ihm wurde vom Landgericht mit Verfügung vom 18.03.2020 dazu Gelegenheit gegeben und er hat davon - wenn auch in sehr kurzer Form - Gebrauch gemacht. Das Schreiben des Sachverständigen vom 22.06.2020 wiederum wurde dem Kläger zur Kenntnis gebracht. Damit war es aber auch grundsätzlich geeignet, objektive Gründe dafür zu liefern, bei ihm - dem Kläger - die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.
Der Sachverständige hat in seinem Schreiben vom 22.06.2020 ausgeführt, dass er bereit sei, sich zu dem Ablehnungsgesuch des Klägers zu äußern, eine konkrete Stellungnahme zu den umfangreichen "Vorwürfen" ein erneutes Aktenstudium erfordere, das wiederum aber "mit hoher Wahrscheinlichkeit ... zu keinen neuen Erkenntnissen" führen werde. Diese Äußerung vermag vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei vernünftiger Betrachtung durchaus die Befürchtung erwecken, der Sachverständige stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber. Auch wenn der Sachverständige eine Stellungnahme oder Mitwirkung an einem Ergänzungsgutachten nicht verweigert hat, so hat er doch aus Sicht eines Ablehnenden deutlich gemacht, dass die Mitwirkung seinerseits "mit hoher Wahrscheinlichkeit zu keinen neuen Erkenntnissen" führen wird.
Der Kläger hat im Rahmen seines Ablehnungsgesuches umfangreich und unter Nennung konkreter Angriffspunkte das Gutachten als an vielen Stellen ungenügend sowie ergänzungs- und korrekturbedürftig bemängelt. Es lasse Mindeststandards vermissen, setzte sich nicht ausreichend mit der Beweisfrage auseinander, lege teilweise falsche Tatsachen zu Grunde und knüpfe an falsche Zeitpunkte an. Insbesondere habe sich der Sachverständige an keiner Stelle inhaltlich mit der von dem Kläger ausgeübten Tätigkeit befasst, obwohl ihm dies vom Gericht im Gutachtenauftrag ausdrücklich aufgegeben worden sei. Insoweit könne dann aber auch nicht nachvollzogen werden, wie der Sachverständige ohne diese Anknüpfungstatsachen zu dem Ergebnis habe gelangen können, dass es nicht wahrscheinlich sei, dass der Kläger außerstande war, den zuletzt ausgeübten Beruf zu einem Leistungsanteil von mehr als 50 % auszuüben.
Insoweit ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass sich aus diesen Angriffen selbst die Besorgnis der Befangenheit nicht begründen lässt. Denn wie bereits dargestellt begründen inhaltliche Mängel des Gutachtens oder die mangelnde Sorgfalt des Gutachters die Besorgnis der Befangenheit nicht, sondern geben vielmehr Anlass, eine ergänzende erläuternde Stellungnahme anzufordern oder die mündliche Anhörung des Sachverständigen zu veranlassen.
Der Sachverständige Dr. H. hat in seinem Schreiben vom 22.06.2020 ausgeführt, dass es eines erneuten Aktenstudiums bedarf, um zu den umfangreichen Ausführungen des Klägers und dessen "Vorwürfen" Stellung nehmen zu können. Indem der Sachverständige dann aber dennoch - ohne ein erneutes Aktenstudium - seine Einschätzung bekundet hat, dass sich "mit hoher Wahrscheinlichkeit" keine neuen Erkenntnisse ergeben werden, konnte aus Sicht des Klägers durchaus der Eindruck entstehen, der Sachverständige habe sich bereits festgelegt, sei nicht gewillt, sein Gutachten auch unter Hinzunahme der klägerischen Kritik zu überprüfen und sei dementsprechend zu einer unvoreingenommenen Gutachtenerstattung nicht bereit. Wenn nämlich der Sachverständige ausführt, er benötige für eine Stellungnahme ein erneutes Aktenstudium, kenne aber unabhängig davon bereits das "hochwahrscheinliche Ergebnis", so kann dies aus Sicht des Ablehnenden durchaus als Voreingenommenheit verstanden werden.
Das Ablehnungsgesuch des Klägers ist daher als begründet anzusehen, ohne dass es auf die weiteren Ablehnungsgründe ankommt.
III.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil für das erfolgreiche Beschwerdeverfahren gem. § 1812 KV GKG keine Gerichtskosten anfallen und die außergerichtlichen Kosten der Parteien Kosten des Rechtsstreits sind.
Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, weil die in § 574 ZPO genannten Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind. Es handelt sich um eine Entscheidung aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren war gem. §§ 47, 48 GKG i. V. m. § 3 ZPO auf ein Drittel des Hauptsachestreitwerts festzusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 15.12.2003 - II ZB 32/03 -, juris).