Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 23.05.2018, Az.: 2 AR (Ausl) 21/18

Zulässigkeit der Auslieferung nach Polen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
23.05.2018
Aktenzeichen
2 AR (Ausl) 21/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 33078
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Die Vorschrift § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG ist unter Heranziehung des Art. 3 Nr. 2 RbEuHB richtlinienkonform auszulegen, so dass unter einer rechtskräftigen Aburteilung eines anderen Mitgliedsstaates auch eine solche des ersuchenden Mitgliedstaates zu verstehen ist.

Untersuchungshaft gilt wegen des eindeutigen Wortlautes des § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG und des bloßen Sicherungszwecks dieser Maßnahme nicht als vollstreckte Strafe.

Tenor:

Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zur Strafvollstreckung wegen der ihm in dem Europäischen Haftbefehl des Regionalgerichts Danzig vom 17.01.2018 (Az.: IV Kop 96/17) zur Last gelegten Taten ist zulässig.

Der Auslieferungshaftbefehl vom 05.04.2018 bleibt aufrechterhalten. Die Auslieferungshaft hat fortzudauern.

Gründe

I.

Die polnischen Justizbehörden betreiben auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls des Regionalgerichts Danzig vom 17.01.2018 (Az.: IV Kop 96/17) die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung.

Nach dem Europäischen Haftbefehl vom 17.01.2018 wurde der Verfolgte durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Danzig - Nord vom 07.04.2016 (II K 400/11) rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten verurteilt, die noch vollständig zu vollstrecken ist.

Die der Verurteilung zugrundeliegende Tatgeschehen werden in dem Europäischen Haftbefehl wie folgt beschrieben:

Zwischen dem 17.06. und dem 10.08.2009 beteiligte sich der Verfolgte am illegalen Handel mit einer erheblichen Menge Betäubungsmittel (Cannabis und Amphetamine), indem er die Betäubungsmittel aufbewahrte und sie an andere Personen zum Weiterverkauf übergab, um sich selbst eine regelmäßige Einnahmequelle zu verschaffen. U.a. beging er folgende Handlungen:

- Am 17.06.2009 übergab der Verfolgte in Tczew 498,54g Cannabis (498 Konsumeinheiten) an W. zum Weiterverkauf an eine andere Person.

- Am 22.06.2009 beauftragte er S. in Tczew mit dem Transport von 9.954g Amphetamin (mindestens 82.950 Konsumeinheiten) an eine unbekannte Person zum Weiterverkauf.

- Am 10.08.2009 übergab er in Elbag 4.716g Amphetamin (zwischen 39.300 und 58.950 Konsumeinheiten) an zwei weitere Mittäter, die er mit dem Transport der Drogen an eine weitere unbekannte Person zum Weiterverkauf beauftragte.

Der Verfolgte wurde am 29.03.2018 in der Bundesrepublik Deutschland vorläufig festgenommen und hat im Rahmen seiner Anhörung vor dem Amtsgericht Hannover am 30.03.2018 lediglich Angaben zu seinen Personalien und seiner Staatsangehörigkeit gemacht. Danach hat er keinen festen Wohnsitz in Deutschland.

Der Verfolgte hat sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt (§ 41 Abs. 1 IRG) und nicht auf die Beachtung des Grundsatzes der Spezialität verzichtet (§ 41 Abs. 2 IRG).

Mit Beschluss vom 05.04.2018 hat der Senat die förmliche Auslieferungshaft des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung angeordnet.

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat als zuständige Bewilligungsbehörde mit Entschließung nach § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG vom 11.04.2018 erklärt, dass sie nicht beabsichtige, Bewilligungshindernisse geltend zu machen. Diese Entschließung ist dem Verfolgten in polnischer Übersetzung am 16.04.2018 mit Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt worden.

Der Verfolgte hat über seinen Beistand vortragen lassen, dass hinsichtlich der im Haftbefehl genannten Taten eine rechtsstaatwidrige Doppelverfolgung vorliege. Vor dem zuständigen Gericht in Ciechanow werde unter dem Aktenzeichen II K 790/12 ein weiteres Verfahren mit dem gleichen Strafvorwurf geführt. Der Beistand des Verfolgten hat hierzu Unterlagen in polnischer Sprache mit dem Hinweis vorgelegt, dass sich aus diesen ergebe, dass die Vorwürfe aus dem Europäischen Haftbefehl identisch seien mit der Verurteilung des Gerichts Tczew. Der Verfolgte habe sich 2 Jahre in Untersuchungshaft befunden, so dass im Hinblick auf die Doppelbestrafung eine polnische Zusicherung einzuholen sei, dass auf die Strafe aus dem dem Europäischen Haftbefehl zugrundeliegenden Urteil diese Untersuchungshaft anzurechnen sei. Unter den vorgelegten polnischen Unterlagen befindet sich ein Urteil des Berufungsgerichts Plock vom 22.12.2017, das auf die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Ciechanow vom 31.03.2017 ergangen ist sowie anwaltliche Schriftsätze.

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären und Haftfortdauer anzuordnen.

II.

Den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft war zu entsprechen.

1.

Die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung an die polnischen Justizbehörden ist zulässig.

a)

Der Europäische Haftbefehl enthält alle nach § 83 a Abs. 1 IRG erforderlichen Angaben.

b)

Die Auslieferungsfähigkeit der Straftaten ist gegeben.

Bei den der Verurteilung durch des Amtsgerichts Danzig - Nord vom 07.04.2016 (II K 400/11) zugrunde liegenden Taten handelt es sich um Katalogtaten gemäß Art. 2 Abs. 2 des EU-Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl (RB-EUHb), welche nach polnischem Recht mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt daher (§ 81 Nr. 4 IRG).

Der Verfolgte wurde für die ihm zur Last gelegten Taten im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten verurteilt, mithin zu einer das Maß von vier Monaten übersteigenden Freiheitsstrafe (§ 81 Nr. 2 IRG).

c)

Die Grundsätze der Gegenseitigkeit und der Spezialität werden durch die von EU Staaten zu vollziehende innerstaatliche Transformation des insoweit bindenden RB EuHB (vgl. Art. 27 RB EuHB) gewährleistet. Einer besonderen Zusicherung des ersuchenden Staates bedarf es daher nicht (vgl. Böse in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 82 IRG Rn.2, 18; Hackner in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Interna-tionale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., 2012, § 82 IRG Rn.2, 5).

d)

Gründe, die der Auslieferung nach den Bestimmungen des IRG entgegenstehen, sind nicht ersichtlich.

Der Verfolgte besitzt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Die ihm vorgeworfenen Taten weisen aufgrund der Tatörtlichkeit allein Bezüge zum polnischen Recht auf. Vollstreckungsverjährung tritt nach dem Recht des ersuchenden Staates erst am 26.06.2030 ein.

Der Zulässigkeit der Auslieferung steht auch nicht das Verbot der Doppelbestrafung entgegen. Der Grundsatz "ne bis in idem" gehört zum europäischen ordre public und ist daher Grenze der Rechtshilfe für Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Europarechtlich ist in Art. 54 SDÜ und Art. 3 Nr.2 RbEuHB geregelt, dass ein zwingendes Hindernis für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls besteht, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedsstaat - sei es durch den ersuchenden Mitgliedsstaat, die Bundesrepublik Deutschland als ersuchter Mitgliedsstaat oder einen dritten Mitgliedsstaat - rechtskräftig verurteilt worden ist, sofern die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nicht mehr vollstreckt werden kann. Dies ist durch § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG in innerstaatliches Recht umgesetzt worden (vgl. Vogel in: Grützner/Pötz/Kreß, a.a.O., § 73 Rn.90). Daraus folgt, dass § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG auch anwendbar ist, wenn eine Doppelverfolgung durch den ersuchenden Mitgliedstaat im Raume steht. § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG ist insoweit unter Heranziehung des Art. 3 Nr.2 RbEuHB richtlinienkonform auszulegen.

Anhand der vorgelegten polnischen Unterlagen kann bereits nicht festgestellt werden, ob der Verfolgte wegen derselben Tat, die dem Ersuchen der polnischen Justizbehörden zugrunde liegt, in einem weiteren Verfahren rechtskräftig verurteilt worden ist. Gegen das Urteil des Berufungsgerichts Plock vom 22.12.2017 hat der Verfolgte ausweislich der vorgelegten Unterlagen beim Obersten Gericht in Warschau am 17.02.2018 einen Kassationsantrag eingereicht.

Der Einholung weiterer Information von den polnischen Justizbehörden zu dieser Frage bedurfte es nicht, da schon nach dem Vortrag des Verfolgten das in § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG geregelte Vollstreckungselement nicht erfüllt ist. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift folgt, dass auf die Auslegung des inhaltlich übereinstimmenden Art. 54 SDÜ auch hier zurückgegriffen werden kann (BT-Drs. 15/1718, S. 19). Die vom Verfolgten erlittene Untersuchungshaft gilt wegen des eindeutigen Wortlautes dieser Normen und des bloßen Sicherungszwecks dieser Maßnahme nicht als vollstreckte Strafe im Sinne der Vorschriften (vgl. EuGH, Urteil vom 18.07.2007, C-288/05; Hackner in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 83 Rn.3). Die Vorschrift kann schon ihrem Wortlaut nach nicht gelten, bevor der Betroffene "rechtskräftig abgeurteilt worden ist". In Gerichtsverfahren liegt die Untersuchungshaft jedoch vor dem rechtskräftigen Urteil. Daraus folgt, dass Art. 54 SDÜ für solche Zeiten des Freiheitsentzugs nicht gelten kann, auch wenn diese nach dem nationalen Recht bei der anschließenden Vollstreckung einer gegebenenfalls verhängten Freiheitsstrafe berücksichtigt werden müssen. Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die Untersuchungshaft einem ganz anderen Zweck dient als die in Art. 54 SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung. Während nämlich mit der Untersuchungshaft eher ein präventiver Zweck verfolgt wird, soll die Vollstreckungsbedingung verhindern, dass ein in einem ersten Vertragsstaat rechtskräftig Verurteilter dann, wenn dieser Staat die verhängte Strafe nicht hat vollstrecken lassen, nicht mehr wegen derselben Tat verfolgt werden kann und somit letztlich einer Strafe entgeht (EuGH, a.a.O.).

Darüber hinaus bliebe auch bei Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft ein Rest der Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten zu vollstrecken. Mithin ein Strafrest, der nach § 81 Nr. 2 IRG das Maß von vier Monaten übersteigt. Ob durch die weitere Verurteilung des Verfolgten durch das Berufungsgerichts Plock vom 22.12.2017, das auf die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Ciechanow vom 31.03.2017 ergangen ist, gegen das Doppelverfolgungsverbot verstoßen worden ist und die in diesem Verfahren erlittene Untersuchungshaft auf die in dem Europäischen Haftbefehl genannte Freiheitsstrafe anzurechnen ist, haben die polnischen Justizbehörden zu klären (vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 28.10.2009, 6 AuslA 77/09).

2.

Die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse nach § 83 b IRG geltend zu machen, hält der vom Senat nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG vorzunehmenden Nachprüfung stand.

Das Oberlandesgericht überprüft die Bewilligungsentscheidung lediglich darauf, ob sie ermessensfehlerhaft getroffen wurde. Nach dem Willen des Gesetzgebers steht der Bewilligungsbehörde hierbei ein sehr weites Ermessen zu, das gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüft werden kann. Unter Berücksichtigung dieses weiten Ermessens ist erforderlich, dass die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Oberlandesgericht die gebotene Überprüfung ermöglicht, ob die Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 83b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls bewusst war. In die Ermessensabwägung dürfen keine die Entscheidung maßgeblich beeinflussenden unzulässigen Erwägungen eingestellt werden, die wesentlichen Gesichtspunkte müssen ausdrücklich bedacht und die in dem Bescheid aufgeführten und erkannten Gesichtspunkte müssen abwägend gegenübergestellt werden (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 18.03.2015, 1 Ausl 6/15, StV 2016, 238; Hackner in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, aaO., § 79 IRG Rn.10 m.w.N.; BT-Drucks. 16/1024 S. 11, 13).

Diesen Anforderungen wird die getroffene Entschließung gerecht. Die Entscheidung ist aufgrund einer vollständig und zutreffend ermittelten Tatsachengrundlage getroffen worden und lässt Ermessenfehler nicht erkennen.

3.

Der Auslieferungshaftbefehl des Oberlandesgerichts Celle vom 05.04.2018 bleibt aufrechterhalten. Es besteht weiterhin die Gefahr, dass der Verfolgte, käme er auf freien Fuß, sich dem Auslieferungsverfahren entziehen würde. Fluchthemmende Faktoren, die dem aus der noch zu vollstreckenden Strafe resultierenden Fluchtanreiz hinreichend entgegenwirken könnten, sind nicht ersichtlich. Der Verfolgte verfügt über keinen festen Wohnsitz in Deutschland und es sind keine sozialen bzw. familiären Bindungen ersichtlich.

Weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Auslieferungshaft erscheinen hiernach nicht geeignet, deren Zweck, nämlich das Durchführen der Auslieferung, zu gewährleisten (§ 25 IRG). Die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahme steht nicht in Frage.

III.

Der Senat wird gemäß § 26 Abs. 1 IRG eine Haftprüfung durchführen, wenn sich der Verfolgte zwei Monate in Auslieferungshaft befunden haben wird.