Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 10.04.2015, Az.: 5 B 122/15

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
10.04.2015
Aktenzeichen
5 B 122/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 32347
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2015:0410.5B122.15.0A

In der Verwaltungsrechtssache
XXX
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg, - C. -
Antragsgegnerin,
Streitgegenstand: Asylrecht - Eilverfahren
Dublin (Abschiebungsanordnung Niederlande)
- hier: Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO -
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 5. Kammer - am 10. April 2015 durch die Einzelrichterin beschlossen:

Tenor:

Unter Abänderung des Beschlusses vom 08. April 2014 (Az. 7 B 197/14) wird die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. März 2014 verfügte Abschiebungsanordnung in die Niederlande angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt unter Abänderung des Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 08. April 2014 (Az. 7 B 197/14) vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung ihrer Abschiebung in die Niederlande.

Die Antragstellerin reiste am 08. November 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15. November 2013 einen Asylantrag. Aufgrund der Angaben der Antragstellerin und nach einem Abgleich mit der Eurodac-Datenbank erfolgte am 12. März 2014 ein Übernahmeersuchen nach Art. 16 Abs. 1 e der Dublin II VO an die Niederlande. Mit Schreiben vom 13. März 2014 erklärten sich die Niederlande für zuständig für die Bearbeitung des Asylantrages nach Art. 18 Abs. 1 d Dublin III VO.

Mit Bescheid vom 17. März 2014, der Antragstellerin am 20. März 2014 zugestellt, hat die Antragsgegnerin den Asylantrag für unzulässig erklärt und die Abschiebung in die Niederlande angeordnet.

Am 27. März 2014 hat die Antragstellerin Klage gegen diesen Bescheid erhoben und einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Sie rügte die Nicht-Einhaltung der Fristen zwischen Antragstellung und Übernahmegesuch.

Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat diesen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 08. April 2014 abgelehnt. Zur Begründung wurde die Fristenproblematik geprüft und festgestellt, dass sämtliche Fristen eingehalten wurden. Durchgreifende Gründe für die Annahme systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen wurden verneint.

Am 24. Juni 2014 wurde die Klägerin in die Niederlande abgeschoben.

Nach einer eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin wurde sie in den Niederlanden von der Flughafenpolizei Amsterdam mit den Worten empfangen, dass sie nach Somalia zurückzugehen habe und sie bei fehlender Mitarbeit an ihrer Rückreise weder Geld noch Unterkunft erhalte. Danach habe man ihr gesagt, sie solle gehen. Auf die Nachfrage der Antragstellerin, wo sie hingehen solle und mit welchem Geld, wurde ihr mitgeteilt, man könne ihr nicht helfen. Die Antragstellerin trägt vor, sie habe für zwei Monate Unterkunft bei einer Türkin gefunden, die sie am Flughafen angesprochen habe. Auch ihr weiterer Versuch, einen Asylfolgeantrag zu stellen, sei von der niederländischen Antragstelle unter Hinweis auf das erfolglose erste Asylverfahren abgewiesen worden. Ende August 2014 reiste die Antragstellerin wieder nach Deutschland.

Mit Schriftsatz vom 20. Februar 2015 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 08. April 2014 im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.

Zur Begründung führt sie aus, es seien zwischenzeitlich Umstände des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Niederlanden zu berücksichtigen, die dem Gericht zum Zeitpunkt des ersten Eilrechtsschutzbeschlusses offensichtlich nicht vorgelegen hätten. In den Niederlanden sei es mittlerweile so, dass abgelehnte Asylbewerber, die nicht bereit oder in der Lage sind, in ihre Heimatländer zurückzukehren oder an ihrer Rückkehr dorthin mitzuwirken, obdachlos werden und nicht mit Nahrungsmitteln oder Geld versorgt werden. Dies sei auch der Antragstellerin bei ihrer Rückkehr in die Niederlande widerfahren. Es sei insoweit nicht sicher auszuschließen, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr in die Niederlande wieder obdachlos und ohne Nahrungsmittelversorgung sein werde. Die Antragstellerin verwies hierzu auf einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 08. Mai 2014 (Az. 4 L 621/14.DA.A).

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweigs vom 08. April 2014 - 7 B 197/14 - abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage 5 A 45/15 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie teilt mit, dass eine gesonderte Stellungnahme nicht erfolge und bezieht sich im Übrigen auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen.

II.

Der Antrag ist nach § 80 Abs. 7 VwGO zulässig und begründet.

Nach dieser Vorschrift kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

Die Antragstellerin hat nach ihrem Vortrag nach ihrer Abschiebung in die Niederlande dort Erfahrungen gemacht, die für die Entscheidung über die Zulässigkeit ihres Asylantrages relevant sind und die sie nicht bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Verhinderung ihrer Abschiebung geltend machen konnte.

Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO ist zulässig, obwohl die im streitgegenständlichen Bescheid angeordnete Abschiebung bereits vollzogen worden ist. Denn die im Hauptsacheverfahren streitgegenständliche Anordnung der Abschiebung hat sich nicht aufgrund der Durchführung erledigt.

Eine Erledigung des Verwaltungsaktes gem. § 43 Abs. 2 VwVfG tritt auf andere Weise ein, wenn der Verwaltungsakt vollzogen wird und eine Rückgängigmachung der Vollziehung nicht mehr in Betracht kommt (Kopp/Rammsauer, VwVfG, 15. Aufl. 2015, § 43 Rn. 41b). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Zwar erfolgte mit der Abschiebung bereits der Vollzug des Verwaltungsaktes. Jedoch ist die Antragstellerin wieder in die Bundesrepublik eingereist und kann weiterhin aufgrund der sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung abgeschoben werden.

Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO ist auch begründet.

Gegenstand eines Abänderungsverfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO ist die Prüfung, ob eine zuvor gem. § 80 Abs. 5 VwGO getroffene Entscheidung aufgrund veränderter Umstände ganz oder teilweise geändert werden soll. Das Verfahren ist kein Rechtsmittelverfahren, in dem über die Richtigkeit einer vorher ergangenen gerichtlichen Entscheidung zu befinden ist (Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl. 2014, § 80 Rn. 191), sondern vielmehr eine Entscheidung über die Fortdauer der nach § 80 Abs. 5 VwGO getroffenen Entscheidung.

Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO hat Erfolg, wenn aufgrund dieser veränderten Umstände das Interesse des Antragstellers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Abschiebungsanordnung überwiegt. In diese Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache - hier die voraussichtliche Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides - mit einzubeziehen.

Nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG ist die aufschiebende Wirkung der Klage anders als bei Entscheidungen nach § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes anzuordnen (VG Braunschweig, B. v. 28.10.2013 - 7 B 185/13 m. w. N.) Dementsprechend nimmt das Gericht eine Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers vor. Diese Abwägung berücksichtigt die Erfolgsaussichten in der Hauptsache soweit diese sich bei summarischer Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.

Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin anzuordnen. Zwar sind nach derzeitiger Aktenlage im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes die Erfolgsaussichten der Klage als offen anzusehen, die Interessenabwägung ergibt aber einen Vorrang des Interesses der Antragstellerin, vom Vollzug der Abschiebungsanordnung zunächst verschont zu bleiben.

Es lässt sich im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht positiv feststellen, dass der Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. März 2014 rechtmäßig ist.

Die Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auszusprechen, wenn die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags abschließend auf den betreffenden Mitgliedsstaat (hier Niederlande) übergegangen ist und der Abschiebung keine im Rahmen der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung relevanten Hindernisse entgegenstehen.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung auf § 27 a AsylVfG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Die Zuständigkeit der Niederlande ergibt sich im vorliegenden Fall, in dem der Antrag auf internationalen Schutz bereits am 15.11.2013 gestellt worden ist, aus Art. 13 i. V. m. Art. 16 Abs. 1 e Dublin-II-VO (B. v. 08.04.2014 in diesem Verfahren).

Es bestehen jedoch - neue, und deshalb im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO zu berücksichtigende - Anhaltspunkte dafür, dass der Abschiebung im Rahmen der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung relevante Hindernisse entgegenstehen.

Die Antragstellerin trägt vor, sie habe nach ihrer Abschiebung in die Niederlande dort weder Nahrung noch Unterkunft erhalten, sie sei aber auch nicht abgeschoben worden. Antragsteller aus Somalia, deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt worden sei, erhielten in den Niederlanden weder Unterkunft noch Verpflegung noch würden sie auf Kosten der Niederlande abgeschoben.

Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO (Art. 17 Dublin-III-VO) kann jeder Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien dafür nicht zuständig ist. Durch die Ausübung dieses Selbsteintrittsrechts wird der Mitgliedsstaat gemäß Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne dieser Verordnung. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 21.12.2011 (Aktenzeichen: C-411/10 und C-493/10 -, ) darf ein Mitgliedsstaat das ihm bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts belassene Ermessen nicht ohne Rücksicht auf die sonstigen Vorschriften ausüben, die das im EU-Vertrag vorgesehene und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeitete "gemeinsame europäische Asylsystem" bilden, zu denen auch die Beachtung der (europäischen) Grundrechte, einschließlich der Rechte gehören, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 sowie in der europäischen Menschenrechtskonvention finden. Grundlage dieses Asylsystems ist die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der europäischen Union sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Sie ist zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems nicht bereits durch einzelne einschlägige Regelverstöße des zuständigen Mitgliedsstaats, sondern nur dann widerlegt, wenn nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für die Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. Der Mitgliedsstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ist in einem solchen Fall verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedsstaat als solches für die Prüfung des Asylantrages zuständig bestimmt werden kann (VG Braunschweig, U. v. 11.06.2014 - 5 A 2/14).

Im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht abschließend zu klären, ob aus dem Vortrag der Antragstellerin, als abgelehnte Antragstellerin aus Somalia erhalte sie im Falle einer erneuten Abschiebung weder Unterkunft noch Verpflegung noch werde sie auf Kosten der Niederlande abgeschoben, auf einen systemischen Mangel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Niederlanden zu schließen ist, der die Beklagte dazu verpflichten würde, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO Gebrauch zu machen und damit einer Abschiebung in die Niederlande entgegenstehen würde oder ob sich eine solche Verpflichtung der Antragsgegnerin direkt aus Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCharta ergibt.

Das Vorbringen der Antragstellerin wird von der Stellungnahme des evangelischen Dekanats in Gießen vom 25. März 2014 (Adressat unbekannt - asylfact) bestätigt. Danach erhalten Asylsuchende in den Niederlanden während des Asylverfahrens grundsätzlich Unterkunft, Nahrung und medizinische Versorgung. Niederländische Regelungen bestimmen aber auch, dass ausländische Staatsangehörige, die sich aufgrund der Ablehnung ihres Asylantrages weiter in den Niederlanden aufhalten, keine soziale Unterstützung erfahren und aus den Unterkünften entfernt werden dürfen (§ 8 Sozialgesetzbuch Niederlande, § 45 Ausländergesetz Niederlande). Die Verwehrung von Unterkunft scheint nach dem Bericht des evangelischen Dekanats Gießen auch dann beibehalten zu werden, wenn eine Abschiebung nicht möglich ist, wie z. B. derzeit nach Somalia. Der Aufenthalt gilt in den Niederlanden auch dann weiterhin als illegal. Dies steht im Gegensatz zum deutschen Regelungskonzept, wonach in einem solchen Fall eine Duldung angenommen und Zugang zu einem Existenzminium (Unterkunft und Nahrung) gewährt wird. Um auf diese Situation abgelehnter Asylbewerber hinzuweisen, strengte die Nichtregierungsorganisation Conference of European Churches im Jahr 2013 vor dem Europäischen Sozialrechtsausschuss ein Beschwerdeverfahren an. Das Verfahren endete im Juli 2014 mit der Feststellung durch den Europäischen Sozialrechtsausschuss, dass aufgrund dieser Behandlung eine Verletzung von Art. 13 Nr. 4 (right to social and medical emergency assistance) und Art. 31 Nr. 2 (right to housing) der Europäischen Sozial-Charta gegeben ist (Entscheidung abrufbar unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/socialcharter/Complaints/CC90Merits_en.pdf).

Außerdem werden diese Berichte auch durch die Stellungnahme der Organisation "Kerk in Actie" vom 25. März 2014 (an das ev. Dekanat Gießen - asylfact.) gestützt. Nach Angaben von "Kerk in Actie" erscheint es ziemlich wahrscheinlich, dass ein möglicher Asylfolgeantrag der Antragstellerin abgelehnt wird und ihr somit eine sofortige Obdachlosigkeit aufgrund des nunmehr nach niederländischem Recht illegalen Aufenthalts droht. Dies wird verschärft aufgrund der Meldung, dass zwischen Juni 2011 und September 2013 nach Angaben von "Kerk in Actie" in den Niederlanden keine Abschiebungen nach Somalia stattgefunden haben.

Auch der World Report 2015 von Human Rights Watch über die Niederlande (verfügbar auf http://www.ecoi.net/local_link/295544/430813_de.html) gibt an, dass im November 2014 der Staatsrat als höchstes Verwaltungsgericht in den Niederlanden entschieden hat, dass somalische Staatsbürger nicht nach Somalia abgeschoben werden dürfen, da derartige Abschiebungen nicht in einem vertretbaren Zeitrahmen erfolgen können. Dadurch verschärft sich die Situation abgelehnter somalischer Asylbewerber in den Niederlanden deutlich, da eine Abschiebung nach Somalia und damit ein Ende der Obdachlosigkeit aufgrund eines Abschiebeverbots nicht in Aussicht gestellt werden kann.

Fraglich ist, ob diese Situation einen systemischen Mangel i. S. d. Rechtsprechung des EuGH (a.a.O.) und der - diese Entscheidung des EuGH in das deutsche Prozessrechtssystem umsetzenden - Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.06.2014 (10 B 35/14 -, Rn. 5) darstellt, die ausführt: "Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des Gerichtshofs zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und Rs. C-493/10 - a.a.O. Rn. 88 bis 94), Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht."

Die Zahl der sich in den Niederlanden aufhaltenden Personen, die aus Somalia stammen und deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt worden ist, die aber auch nicht abgeschoben werden, ist nicht bekannt. Jedenfalls dürfte es sich nicht um einen Großteil der sich im dortigen Asylsystem aufhaltenden Personen handeln. Deshalb könnte zweifelhaft sein, ob es sich um eine "größere Funktionsstörung" im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts handelt, die das niederländische System "regelhaft defizitär" macht. Nach Auffassung des beschließenden Gerichts spricht Vieles dafür, bei der Auslegung des Begriffs systemischer Mangel nicht auf eine mengenmäßige Betrachtung abzustellen (wofür die Formulierung "größere Funktionsstörung" sprechen dürfte), sondern darauf, ob die - hier in Verweigerung von Unterkunft und Verpflegung liegende - Verletzung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCharta den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft trifft und sich ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren lässt. Für die Annahme eines systemischen Mangels genügt dann jede "fehlerproduzierende Systemstruktur" unabhängig davon, wie viele Personen/Fälle sie betrifft (Lübbe, ZAR 2014, 105, 111).

Selbst wenn man die von der Antragstellerin geschilderte und von den o. g. Berichten bestätigte Situation der abgelehnten Asylbewerber aus Somalia in den Niederlanden nicht als systemischen Mangel i. S. d. Entscheidungen des EuGH und des BVerwG ansieht, sondern als individuelle Rechtsverletzung, ist die Frage zu klären, ob über das Vorliegen sog. systemischer Mängel hinaus dann eine Verpflichtung zum Selbsteintritt besteht, wenn individuell eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ("real risk") für eine Verletzung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCharta besteht. Dafür spricht die Entscheidung des EGMR vom 04.11.2014 (29217/12 -, Rn 104) in der der EGMR ausführt, dass die Sicherheitsvermutung von Dublin-Staaten nach den allgemein gültigen Regeln widerlegt werden kann, aber eine gründliche und individualisierte Untersuchung erforderlich ist, die die allgemeine Situation und die individuelle Situation des Beschwerdeführers berücksichtigt.

Die Frage, von welcher Schwere und Wahrscheinlichkeit die von der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren glaubhaft geltend gemachte Verletzung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCharta ist, muss dem Hauptsacheverfahren überlassen bleiben. Im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ist der Ausgang dieses Hauptsacheverfahrens deshalb als offen zu bewerten.

Die dann im Rahmen der §§ 80 Abs. 5, 80 Abs. 7 VwGO und § 34a AsylVfG zu treffende Abwägung zwischen dem rechtlich schützenswerten Interesse der Antragstellerin, von einer Abschiebung zunächst verschont zu bleiben, mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse geht angesichts der glaubhaft gemachten, durch allgemeine Berichte gestützten Schilderung der Verweigerung jeglicher Unterstützung, in der eine Verletzung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCharta liegen würde, zugunsten der Antragstellerin aus (im Ergebnis ebenso: VG Darmstadt (B. v. 08.05.2014 - 4 L 621/14.DA.A).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylVfG.

Schlingmann-Wendenburg