Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 24.09.2012, Az.: 2 W 247/12
Gerichtsgebühren bei Widerruf der Absicht zur Klagerhebung zeitlich vor Eingang der Klageschrift
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 24.09.2012
- Aktenzeichen
- 2 W 247/12
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 24472
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2012:0924.2W247.12.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 03.09.2012
Rechtsgrundlagen
- GKVerz Nr. 1211
Fundstellen
- AGS 2012, 574-576
- BauR 2013, 278
- MDR 2012, 1378-1379
- NJW 2012, 8
- NJW-Spezial 2013, 29
- RVGreport 2013, 35-36
Amtlicher Leitsatz
Die gerichtliche Verfahrensgebühr nach Nr. 1211 des Kostenverzeichnisses der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG entsteht nicht, wenn der Kläger mit einem noch vor Einreichung der Klageschrift bei dem Gericht eingegangenen Schriftsatz darum bittet, die versehentlich an das unzuständige Gericht adressierte und auf den Postweg gebrachte Klage nicht einzutragen.
Tenor:
Die Beschwerde der L. vom 10. September 2012 gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 3. September 2012 wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I. Die L. wendet sich gegen einen Beschluss des Landgerichts Lüneburg, durch welchen es auf die Erinnerung der Klägerin eine Kostenrechnung des Landgerichts Lüneburg, mit welcher der Klägerin eine Gerichtsgebühr nach Nr. 1211 KV-GKG in Rechnung gestellt wurde, aufgehoben hatte.
Am 9. Mai 2012 um ca. 10.30 Uhr ist beim Landgericht Lüneburg die ohne Ausstellungsdatum erstellte Klageschrift der Klägerin eingegangen.
Zuvor hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am gleichen Tage telefonisch erfragt, ob die Klageschrift beim Landgericht bereits eingegangen war, was seitens des Landgerichts zutreffend verneint worden war. Darauf haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 9. Mai mit um 08:43 Uhr per Telefax beim Landgericht Lüneburg eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tag Folgendes mitgeteilt:
"...erfuhren wir auf telefonische Nachfrage, dass unsere Klageschrift vom 07.05.2012 noch nicht bei Gericht eingegangen ist. Die Klage wurde an das unzuständige Gericht eingereicht. Wir bitten die Sache nicht einzutragen, sondern mit unserem Büro Rücksprache aufzunehmen. Wir haben die Klage bereits bei dem zuständigen Landgericht Oldenburg eingereicht."
Mit Kostenrechnung vom 31. Juli 2012 hat das Landgericht Lüneburg der Klägerin eine Verfahrensgebühr gemäß Nr. 1211 KV-GKG in Rechnung gestellt.
Diese Kostenrechnung wurde durch Beschluss vom 3. September 2012 der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg auf die Erinnerung der Klägerin vom 16. August 2012 aufgehoben.
Gegen diesen Beschluss hat der Bezirksrevisor am 10. September 2012 Beschwerde eingelegt.
Die 9. Zivilkammer der Landgerichts Lüneburg hat der Beschwerde durch Beschluss vom 12. September 2012 nicht abgeholfen.
II. Die gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 GKG zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Zu Recht hat das Landgericht die Kostenrechnung vom 31. Juli 2012 auf die Erinnerung der Klägerin vom 16. August 2012 aufgehoben, weil die Voraussetzungen für die Entstehung der mit der angegriffenen Kostenrechnung in Rechnung gestellten Gerichtsgebühr gemäß Nr. 1210, 1211 KV-GKG nicht vorgelegen haben.
1. Gem. § 6 Abs. 1 GKG wird die Verfahrensgebühr gemäß Nr. 1210 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG mit der Einreichung der Klageschrift, nicht aber erst mit der Zustellung an die gegnerische Partei fällig (OLG Celle AGS 2009, 341 [OLG Celle 23.12.2008 - 2 W 283/08], Rn. 5). Klageschrift im vorgenannten Sinn ist aber jedes Schriftstück, in dem die Absicht der Klageerhebung zum Ausdruck kommt (vgl. Senat aaO., Musielak/Foerste, ZPO, 9. Auflage, § 253 Rdz. 6).
Dafür spricht auch der sachliche Gehalt der Vorgängerregelungen zu § 6 Abs. 1 GKG. § 74 und später § 106 GKG knüpfte die Fälligkeit der Gebühr an das Stellen eines Antrages an. Antrag war dabei nicht im Sinne eines Sach- oder Klageantrages zu verstehen. Unter Antrag war dasjenige Begehren, das Verfahren stattfinden zu lassen (vgl. Senat aaO.; Rittmann-Wenz, GKG, 16. Aufl. 1936, § 74 Rz. 3) bzw. diejenige Parteihandlung zu verstehen, "die nötig und dazu bestimmt ist, das betreffende Verfahren in Fluss zu bringen, die es "bedingt" (vgl. Friedlaender/Friedlaender, GKG, 1928, § 74 Rz. 3).
Nach dem Wortlaut des § 6 Abs. 1 GKG entsteht die Verfahrensgebühr mithin in dem Moment, in dem ein Schriftstück im vorgenannten Sinn bei Gericht postalisch oder per Fax eingeht (vgl. Oestreich/Winter/Hellstab, GKG, Stand: Oktober 2008, Nr. 1210 KV Rdz. 49).
a) Die Absicht zur Klageerhebung kam mit der am 9. Mai 2012 um ca. 10:30 Uhr bei Landgericht eingegangenen Klage nicht mehr zum Ausdruck, weil bereits um 08:43 Uhr am gleichen Tage das Fax der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 9. Mai 2012 (Bl. 12 d. A.) mit der Bitte vorlag, die Klage nicht einzutragen.
Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung sind auch Prozesshandlungen nach den §§ 133, 157 BGB auszulegen (BGH NJW-RR 1994, 568 [BGH 11.11.1993 - VII ZB 24/93], Rn. 7; BGH NJW 1995, 1183, Rn. 11). Dabei ist zu Gunsten einer Prozesspartei stets davon auszugehen, dass sie im Zweifel mit ihrer Prozesshandlung dass bezweckt, was nach Maßgabe der Prozessordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BGH MDR 1993, 469, Rn. 3).
Unter Berücksichtigung dieser Auslegungskriterien kann der Klageschrift zum Zeitpunkt ihres Eingangs bei Gericht nicht mehr die erforderliche Absicht zur Klageerhebung beigemessen werden. Die vorzunehmende Auslegung konnte nicht nur ausschließlich anhand der Klageschrift erfolgen, sondern hatte den Inhalt des zeitlich vorgehenden Faxes vom gleichen Tage miteinzubeziehen. Unter Berücksichtigung beider Schriftsätze ergibt sich eindeutig, dass eine Klageerhebung nicht mehr gewollt war, weil die Klage mittlerweile bereits bei dem zuständigen Gericht eingereicht worden war und die Prozessbevollmächtigten der Klägerin ausdrücklich darum baten, die Klageschrift nicht einzutragen.
b) Nach alledem kommt es nicht einmal entscheidend darauf an, dass sich dieses Ergebnis auch aus dem Rechtsgedanken des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB ergibt.
Die Klageeinreichung ist eine Prozesshandlung. Prozesshandlungen sind keine Rechtsgeschäfte (vgl. hierzu Palandt/Ellenberger, 71. Auflage, Überbl. vor § 104 Rz. 37). Ihre Voraussetzungen und Wirkungen regelt dass Prozessrecht (Thomas- Putzo/Reichhold ZPO Einl. III, MüKO ZPO/Lücke, Einl. Rn. 270). Sofern das Prozessrecht keine eigenen Regelungen trifft, sind die Vorschriften des BGB entsprechend anwendbar. Dies gilt z. B. für die Auslegung der Prozesshandlungen; hier ist § 133 BGB entsprechend anwendbar (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. Oktober 1988 III B 184/86 BStBl II 1989, 107). Auch der Rechtsgedanke des § 140 BGB ist anwendbar (BGH NJW 1987, 1204).
Für den Widerruf von Prozesshandlungen gilt grundsätzlich § 130 Abs. 1 S. 2 BGB entsprechend (Niedersächsisches Finanzgericht EFG 2004, 1239, Rn. 28; Zöller ZPO vor § 128 Rz. 18).
Die dagegen vorgebrachten Bedenken der gegenteiligen Literaturansichten (Palandt/Ellenberger 71. Auflage, § 130 Rn. 3; MüKo/Einsele, 6. Auflage, § 130 Rn. 44 und Soergel/Hefermehl, 13. Auflage, § 130 Rn. 4) überzeugen gerade im vorliegenden Fall nicht. Sie begründen die Nichtanwendbarkeit mit der grundsätzlich zutreffenden Ansicht, dass für die Wirksamkeit prozessualer Erklärungen nicht die Entgegennahme durch einen zuständigen Bediensteten erforderlich sei (MüKo aaO.) bzw. dass der Begriff des Zugangs im Sinne der Zivilprozessordnung die Besitzerlangung des Adressaten erfordere (Soergel aaO.).
Darauf kommt es aber für die entsprechende Anwendbarkeit des § 130 Abs. 1 S. 2 BGB nicht an. Der Begriff des Zugangs ist in § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB und in Satz 2 der genannten Vorschrift identisch geregelt. Daher können im Rahmen der entsprechenden Anwendung des § 130 BGB die im Vergleich zum Bürgerlichen Gesetzbuch in der Zivilprozessordnung differenzierenden Zugangskriterien gleichförmig angewandt werden. Die Nichtanwendung des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB gebietet diese Differenzierung nicht. Im Gegenteil geht der Senat ebenfalls davon aus, dass für die Wirksamkeit der Klageerhebung nicht die Entgegennahme durch einen zuständigen Bediensteten erforderlich ist (vgl. OLG Celle aaO.). Dies muss dann aber auch für einen Widerruf i. S. d. § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB gelten.
Entsprechend der Regelung in § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB wird die Prozesserklärung nicht wirksam, wenn dem zuständigen Gericht vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. Vorliegend ging der Widerruf in Form des Faxes vom 9. Mai 2012 um 08.43 Uhr und somit vor der Klageeinreichung am 9. Mai 2012 um ca. 10:30 Uhr beim Landgericht ein.
Die Prozesserklärung der Klageerhebung wäre bei Anwendung des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht wirksam geworden und hätte keine Gebühren auslösen können.
2. Die Entscheidung des OLG München (MDR 1996, 1075 [OLG München 14.08.1996 - 11 W 1689/96]) erfordert keine abweichende Beurteilung, weil - worauf das Landgericht in seinem Nichtabhilfebeschluss zutreffend hinweist - der der Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt insoweit abweicht, als dass die Klagerücknahme nicht vor oder gleichzeitig mit der Klageeinreichung, sondern einen Tag später beim Gericht einging und somit die Prozesshandlung wirksam geworden war. Der Satz:
"Zum anderen muss die einfache Gebühr auch dann gezahlt werden, wenn die Klagerücknahme gleichzeitig oder sogar früher als die Klage erstmals zur Geschäftsstelle gelangt."
stellt daher allenfalls ein obiter dictum dar. Ebenfalls zutreffend weist das Landgericht darauf hin, dass für die Frage der Klageeinreichung nicht der Eingang auf der Geschäftsstelle, sondern auf die Einreichung bei Gericht, also in der Regel die Posteingangsstelle abzustellen ist.
3. Die Entscheidung des 8. Zivilsenats des OLG Celle (8 W 451/00) vom 1. November 2000 geht zwar richtigerweise davon aus, dass ein Widerruf einer Klage im Kostenrecht nicht vorgesehen ist. Zum einen ist jedoch bereits fraglich, ob die Entscheidung einen vergleichbaren Sachverhalt betrifft, weil Grundlage der dortigen Entscheidung ein Sachverhalt war, in welchem offenbar nicht feststellbar war, ob die Klagerücknahme vor oder nach Einreichung der Klage erfolgte. Offensichtlich wurde als weitere Abweichung auch ausdrücklich die Rücknahme der Klage und nicht der Widerruf erklärt.
Weiterhin wird in der Entscheidung übersehen, dass es zur Entstehung der Gerichtsgebühren einer wirksamen Klageeinreichung bedarf. Ist die Klage nicht wirksam erhoben, sind auch keine Gebühren entstanden, so dass auch keine entsprechende Kostenregelung zum Entfallen der Gebühren erforderlich ist.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 66 Abs. 8 GKG.