Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.12.2009, Az.: 1 Ss 196/09
Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung des Opfers einer Sexualstraftat
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 18.12.2009
- Aktenzeichen
- 1 Ss 196/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 31784
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2009:1218.1SS196.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Aurich - 19.08.2009 - AZ: 13 Ns 309/09
Rechtsgrundlage
- § 247 S. 1, 2 StPO
Fundstellen
- StV 2011, 219-220
- StraFo 2010, 115-116
Amtlicher Leitsatz
Die Entfernung des Angeklagten während der Aussage einer Opferzeugin kann nicht wegen der Befürchtung angeordnet werden, die Zeugin werde ansonsten nicht die Wahrheit sagen, wenn diese Einschätzung allein darauf gestützt wird, dass nach einer ärztlichen Bescheinigung eine Begegnung der psychisch alterierten und traumatisierten Zeugin mit dem Angeklagten aus medizinischen Gründen unbedingt vermieden werden sollte.
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 1. großen Jugendkammer - Jugendschutzkammer - des Landgerichts Aurich vom 19.08.2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Jugendkammer des Landgerichts Aurich zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Aurich - Jugendschöffengericht - hat den Angeklagten mit Urteil vom 10.03.2009 wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hat die erste große Jugendkammer - Jugendschutzkammer - des Landgerichts Aurich mit Urteil vom 19.08.2009 verworfen.
Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Die zulässige Revision des Angeklagten hat Erfolg.
Zur umfassenden Urteilsaufhebung führt die vom Beschwerdeführer erhobene Verfahrensrüge eine Verletzung des § 247 StPO aufgrund folgender Vorgänge:
In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Aurich vom 19.08.2009 hat das Landgericht auf Antrag der Nebenklägervertreterin den Angeklagten während der Vernehmung der 22 Jahre alten Zeugin S... E... von der Teilnahme an der Hauptverhandlung ausgeschlossen.
Der Beschluss des Landgerichts lautet wie folgt:
"Der Angeklagte wird gemäß § 247 StPO von der Anwesenheit bei der Vernehmung der Zeugin S... E... ausgeschlossen. Es besteht die Gefahr, dass die Zeugin in Gegenwart des Angeklagten aus den Gründen der beigebrachten ärztlichen Bescheinigung nicht vollständig und richtig aussagt."
In der in Bezug genommenen ärztlichen Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin - Naturheilverfahren D... K... vom 12.08.2009 heißt es:
"O.a. Patientin (S... E...) ist bezüglich des zu verhandelnden Geschehens psychisch alteriert und traumatisiert. Ein persönlicher Kontakt zwischen Täter und Opfer sollte aus medizinischen Gründen unbedingt vermieden werden. Frau E... darf vor, während und nach der Verhandlung keinesfalls ihrem Peiniger begegnen."
Der Angeklagte rügt zu Recht, dass der Beschluss des Landgerichts keine für eine zeitweise Entfernung aus der Hauptverhandlung gemäß § 247 Satz 1 StPO ausreichende Begründung enthält. Aus der beigebrachten ärztlichen Bescheinigung ergibt sich keinerlei konkreter Anhaltspunkt für eine Befürchtung, die Zeugin werde bei ihrer Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Eine nähere Begründung wäre nur entbehrlich gewesen, wenn - anders als im vorliegenden Fall - evident gewesen wäre, dass die Voraussetzungen des § 247 Satz 1 StPO vorgelegen haben. Der bloße Wunsch einer Zeugin, in Abwesenheit des Angeklagten aussagen zu dürfen, kann die Anordnung nach § 247 Satz 1 StPO nicht rechtfertigen (BGHSt 22, 18, 21). Ein Beschluss, durch den die Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung angeordnet wird, muss schon deshalb konkrete Angaben enthalten, weil anderenfalls das Revisionsgericht auf die entsprechende formelle Rüge nicht prüfen kann, ob das Tatgericht das ihm eingeräumte Ermessen zutreffend ausgeübt und zu Recht die Voraussetzungen des § 247 StPO angenommen hat. Nur dann ist die Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung gerechtfertigt und der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht gegeben.
Soweit in Rechtsprechung und Literatur davon ausgegangen wird, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO auch dann nicht gegeben ist, wenn bei einem nicht oder nicht ausreichend begründeten Gerichtsbeschluss, der eine Maßnahme nach § 247 StPO anordnet, mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass die sachlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift vorgelegen haben und vom Tatgericht nicht verkannt worden sind (vgl. MeyerGoßner, StPO, 52. Aufl., § 247 Rdn. 19 m. w. N.) führt dies hier zu keinem anderen Ergebnis. Die Annahme eines solchen Ausnahmefalls ist nur dann gerechtfertigt, wenn keine Zweifel bestehen, ob das Gericht das ihm eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Ob ein Ausschluss des Angeklagten gemäß § 247 Satz 2 StPO in Betracht kommen könnte, weil die Vernehmung der 22 Jahre alten Zeugin in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für die Gesundheit der Zeugin zur Folge gehabt hätte, hat das Landgericht nicht geprüft. Angesichts der wenig aussagekräftigen Angaben der Fachärztin für Allgemeinmedizin K... vom 12.08.2009 und der Tatsache, dass sich die Zeugin nach eigenen Angaben nicht in einer Behandlung befunden hat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Ausschlussgrund nach § 247 Satz 2 StPO vorliegt. Bezeichnenderweise hat das Landgericht trotz des dahingehenden Antrags der Nebenklägerin den Ausschluss gerade nicht auf diesen Ausschlussgrund gestützt.
Da somit nicht auszuschließen ist, dass die sachlichen Voraussetzungen des § 247 ZPO von der Strafkammer verkannt worden sind, muss das Urteil aufgehoben werden (§ 338 Nr. 5 StPO).
Eines Eingehens auf die weiteren Revisionsrügen bedarf es nicht.
Im Hinblick auf die zukünftige Verhandlung wird das Landgericht bei der Frage der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin E... angesichts der attestierten Traumatisierung der Zeugin eingehend zu prüfen haben, ob die eigene Sachkunde und Erfahrung bei der Bewertung von Zeugenaussagen ausreicht oder ob es - was naheliegen könnte - der Hilfe eines Sachverständigen bedarf.