Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 16.11.2018, Az.: 7 A 2852/18
erhebliche Straftat; Ermessensausübung; Fahren ohne Fahrerlaubnis; Fahrerlaubnis; medizinisch-psycholgische Untersuchung
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 16.11.2018
- Aktenzeichen
- 7 A 2852/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74251
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs 3 S 1 Nr 5 FeV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Beutachtung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV kann erfolgen, wenn sich der Fahrerlaubnisbewerber wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafbar gemacht hat und deshalb strafrechtlich verurteilt worden ist. Keine erhebliche Straftat liegt dagegen regelmäßig vor, wenn das Strafverfahren nach § 153 Abs. 1 StPO eingestellt worden ist, weil dem Betroffenen nicht bekannt war, dass er sechs Monate
nach seiner Aufenthaltsnahme in der Bundesrepublik Deutschland einer deutschen Fahrerlaubnis
bedarf.
Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV setzt stets eine sorgfältige Ermessensausübung voraus, aus der sich im Einzelnen ergeben muss, weshalb die sich aus der Anlasstat ergebenden Eignungszweifel unter Berücksichtigung der mit der Untersuchung verbundenen Belastung hinreichend gewichtig sind.
Tenor:
Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der am …1988 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger und ist seit dem 9. Dezember 2015 im Besitz einer bis zum 8. Dezember 2018 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG.
Er ist Inhaber einer in seinem Heimatland ausgestellten Fahrerlaubnis unter anderem für das Führen von Personenkraftwagen. Am 8. März/6. Dezember 2017 beantragte er bei dem Beklagten die Umschreibung dieser Fahrerlaubnis.
Am 18. Dezember 2017 gegen 7:45 Uhr führte der Kläger einen PKW im öffentlichen Verkehr. Am 8. Juni 2018 teilte das Landeskriminalamt Niedersachsen mit, dass der von dem Kläger eingereichte syrische Führerschein als echt bewertet werde.
Mit Schreiben vom 26. Juni 2018 forderte der Beklagte den Kläger auf, sein Einverständnis mit einer medizinisch-psychologischen Untersuchung bis zum 22. Juli 2018 zu erklären und das entsprechende Gutachten bis zum 22. September 2018 vorzulegen. Zur Begründung ist ausgeführt worden: Rechtsgrundlage für die Gutachtenanforderung sei § 11 Abs. 3 FeV. Der Kläger habe am 18. Dezember 2017 ein Fahrzeug ohne die erforderliche Fahrerlaubnis geführt. Der Ausgang des Strafverfahrens sei unerheblich. Weiter wird angeführt: „Bei dem sich darstellenden Sachverhalt ist die hier geforderte Beibringung der Sachverhaltsaufklärung in Form des Gutachtens ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel. Im Rahmen dieser Frage führt die Abwägung der Argumente wie z.B. Kosten, Einschränkungen und Bedingungen mit den Interessen der Allgemeinheit an der Sachverhaltsaufklärung mit dem Ziel einer möglichst unfallfreien und rechtskonformen Teilnahme am Straßenverkehr, bei der Eigentum, Leben und körperliche Unversehrtheit eine wesentliche Rolle spielt dazu, dass ein medizinisch-psychologisches Eignungsgutachten zu fordern ist.“
Der Kläger erklärte hierzu, dass ihm erst bei der polizeilichen Kontrolle bewusst geworden sei, dass er vor der Umschreibung seines Führerscheins kein Kraftfahrzeug führen dürfe. Er habe sich spontan für sein Fehlverhalten entschuldigt und seither auf das Führen von Kraftfahrzeugen verzichtet. Die Voraussetzungen für die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung seien nicht gegeben.
Am 17. Juli 2018 hat der Kläger Klage erhoben. Am 31. Juli 2018 hat die Staatsanwaltschaft … das Strafverfahren gegen den Kläger mit Zustimmung des Amtsgerichts … gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt.
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor: Die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Eignungsgutachtens sei nicht zu rechtfertigen. Er habe lange auf das Ergebnis der Echtheitsüberprüfung warten müssen; die Echtheit seines syrischen Führerscheins habe sich bestätigt. Er habe am 18. Dezember 2017 seinen kleinen Sohn bei sehr schlechtem Wetter in die Schule gebracht. Er sei nicht davon ausgegangen, dass er ohne die erforderliche Fahrerlaubnis fahre.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, über seinen Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er erwidert im Wesentlichen: Über den Antrag des Klägers habe bisher nicht entschieden werden können, da im Hinblick auf § 11 Abs. 3 Nr. 5 FeV Eignungsbedenken bestünden. Das Fahren ohne Fahrerlaubnis sei eine erhebliche Straftat im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Dass das Strafverfahren gegen den Kläger gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt und der Kläger nicht strafrechtlich verurteilt worden sei, sei unerheblich. Im Schreiben vom 26. Juni 2018 sei das Ermessen pflichtgemäß ausgeübt worden. Die lange Dauer der Echtheitsüberprüfung sei nicht von ihm, dem Beklagten, zu vertreten. Trotz mehrfacher Nachfragen habe das Landeskriminalamt Niedersachsen diese erst im Juni 2018 abgeschlossen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die Akte der Staatsanwaltschaft … (…) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, obwohl der Beklagte bisher über den Antrag des Klägers auf Erteilung der Fahrerlaubnis nicht entschieden hat. Der Beklagte hat nämlich im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1994 - 5 C 24.92 – juris, Rn. 12; Kopp/Schenke, VwGO, Rn. 2 zu § 75) ohne zureichenden Grund in angemessener Frist keine Entscheidung getroffen (§ 75 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat bereits mit Schriftsatz vom 2. Juli 2018 mitgeteilt, dass er nicht bereit sei, sich einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zu unterziehen, so dass aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Beklagten eine (ablehnende) Entscheidung seither möglich war. Dennoch sind seither über vier weitere Monate verstrichen.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über seinen Antrag auf Erteilung der Fahrerlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidet (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Der Kläger ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Er hat sich zwar geweigert, der Anordnung des Beklagten vom 26. Juni 2018 zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nachzukommen, so dass gem. § 11 Abs. 8 FeV grundsätzlich auf die fehlende Eignung geschlossen werden kann. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Untersuchung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (st.Rspr. vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 17. November 2016 - 3 C 20.15 - juris, Rn.19).
Die Gutachtenanordnung war indes rechtswidrig.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV kann die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Klärung von Eignungszweifeln angeordnet werden bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr steht oder bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen.
Dass der Kläger am 18. Dezember 2017 ein Kraftfahrzeug ohne Fahrerlaubnis geführt hat, stellt keine erhebliche Straftat dar. Als erheblich ist grundsätzlich jede Verkehrsstraftat anzusehen, die nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem eintragungspflichtig ist. Für ein eher weites Verständnis spricht, dass es in diesen Fällen geboten ist, im Rahmen der erforderlichen Ermessensbetätigung näher zu prüfen, ob es angezeigt erscheint, dass Zweifel an der Fahreignung ausgeräumt werden müssen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 11. Oktober 2017 - 10 S 746/17 - juris, Rn. 35).
Daher sind die Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV regelmäßig erfüllt, wenn der Betroffene wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis rechtskräftig verurteilt worden ist. Denn nach der Anlage 13 zur FeV werden hierfür zwei bzw. drei Punkte eingetragen. Grundsätzlich können sich aus einer solchen Tat Zweifel an der Bereitschaft, sich an die straßenverkehrsrechtlichen Regeln zu halten, ergeben (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 11. April 2017 – 16 E 132/16 – juris, Rn. 19; VGH München Beschluss vom 25. Mai 2016 - 11 C 16.781 - juris; offen: OVG Lüneburg, Urteil vom 8. Juli 2014 - 12 LC 224/13 - juris, Rn. 50).
Hier ist das Strafverfahren gegen den Kläger jedoch gemäß § 153 Abs. 1 StPO wegen geringer Schuld eingestellt worden. Zu einer eintragungspflichtigen Verurteilung ist es mithin gerade nicht gekommen. Zwar bedarf es für die Anwendung des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV keiner rechtskräftigen Verurteilung (vgl. Dauer in: Hentschel u.a., Straßenverkehrsrecht, Rn. 35 zu § 11 FeV). Es liegt aber kein Fall vor, bei dem aus Gründen der Gefahrenabwehr eine von den Strafverfolgungsbehörden abweichende Beurteilung gerechtfertigt erscheint. Der Kläger hat vorgetragen, dass er wegen seiner syrischen Fahrerlaubnis angenommen habe, weiterhin zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt zu sein. Die Richtigkeit dieses Vortrages erscheint naheliegend. Nach § 29 Abs. 1 Satz 4 FeV hat der Inhaber einer in einem anderen Staat erteilten Fahrerlaubnis auch nach Begründung eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland noch für sechs Monate die Berechtigung ein Fahrzeug zu führen. In der von dem Kläger eingereichten Übersetzung des syrischen Führerseins ist zwar der Inhalt des § 29 FeV beschrieben. Angesichts der nur eingeschränkten Sprachkenntnisse des Klägers, kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass er diesen Hinweis zu Kenntnis genommen hat. Zudem ist auf der Übersetzung des Führerscheins deutlicher hervorgehoben auch ausgeführt worden, dass nur Fahrzeuge benutzt werden dürften, die auch im Ausstellerland gefahren werden dürfen. Abgesehen davon ergibt sich die geringere Wertigkeit des Verstoßes auch daraus, dass der Kläger wegen der in Syrien erworbenen Fahrerlaubnis grds. zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen befähigt ist.
Selbst wenn man abweichend hiervon die Tat vom 18. Dezember 2017 als erheblich beurteilen würde, wäre die Gutachtenanordnung vom 26. Juni 2018 nicht rechtmäßig. Denn der Beklagte hat das ihm nach § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt (§ 114 VwGO). Die Fahrerlaubnisbehörde muss gerade wegen der oben beschriebenen Weite der Tatbestände in diesem Zusammenhang anhand aller Umstände des konkreten Falls besonders sorgfältig prüfen und auch im Einzelnen darlegen, weshalb die sich aus der Anlasstat ergebenden Eignungszweifel hinreichend gewichtig sind, dass trotz der mit einer medizinisch-psychologischen Begutachtung verbundenen nicht unbeträchtlichen Belastung eine Untersuchung erforderlich erscheint (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2016 a.a.O., Rn. 36; VGH Mannheim a.a.O., Rn. 38).
Diesen Anforderungen genügt das Schreiben des Beklagten vom 26. Juni 2018 nicht. Eine abwägende Entscheidung, bei der die oben dargestellten Milderungsgründe berücksichtigt worden sind, ist nicht erkennbar. Es wird sogar angeführt, dass der damals noch offene Stand des Strafverfahrens für die Fahrerlaubnisbehörde nicht erheblich sei. Daher ist von einer weiteren Ermittlung des Sachverhalts auch von vornherein abgesehen worden, so dass der Beklagte sich einer Auseinandersetzung mit den für den Kläger sprechenden Gründe von vornherein entzogen hat. Im Übrigen hat der Beklagte selbst nach dem entsprechenden Vortrag des Klägers im Schriftsatz vom 2. Juli 2018 und nach Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft … keine neue Beurteilung vorgenommen (vgl. Schriftsatz des Beklagten vom 13. September 2018). Er hat insbesondere nicht dargelegt, weshalb trotz des Umstandes, dass der Kläger nach seinen Angaben in Unkenntnis der Rechtslage ohne die erforderliche Fahrerlaubnis ein Kraftfahrzeug geführt hat, noch eine Klärung seiner Einstellung zu der Einhaltung verkehrsrechtlicher Bestimmungen erforderlich erscheint. Die Anordnung vom 26. Juni 2018 enthält zudem nicht einmal eine klare Benennung der maßgeblichen Vorschrift. Vielmehr werden die Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, 5 und 6 FeV angeführt, ohne dass unter diese im Einzelnen subsumiert wird. Die im Tatbestand wörtlich zitierten Ausführungen auf Seite 1 letzter Absatz bis Seite 2 oben des Schreibens vom 26. Juni 2018 stellen keine einzelfallbezogene Ermessensausübung dar, sondern sind hiervon losgelöste - vermutlich auf einem Textstein beruhende - allgemeine Erwägungen.
Dem Kläger ist mithin nunmehr Gelegenheit zu geben, den erforderlichen Nachweis der Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen in einer theoretischen und praktischen Prüfung (§ 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 StVG) zu erbringen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.