Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 09.07.2009, Az.: L 7 AS 566/09 B ER

Umfassung von Mehrbedarfsleistungen gemäß § 21 Abs. 5 SGB II durch das Sozialgeld nach § 28 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Anspruch auf Mehrbedarf in angemessener Höhe bei Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung aus medizinischen Gründen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
09.07.2009
Aktenzeichen
L 7 AS 566/09 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 19100
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2009:0709.L7AS566.09B.ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 17.04.2009 - AZ: S 16 AS 255/09 ER

Fundstelle

  • ZfF 2010, 209-210

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 17. April 2009 aufgehoben.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die am 17. September 1995 geborene Antragstellerin wohnt mit ihrem Bruder, ihrer Mutter und deren Lebenspartner zusammen. Sie bilden eine Bedarfsgemeinschaft. Auf den Antrag der Mutter der Antragstellerin, Frau E., auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) stellte der Antragsgegner mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. November 2008 fest, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) II habe, weil ihr Einkommen in Höhe von 466,00 EUR monatlich (bestehend aus Unterhalt: 312,00 EUR und Kindergeld: 154,00 EUR) den Bedarf von 355,65 EUR (Sozialgeld: 211,00 EUR, Mietanteil: 93,75 EUR, Nebenkostenanteil: 25,00 EUR und Heizkostenanteil: 25,50 EUR) um 110,75 EUR monatlich übersteige.

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Am 17. September 2008 beantragte die Mutter der Antragstellerin für sie die Gewährung von Leistungen für Mehrbedarf in Form einer kostenaufwändigen Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II unter Vorlage eines ärztlichen Attestes des behandelnden Arztes F. vom 04. September 2008. Danach bestehe bei der Antragstellerin eine Laktose- und Fructoseintoleranz mit seit Jahren zunehmender Malabsorption und Asthma bronchiale mit emotionalen Störungen. Diesen Antrag lehnte der Antragsteller mit Bescheid vom 16. Oktober 2008 und Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2009 ab, weil die Ernährung mit lactosefreien Produkten nicht teuerer sei als die normale Ernährung. Darüber ist seit dem 10. Februar 2009 beim Sozialgericht (SG) Osnabrück ein Klageverfahren anhängig (Aktenzeichen: S 16 AS 91/09).

3

Am 09. April 2009 hat die Antragstellerin beantragt, im Wege der einstweiligen Verfügung den Antragsgegner zur Zahlung eines Mehrbedarfs von 50,00 EUR monatlich zu verpflichten. Das SG Osnabrück hat mit Beschluss vom 17. April 2009 die einstweilige Verfügung erlassen und den Antragsgegner zur Zahlung an die Antragstellerin ab 09. April 2009 bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren von 50,00 EUR monatlich als Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung verpflichtet. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners vom 06. Mai 2009.

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Wegen des vollständigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.

5

II.

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet und führt zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Regelung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind nicht erfüllt, sodass der Eilantrag der Antragstellerin abzulehnen ist.

6

Eine vorläufige Regelung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt voraus, dass ein materiell-rechtlicher Anspruch auf eine bestimmte Leistung mit großer Wahrscheinlichkeit im späteren Hauptsacheverfahren bestätigt wird (Anordnungsanspruch) und ferner das eine besondere Eilbedürftigkeit für eine gerichtliche Regelung besteht, weil ansonsten in der geschützten Rechtsposition des Rechtsuchenden schwere Nachteile eintreten würden (Anordnungsgrund). Die Antragstellerin hat vorliegend bereits den Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Leistungen für einen ernährungsbedingten Mehrbedarf stehen ihr nicht zu. Das Begehren der Antragstellerin scheitert bereits daran, dass sie nach bestandskräftiger Entscheidung des Antragsgegners keinen Anspruch auf Alg II (§ 19 Satz 1 SGB II) hat. Sie kann mit dem den individuellen Bedarf übersteigenden Einkommen in Höhe von 110,75 EUR monatlich den behaupteten Mehraufwand für medizinisch angezeigte Ernährung in Höhe von 50,00 EUR monatlich tragen und ist insoweit nicht hilfebedürftig.

7

Gemäß § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Wie aus dem Gesetzeswortlaut ersichtlich, können diese Leistungen nur "Hilfebedürftige" beanspruchen. Das bedeutet, dass die Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 SGB II eine Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt nach § 21 Abs. 5 SGB II darstellt. Diese Einschränkung ergibt sich auch aus der Systematik und aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Regelung in § 21 SGB II will Mehrbedarfe ausgleichen, die nicht durch die Regelleistung abgedeckt sind (§ 21 Abs. 1 SGB II). Der gesetzliche Mehrbedarf bezieht sich auf besondere Lebensumstände von bestimmten Personengruppen, bei denen der in der Regelleistung zur Sicherung des Unterhaltes enthaltene Bedarf (§ 20 Abs. 1 SGB II) als nicht ausreichend angesehen wird. Die Mehrbedarfsleistungen nach § 21 SGB II ist deshalb zu den laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt zuzurechnen und dient lediglich der Sicherung der durch gesteigerte Bedarfssituationen bedingten Mehraufwendungen, die durch die Regelleistung nicht abgedeckt sind. Soweit der Gesetzgeber den begünstigten Personenkreis - wie in § 21 Abs. 5 SGB II für den Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung - mit dem Begriff "Hilfebedürftige" festsetzt, ist davon auszugehen, dass damit die fehlende Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 SGB II gemeint ist, aus eigenen Kräften für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen (vgl.: Hannes in Gagel, SGB II/SGB III-Kommentar, Stand: 2009, § 21 Rdnr. 4).

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Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass der Gesetzgeber in § 21 Abs. 5 SGB II auch den weiteren Begriff "Erwerbsfähige" unpräzise verwandt habe. Es ist nämlich allgemein anerkannt, dass das Sozialgeld nach § 28 SGB II nach Maßgabe des § 28 Abs. 1 Satz 3 SGB II auch Mehrbedarfsleistungen gemäß § 21 Abs. 5 SGB II erfasst, obwohl das Sozialgeld im Prinzip nur Nichterwerbsfähigen in der Bedarfsgemeinschaft zusteht (vgl. Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB III-Kommentar, K § 28 Rdnr. 42 ff). Diese Ungenauigkeit ist aber nicht auf den Be-griff der "Hilfebedürftigen" als Voraussetzung für den Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung zu übertragen. Zum einen zeigt der Gesetzgeber für die inhaltsgleiche Regelung im Sozialhilferecht, dass er durchaus in der Lage ist, den Personenkreis für diesen Mehrbedarf genau zu umschreiben (§ 30 Abs. 5 SGB XII: Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen), und nicht den Begriff der Leistungsberechtigten im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII - (vergleichbar mit dem Begriff "Hilfebedürftige" im Grundsicherungsrecht) verwendet. Zum zweiten ist nicht zu übersehen, dass der Gesetzgeber in § 21 Abs. 3 SGB II die Anspruchsberechtigten für den Mehrbedarf für Alleinerziehung allgemein mit "Personen" definiert, obwohl im ursprünglichen Gesetzesentwurf vom 17.10.2003 vorgesehen war, dass der Mehrbedarf für Alleinerziehende nur erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zustehen sollte (Bundesrat-Drucks. 731/03 S. 9 zu § 21 Abs. 5). Wenn der Normgeber jedoch im Gesetzgebungsverfahren für einen andersartigen Mehrbedarf in derselben Vorschrift auf das Erfordernis der Hilfebedürftigkeit als Anspruchsvoraussetzung verzichtet, verbietet sich jede erweiternde Auslegung bezüglich eines anderen Mehrbedarfes (hier § 21 Abs. 5 SGB II), bei dem das Merkmal der Hilfebedürftigkeit beibehalten wurde. Soweit der Gesetzgeber zusätzlich zum Alg II im Sinne der §§ 19, 20 SGB II ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes trotz fehlender Hilfebedürftigkeit erbringen wollte, hat er dies nämlich ausdrücklich geregelt, wie in § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB II geschehen (vgl. auch § 26 Abs. 3 SGB II).

9

Ein für die Antragstellerin günstigeres Ergebnis kann nicht damit begründet werden, dass bei Studenten ein nicht ausbildungsbedingter Mehrbedarf nach § 21 Abs. 3 SGB II anerkannt wird, obwohl der Grundanspruch nach § 7 Abs. 5 SGB II ausgeschlossen ist (BSG, SozR 4-4200 § 7 Nr. 6). Dies beruht auf dem Hintergrund einer Überlegung, die nicht auf die vorliegende Fallgestaltung übertragbar ist: Der Leistungsausschluss für Studenten und Auszubildende nach § 7 Abs. 5 SGB II erfolgt im Rahmen des Nachrangs von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende gegenüber vorgelagerten Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und geht von der Prämisse aus, das BAföG oder SGB III den entsprechenden Bedarf abdecken, sodass grundsätzlich auch keine Aufstockung dieser Leistung in Betracht kommt. Der Leistungsausschluss gilt aber nicht, wenn wegen der Ausbildungssituation ein besonderer zusätzlicher Bedarf entstanden ist, der nicht durch die vorrangigen Sozialleistungssysteme gedeckt werden kann. Im Übrigen ist nach Auffassung des Senates auch für diesen ausbildungsbedingten Mehrbedarf Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II erforderlich.

10

Nicht übertragbar ist schließlich der Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 21. Oktober 2008 (L 6 AS 458/08 ER), nach dem im Eilverfahren eine Folgenabwägung zugunsten der Antragsteller zu erfolgen hat, wenn der medizinische Sachverhalt bei einer Lactoseintoleranz durch die Behörde nicht vollständig aufgeklärt worden ist, was hier allerdings auch zutreffen würde. Denn in diesem Rechtsstreit verneint der Senat bereits die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung. Dies gilt umso mehr, als das den Grundbedarf übersteigende Einkommen der Antragstellerin durch den behaupteten (und nicht näher belegten) Mehraufwand für lactosefreie Produkte nicht einmal zur Hälfte aufgezehrt wird.

11

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG. Da die Antragstellerin unterliegt, muss sie für ihre außergerichtlichen Kosten aufkommen.

12

Dieser Beschluss ist mit einer weiteren Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).