Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.11.1987, Az.: 6 A 96/85
Baugenehmigung für Mehrfamilienhaus; Aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs im Baurecht; Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs; Untergeordneter Gebäudeteil; Vergleichbarkeit mit einem Erker; Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks; Vereinbarkeit mit nachbarschützenden Abstandsvorschriften; Relevanz des funktionalen Aspekts
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 26.11.1987
- Aktenzeichen
- 6 A 96/85
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1987, 12840
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1987:1126.6A96.85.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 15.02.1985 - AZ: 2 OS VG A 238/83
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 7 NBauO 1974
- § 7b Abs.1 NBauO 1986
- § 113 Abs.1 S.1 VwGO
Verfahrensgegenstand
Bauordnungsrecht
Untergeordnete Gebäudeteile
Anfechtung einer Baugenehmigung.
Prozessführer
1. der Frau ...
2. der Frau ... beide wohnhaft: ... 12 D, ...
Prozessgegner
die Stadt ...
Sonstige Beteiligte
Frau ... 9, ...
Amtlicher Leitsatz
Zum Begriff des Erkers und sonstiger untergeordneter Gebäudeteile, die den Grenzabstand unterschreiten dürfen.
In der Verwaltungsrechtssache
hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein
auf die mündliche Verhandlung vom 26. November 1987
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Taegen,
die Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Lemmel und Dr. Jenke sowie
die ehrenamtlichen Richter Antonik und Wiegand
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 2. Kammer Osnabrück - vom 15. Februar 1985 werden zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen im Berufungsverfahren tragen die Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte. Ihre außergerichtlichen Kosten tragen die Beklagte und die Beigeladene selbst.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte und die Beigeladene dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von jeweils 1.500,00 DM abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerinnen wenden sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für ein Mehrfamilienwohnhaus auf dem Nachbargrundstück.
Die Klägerinnen sind Eigentümerinnen des Grundstücks F. straße 12 in ... Es handelt sich um das Flurstück 146/21 der Flur 207, welches im Süden an die F. straße und im Norden an die ... straße grenzt. Auf seiner östlichen Seite liegt das der Beigeladenen gehörende Grundstück F. straße 10/W ... straße 21. Es bestand ursprünglich aus dem (unbebauten) 253 qm großen Flurstück 72/22 an der W. straße und dem mit einem älteren Gebäude bebauten 263 qm großen Flurstück 73/30 an der F. straße.
Auf dem Grundstück der Klägerinnen steht ein mehrgeschossiges Wohngebäude. Ein angebauter Wintergarten hält mit seiner westlichen Ecke zur Grenze des Flurstücks 72/22 einen Abstand von knapp 3 m. Für diesen Gebäudeteil hat die Beklagte dem Rechtsvorgänger der Klägerinnen, dem Kaufmann ..., am 19. September 1977 eine Baugenehmigung erteilt; sie schließt die folgende Befreiung ein:
"Abstand eines dreieckigen Gebäudeteils mit einer Grundfläche von 1,50 m × 1,022 m = 0,75 qm zur Nachbargrenze 2,89 m statt 1 H = 4,0 m."
Mit Bauschein vom 1. Juli 1982 genehmigte die Beklagte der Beigeladenen den Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit sechs Wohneinheiten auf dem Flurstück 72/22. Das genehmigte Gebäude umfaßt ein Kellergeschoß, ein Sockelgeschoß, ein Erdgeschoß, ein erstes Obergeschoß, ein Dachgeschoß und einen Dachboden. Die westliche Außenwand, die bis zum ersten Obergeschoß senkrecht reicht, hält nach den genehmigten Bauzeichnungen zur Grenze der Klägerinnen einen Abstand zwischen 3,22 m und 3 m. Im Bauwich befindet sich auf der Höhe des Sockelgeschosses ein von der W. straße zugängliches Carport. Im Bereich des Erdgeschosses und des ersten Obergeschosses ist ein 4,365 m breiter Vorsprung genehmigt, durch den das Gebäude um 0,875 m bzw. 1,125 m über die westliche Außenwand hinausreicht. Im Bereich des Dachgeschosses ist ein etwa 60 Grad steiles Dach genehmigt, welches von der westlichen Außenwand ebenso wie von der westlichen Außenwand des Vorsprungs in den rückwärtigen Bereich führt. Im Erdgeschoß und im ersten Obergeschoß befinden sich im Bereich des Vorbaus jeweils etwa die Hälfte des 3,31 qm großen Bades und der 4,95 qm großen Küche. Auch im Dachgeschoß reichen Bad und Küche über die Fluchtlinie der übrigen Wohnräume hinaus in Richtung zum Grundstück der Klägerinnen.
Die Klägerinnen legten Widerspruch ein und beantragten zugleich vorläufigen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht. Das Verwaltungsgericht stellte mit Beschluß vom 7. Dezember 1982 (2 OS VG D 59/82) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 1. Juli 1982 wieder her. Zur Begründung führte es aus, das Schmalseitenprivileg des § 7 Abs. 3 NBauO sei bereits für den Altbau auf dem Flurstück 73/30 in Anspruch genommen worden. Ein Abstand von nur 1/2 H zum Grundstück der Klägerinnen reiche deshalb nicht aus. Die Beschwerde der Beigeladenen wies der Senat mit Beschluß vom 22. April 1983 (6 OVG B 11/83) als unbegründet zurück. Er schloß sich der Beurteilung durch das Verwaltungsgericht an und wies ergänzend darauf hin, daß der Vorbau auch dann unzulässig wäre, wenn für den Neubau das Schmalseitenprivileg gelten würde. Denn es handele sich bei ihm nicht um einen untergeordneten Gebäudeteil im Sinne des § 7 Abs. 7 NBauO. In diesem Bereich des Gebäudes befänden sich im Erd- und ersten Obergeschoß jeweils eine Küche und ein Bad. Auch sei die Unterschreitung des Mindestabstandes von 3 m um etwa ein Fünftel nicht geringfügig.
Unter dem 15. März 1983 genehmigte die Beklagte die Teilung des Grundstücks der Beigeladenen dergestalt, daß ein 201 qm großes Flurstück 30/2 (Friedrichstraße 10) und ein aus dem 253 qm großen Flurstück 72/22 und dem 62 qm großen Flurstück 30/1 bestehendes zweites Grundstück (W. straße 21) entstand. Ferner erteilte sie mit Bauschein Nr. 432/83 vom selben Tage für das letztgenannte Grundstück auf der Grundlage der Bauzeichnungen zum Bauschein Nr. 19/82 vom 1. Juli 1982 erneut eine Baugenehmigung.
Die Klägerinnen legten gegen die Genehmigungen vom 15. März 1983 Widerspruch ein. Der Widerspruch wurde mit Bescheid der Bezirksregierung Weser-Ems vom 2. November 1983 als unbegründet zurückgewiesen. Daraufhin haben sie Klage erhoben.
Die Klägerinnen haben beantragt,
die Teilungsgenehmigungen und die Baugenehmigung der Beklagten vom 15. März 1983 und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Weser-Ems vom 2. November 1983 aufzuheben.
Die Beklagte und die Beigeladene haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 15. Februar 1985, auf das Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung vom 15. März 1983 und insoweit den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung aufgehoben; hinsichtlich der Teilungsgenehmigung hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es die Auffassung vertreten, die Klägerinnen würden zwar nicht durch die Teilungsgenehmigung in ihren Rechten verletzt. Die erteilte Baugenehmigung sei jedoch nicht mit den Abstandsvorschriften des § 7 NBauO vereinbar. Denn der Vorbau falle nicht unter § 7 Abs. 7 NBauO.
Gegen das Urteil haben sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene Berufung eingelegt. Die Beklagte macht geltend: Der Vorbau sei als untergeordneter Gebäudeteil im Sinne von § 7 Abs. 7 NBauO anzusehen, mit der Folge, daß er den Grenzabstand um 1 m unterschreiten dürfe. Nach dieser Vorschrift seien ausdrücklich u.a. Erker als untergeordnete Gebäudeteile zu qualifizieren. Dem Verwaltungsgericht sei nicht zuzustimmen, daß der Vorbau nach seiner äußeren Erscheinung nicht mit einem Erker vergleichbar sei. Jedenfalls beeinträchtige er die Klägerinnen in keinem Fall stärker als dann, wenn der Erker ausgebildet wäre, d.h. sich nicht bis zum Boden erstrecken würde. Daher sei dem Verwaltungsgericht auch nicht zuzustimmen, wenn es ausführe, der Vorbau erreiche insgesamt eine Massigkeit und Klobigkeit, die sich nicht mit einem Erker im Sinne von § 7 Abs. 7 NBauO vergleichen lasse. Auf die Nutzung der im Vorbau untergebrachten Räume dürfe nicht abgestellt werden, weit diese Frage bei der nachbarlichen Beeinträchtigung keine Rolle spiele. Vielmehr sei nur auf die äußere optische Erscheinung des Vorbaus abzustellen. Schließlich sei das Verwaltungsgericht zu Unrecht nicht auf die Frage eingegangen, daß jedenfalls die Aufhebung der Baugenehmigung schon wegen der nur geringfügigen Unterschreitung des einzuhaltenden Mindestabstandes nicht in Betracht komme.
Die Beklagte beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene ist ebenfalls der Auffassung, daß der Vorbau nach § 7 Abs. 7 NBauO zulässig sei. Es handele sich um einen Erker. Nachteilige Wirkungen gingen von ihm auf das Nachbargrundstück nicht aus. Der Erkerbau habe vielmehr die Möglichkeit geschaffen, seitlich im Erker Fenster einzubauen, so daß das Nachbargrundstück nicht durch direkt auf das Grundstück gerichtete Fenster beeinträchtigt werde. Auf die Art der Nutzung der Räume komme es nicht an.
Die Beigeladene beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen,
die Berufungen zurückzuweisen,
Sie halten die Auffassung des Verwaltungsgerichts für zutreffend.
Der Senat hat die Örtlichkeit besichtigt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 26. November 1987 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und den der Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
II.
Die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen sind zulässig. Streitgegenstand ist im Berufungsverfahren nur noch die Baugenehmigung vom 15. März 1983 (und insoweit der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Weser-Ems vom 02.11.1983). Denn weil die Klägerinnen nicht ebenfalls Berufung eingelegt haben, ist das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, soweit es die Klage gegen die der Beigeladenen erteilte Teilungsgenehmigung abweist.
Die gegen die Aufhebung der Baugenehmigung vom 15. März 1983 durch das Verwaltungsgericht gerichteten Berufungen sind jedoch unbegründet. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung aufgehoben. Denn sie ist rechtswidrig und verletzt zugleich Rechte der Klägerinnen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Hinsichtlich der Frage, ob die Klägerinnen durch die Baugenehmigung vom 15. März 1983 in ihren Rechten verletzt werden, ist zwar rechtlich eine Beschränkung des Prozeßstoffes nicht eingetreten. Nachdem die Klägerinnen jedoch ihre übrigen Bedenken gegen die Baugenehmigung im Berufungsverfahren nicht wiederholt haben und Fehler in der rechtlichen Beurteilung durch das Verwaltungsgericht insoweit auch nicht ersichtlich sind, kommt es ausschließlich auf die Frage an, ob die Baugenehmigung vom 15. März 1983 deshalb Rechte der Klägerinnen verletzt, weil der Vorbau mit den Abstandsvorschriften nicht vereinbar ist. Diese Frage ist in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht zu bejahen.
Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 NBauO 1974/§ 7 a Abs. 1 Satz 1 NBauO 1986 beträgt der Mindestabstand zur Grenze auch unter Anwendung des Schmalseitenprivilegs 1/2 H, mindestens 3 m. Mit dieser Vorschrift ist der Vorbau nicht vereinbar. Er nähert sich der Grenze zum Grundstück der Klägerinnen bis auf etwa 2 m. Der Vorbau würde daher nur dann unbedenklich sein, wenn er unter § 7 Abs. 7 NBauO 1974 oder § 7 b Abs. 1 NBauO 1986 fallen würde. Das ist jedoch nicht der Fall.
Nach § 7 Abs. 7 NBauO 1974 dürfen untergeordnete Gebäudeteile wie Gesimse, Dachvorsprünge, Eingangs- und Terrassenüberdachungen, Tür- und Fenster vorbauten, Treppen und Treppenvorbauten, Kellerlichtschächte, Erker und Balkone den Abstand um 1 m, in einer Breite von insgesamt höchstens 5 m auch um 2 m, jedoch höchstens um ein Drittel unterschreiten. Nach allgemeiner Auffassung gaben die im Gesetz aufgeführten Beispiele einen Anhalt darüber, von weichen Vorstellungen der Gesetzgeber bei der Wahl des Begriffes "untergeordnet" ausgegangen ist (vgl. z.B. Grosse-Suchsdorf, in Grosse-Suchsdorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 3. Aufl. 1984, § 7 RdNr. 32). Die Beispiele sind jedoch weder abschließend noch bindend. Vielmehr setzte die Privilegierung nach § 7 Abs. 7 NBauO 1974 immer voraus, daß es sich um untergeordnete Gebäudeteile handelte (vgl. z.B. Urt. d. Sen. v. 09.02.1981 - 6 A 226/79 -, BRS, Bd. 38 Nr. 120; Urt. v. 08.02.1982 - 6 A 54/79 -). Von diesem Verständnis des § 7 Abs. 7 NBauO 1974 ist auch der Gesetzgeber bei der Novellierung der Niedersächsischen Bauordnung durch das Gesetz vom 11. April 1986 (GVBl, S. 103) ausgegangen. Die dem § 7 Abs. 7 NBauO 1974 entsprechende Regelung enthält jetzt § 7 b Abs. 1 NBauO 1986. Danach dürfen Eingangsüberdachungen, Windfänge, Hauseingangstreppen, Kellerlichtschächte und Balkone die Abstände nach den §§ 7 und 7 a um 1,50 m, höchstens jedoch um ein Drittel, unterschreiten. Nach Satz 2 gilt dies auch für andere vortretende Gebäudeteile, wie Gesimse, Dachvorsprünge, Erker und Blumenfenster, wenn sie untergeordnet sind. Das Ziel der Neufassung bestand darin, die in Satz 1 genannten Gebäudeteile selbst dann im Bauwich zuzulassen, wenn sie im Einzelfall einmal nicht als untergeordnet angesehen werden könnten (vgl. Grosse-Suchsdorf, a.a.O., 4. Aufl. 1987, § 7 b, RdNr. 1). Für die übrigen Gebäudeteile, wie Erker, kommt es dagegen nach § 7 b Abs. 1 Satz 2 NBauO 1986 weiterhin darauf an, ob sie im Einzelfall untergeordnet sind (Grosse-Suchsdorf, a.a.O.). Für die nicht in § 7 Abs. 1 Satz 1 NBauO 1986 genannten hervortretenden Gebäudeteile ist es demgemäß bei der alten Regelung geblieben (Urt. d. Sen. v. 26.06.1986 - 6 OVG A 237/84).
Daraus folgt, daß es nicht entscheidend darauf ankommt, ob der streitige Vorbau ein Erker ist. Seine Qualifizierung als Erker wäre lediglich ein Indiz für die Anwendbarkeit der Privilegierungsvorschrift. Entscheidend ist nach altem wie nach neuem Recht, ob es sich bei dem Vorbau um einen untergeordneten Gebäudeteil handelt.
In der nichtjuristischen Literatur wird der Erker als Erweiterung eines Raumes vor die Mauerflucht beschrieben, die nicht bis auf den Erdboden reicht (Graf/Huber/Krauth, Das kleine Lexikon der Bautechnik, 1956, Spalte 431). Nach dem Brockhaus (1968) handelt es sich um einen vorgelegten geschlossenen, überdachten, durch ein oder mehr Geschosse reichenden Ausbau, der frei hervorragt und zur besseren Belichtung der Räume und als künstlerisches Gliederungsmotiv der Fassade dient. Bereits im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter Erker also nicht lediglich ein Vorbau verstanden; vielmehr gehört zum Begriffsinhalt von vornherein eine besondere Funktion: Nach außen ist der Erker ein Gestaltungselement für die Fassade, nach innen verbessert er die Lichtverhältnisse in dem hinter ihm liegenden Raum.
In den einzelnen Bauordnungen der Länder erscheint der Erker regelmäßig als ein Beispiel für untergeordnete Gebäudeteile. Da der Bauwich bzw. die Abstandsflächen grundsätzlich frei zu halten sind, bedeutet die Zulassung untergeordneter Gebäudeteile im Bauwich eine Ausnahmeregelung, die entsprechend dem Sinn der Abstandsvorschriften, die Belichtung, Belüftung und den Brandschutz zu gewährleisten, einer weiten Anwendung nicht zugänglich ist. Auch durch die Zulassung untergeordneter Gebäudeteile im Bauwich darf Sinn und Zweck der Abstandsvorschriften nicht unterlaufen werden.
Auf dem Hintergrund dieser Überlegung wird allgemein angenommen, daß untergeordnete Gebäudeteile nicht nur nach ihrem Umfang und ihrer Größe, sondern auch ihrer Art nach geringfügig sein müssen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und der Beigeladenen kommt es deshalb nicht nur auf die absolute Größe des Vorbaus und auf sein Verhältnis zu dem gesamten Bauwerk, sondern auch auf seine Funktion an (a.A. möglicherweise Simon, Bay. BauO, 9. Aufl. 1986, Art. 6 RdNr. 48: Untergeordnete Bauteile sind begrifflich nicht danach zu beurteilen, ob sie für das Bauwerk wesentlich oder existenznotwendig sind; es kommt nur auf das größenmäßige Verhältnis des Bauteils oder Vorbaus zum Gesamtbau und insbesondere zu den Außenwänden an.). So stellt der Bay. VGH in seinem Urteil vom 27. November 1974 (- Nr. 54 I 73 -, BRS, Bd. 29, Nr. 90) auch auf die Art, die Natur der Baumaßnahme ab. Nach Auffassung des OVG Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 29.11.1985 - 7 B 2402/85 -, BRS, Bd. 44, Nr. 101) ist ein Erker nicht nur durch eine bestimmte Anordnung an der Wand, sondern auch durch eine bestimmte Funktion für das Haus gekennzeichnet. Auch der Senat hat in seiner bisherigen Rechtsprechung die Funktion der Vorbauten für wesentlich angesehen. So ist die Privilegierung nach § 7 Abs. 7 NBauO 1974 für Treppenhäuser verneint worden (Beschl. v. 26.05.1983 - 6 OVG B 47/83 -, Nds. Rpfl. 1983, 284; so auch Beschl. d. 1. Sen. v. 15.10.1979 - I OVG B 69/79 -). Ebenso ist die Privilegierung verneint worden, wenn eine wohnraumähnliche Nutzung in den Bauwich verlagert wurde (Urt. v. 09.02.1981 - 6 A 226/79 -, BRS, Bd. 38, Nr. 120; Beschl. v. 08.02.1982 - 6 OVG A 54/79 -) oder wenn ein Wohnzimmer in angemessener Größe oder eine Kochnische nur durch Inanspruchnahme des Bauwichs geschaffen werden konnten (Urt. v. 26.06.1986 - 6 OVG A 237/84 -; Beschl. v. 20.07.1983 - 6 OVG B 52/83 -). Diese Rechtsprechung hat im Schrifttum Anerkennung gefunden. So wird von Förster/Wilke (BauO Berlin, 4. Aufl. 1986, § 6 RdNr. 44) die Aufgabe von Gebäudevorsprüngen als "architektonische Gliederungen" hervorgehoben. Nach Boeddinghaus/Hahn (BauO Nordrhein-Westfalen, § 6 RdNr. 210) ist wichtiger als der quantitative Gesichtspunkt der funktionelle: Nur Bauteile von untergeordneter Bedeutung oder Funktion bleiben unberücksichtigt. Und auch Grosse-Suchsdorf, auf den sich die Beigeladene beruft, stellt ... auf die Funktion der untergeordneten Gebäudeteile ab (a.a.O., 4. Aufl., § 7 b RdNr. 5).
Dementprechend kommt es nicht nur auf den quantitativen, sondern gleichwertig auch auf den funktionalen Gesichtspunkt an (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).
Nach dem Ergebnis der Ortsbesichtigung bestehen gegen den Vorbau am Hause der Beigeladenen bereits in quantitativer Hinsicht Bedenken. Schon nach dem optischen Eindruck dürfte er sich dem Gesamtgebäude und Insbesondere der westlichen Außenwand nicht unterordnen. Der Vorbau erscheint gestalterisch nicht nur als ein Gliederungselement, weil er immerhin fast die Hälfte der Breite der Außenwand einnimmt. Zumindest optisch liegt er zudem teilweise auf dem Carport auf, erstreckt sich sodann über zwei Geschosse und setzt sich durch ein steiles Schrägdach in einem dritten Geschoß fort. Nach der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (Beschl. v. 03.05.1983 - 3 S 689/83 -, zitiert nach Sauter, LBauO Baden-Württemberg, 2. Aufl. 1984, § 6 RdNr. 53) wirkt ein Erker, der nur 60 cm über der Geländeoberfläche beginnt und sich über drei Geschosse bis unter das Dach erstreckt, nicht mehr als Anbau und ist deshalb abstandsrechtlich nicht privilegiert. Da das Bauwerk der Beigeladenen ohnehin recht groß ist und die baurechtlichen Möglichkeiten in vollem Umfang ausnutzt, könnte schon wegen des optischen Eindrucks eine gleichartige Beurteilung geboten sein.
Die Frage kann aber letztlich offenbleiben. Denn jedenfalls in funktionaler Hinsicht kann der streitige Vorbau nicht mehr als Erker im Sinne des §7 Abs. 7 NBauO 1974/§ 7 b Abs. 1 Satz 2 NBauO 1986, als ein untergeordneter Gebäudeteil angesehen werden. Seine Aufgabe besteht nicht darin, die westliche Außenwand zu gliedern oder die Belichtung in den hinter ihm liegenden Räumen zu verbessern. Vielmehr ist der Vorbau erforderlich, um Bad und Küche in den beiden Wohnungen im Erdgeschoß und im ersten Obergeschoß, ferner das Bad im Dachgeschoß überhaupt erst einrichten zu können. Die beiden Bäder und Küchen im Erdgeschoß und im Obergeschoß liegen zu etwa 50 % im Vorbau. Ohne den Vorbau wären sie mit Grundflächen von etwa 2,5 qm bzw. 1,8 qm zu klein. Damit dient der Vorbau ausschließlich dem Zweck, die Wohnungsfläche zu vergrößern. Dafür ist die Inanspruchnahme der Abstandsflächen jedoch vom Gesetzgeber nicht gerechtfertigt worden. Der Gesetzgeber wollte es nicht ermöglichen, den Bauwich scheibchenweise durch verschiedenartige Vorsprünge und Ausbuchtungen am Gebäude zur weiteren Bebauung in Anspruch zu nehmen (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; in diesem Sinne auch Beschl. d. Sen. v. 20.07.1983, a.a.O. und Urt. v. 26.06.1986, a.a.O.).
Wenn demgemäß die angefochtene Baugenehmigung mit den Abstandsvorschriften nicht vereinbar ist, so ist sie rechtswidrig und verletzt, da die Abstandsvorschriften nachbarschützende Funktion haben, zugleich auch Rechte der Klägerinnen.
Das Gegenteil ergibt sich auch nicht daraus, daß auch die Bebauung des Grundstücks der Klägerinnen in den Bauwich hineinragt. Zwar folgt aus dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung, daß derjenige, dessen Gebäude selbst nicht den erforderlichen Grenzabstand einhält, billigerweise nicht verlangen kann, daß der Nachbar den Bauwich freihält (Beschl. d. Sen. v. 26.05.1983 - 6 OVG B 47/83 -, Nds. Rpfl. 1983, 284 = BRS 40, Nr. 113; Urt. d. Sen. v. 12.09.1984 - 6 OVG A 49/83 -, BRS 42, Nr. 196; vgl. auch Schmaltz, a.a.O., § 72 RdNr. 18). Dies gilt auch dann, wenn die Inanspruchnahme des Bauwichs durch den Nachbarn rechtmäßig, etwa - wie im vorliegenden Fall - nach Erteilung einer Befreiung erfolgt ist (Urt. d. Sen. v. 12.09.1984, a.a.O.). Der nachbarliche Abwehranspruch ist jedoch nur gegenüber vergleichbaren Bauwichverletzungen ausgeschlossen (Urt. d. Sen. v. 12.09.1984, a.a.O.). Wenn die Verletzung nachbarschützender Abstandsregelungen durch das neue Bauwerk schwerwiegender ist als die Inanspruchnahme des Bauwichs durch den Nachbarn, liegt nämlich trotz der eigenen Inanspruchnahme des Bauwichs eine Störung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses vor. Wer früher rechtmäßig im Grenzbereich seines Grundstücks gebaut hat, kann verlangen, daß das Nachbargrundstück zumindest nicht intensiver im Bauwich bebaut wird. Denn es wäre unbillig, dem Nachbarn jeglichen Nachbarschutz nur deshalb vollständig zu versagen, weil sein eigenes Bauwerk - und sei es auch noch so geringfügig - im Bauwich steht (vgl. Beschl. d. Sen. v. 26.05.1983, a.a.O.), An der Vergleichbarkeit fehlt es hier aber: Der vom Rechtsvorgänger der Klägerinnen auf der Grundlage einer Baugenehmigung mit Befreiung errichtete Anbau (Wintergarten) hält zur Grenze einen Abstand, der mit 2,89 m fast dem regelmäßigen Mindestabstand von 3 m entspricht. Nur weil das Schmalseitenprivileg bereits verbraucht war, hätte an sich ein Abstand von 1 H = 4 m eingehalten werden müssen. Im Bauwich befindet sich ferner nur eine Ecke des Anbaus mit einer Grundfläche von 0,75 qm. Der Vorbau am Hause der Beigeladenen reicht dagegen bis auf 2 m an die Grenze heran, und zwar in einem Bereich, in dem das Gebäude im übrigen bereits die Vergünstigung des Schmalseitenprivilegs in Anspruch nimmt. Betroffen ist eine Fläche von rund 5 qm; und der Vorbau beeinträchtigt zudem über mehrere Geschosse den freizuhaltenden Bauwich. Diesem sich aus den Bauzeichnungen ergebenden Ungleichgewicht entspricht der optische Eindruck. Der Senat hat die Bauwichverletzung durch den Anbau der Klägerinnen erst aus den Bauunterlagen ersehen können. Ausweislich des Protokolls über die Ortsbesichtigung hat er das Hineinreichen des Anbaus in den Bauwich mit bloßem Auge nicht feststellen können. Dagegen war offensichtlich, daß der Vorbau am Hause der Beigeladenen die Abstandsregelungen verletzt, sofern er nicht - was aber nach den obigen Ausführungen zu verneinen ist - gemäß § 7 Abs. 7 NBauO 1974/§ 7 b Abs. 1 Satz 2 NBauO 1986 privilegiert wäre.
Die Baugenehmigung ist deshalb aufzuheben. Von einer Aufhebung kann auch nicht deshalb abgesehen werden, weil die Verletzung des Bauwichs nach Auffassung der Beklagten nur geringfügig ist. Nach ständiger Rechtsprechung des OVG Lüneburg (vgl. z.B. den Beschl. d. Sen. v. 10.07.1980 - 6 OVG B 60/80 -, Nds. Rpfl. 1980, 289; Urt. d. 1. Sen. v. 18.02.1985 - 1 OVG A 44/84 -, Nds. Rpfl. 1985, 152) muß auch bei einer nur geringfügigen Unterschreitung des Grenzabstandes die Baugenehmigung aufgehoben werden; des Nachweises einer konkreten Beeinträchtigung des Nachbarn bedarf es bei einer Verletzung von Abstandsvorschriften nicht, weil es sich dabei um eine meßbare Größe handelt (Schmaltz, a.a.O., § 72 RdNr. 50, m.w.N.). Im übrigen liegt aber eine nur geringfügige Unterschreitung des Grenzabstandes auch gar nicht vor. Der Vorbau ragt immerhin auf fast 5 m Breite um etwa 1 m in den Bauwich hinein.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3, 167 Abs. 1 VwGO iVm §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen der §§ 137, 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 12.000,00 DM (i.W.: zwölftausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Dr. Lemmel
Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Jenke gehört dem Oberverwaltungsgericht nicht mehr an. Taegen