Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 02.07.2020, Az.: L 6 U 30/18
Voraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls; Sturz während einer Doktorandenfeier; Aufgabenbereich als Entsorgungsbeauftragte; Beweislast für anspruchsbegründende Tatsachen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 02.07.2020
- Aktenzeichen
- L 6 U 30/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 39048
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 19.12.2017 - AZ: S 21 U 6/15
Rechtsgrundlage
- § 8 Abs. 1 SGB VII
Fundstelle
- NZA-RR 2020, 502-503
Redaktioneller Leitsatz
1. Für die Feststellung eines Arbeitsunfalls muss sich eine Gefahr verwirklichen, gegen die die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll.
2. Beweispflichtig für die anspruchsbegründenden Tatsachen ist nach den Regeln der objektiven Beweislast der Anspruchsteller.
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. Dezember 2017 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Die 1959 geborene Klägerin war seit 1975 als Angestellte im F. (MPI) für experimentelle Medizin in G. beschäftigt. Mit Schreiben vom 5. Juli 2012 teilte die Techniker Krankenkasse (TK) H. der Beklagten mit, dass die Klägerin am 15. Mai 2012 möglicherweise einen Arbeitsunfall erlitten habe.
Die Ermittlungen der Beklagten ergaben, dass an diesem Tag die traditionelle Verabschiedung der Doktoranden des MPI mit dem sogenannten Doktorwagen stattfand, einem etwas größeren Handkarren, auf dem der Promovierte durch die Stadt zum I. gezogen wird. Auf dem Rückweg zum Institut zogen zwei Kolleginnen der Klägerin den Wagen vorne, während die Klägerin an dessen Ende schob. Auf der Höhe des J. verließen sie die K., um auf den Fußweg/Vorplatz zu gelangen. Nach ihren Angaben vom 16. Juni 2012 geriet die Klägerin dabei ins Stolpern oder "trat daneben", fiel nach hinten, schlug mit dem Kopf auf dem Pflaster auf und war kurzzeitig ohnmächtig.
Vom 15. bis 25. Mai 2012 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der L. (UMG). PD Dr M. /Dr N. diagnostizierten eine Synkope mit Sturz und Kalottenfraktur und wiesen auf einen Bluthochdruck hin, dessen Medikation zu hoch dosiert sei. Unter dem Punkt Anamnese ist festgehalten, dass die Klägerin auf dem Rückweg von der Doktorandenfeier im Gehen plötzliches Unwohlsein verspürt habe. Sie sei in die Knie gegangen und dann gestürzt. Auch nach dem Bericht des Hausarztes Dr O. vom 20. August 2012 über eine Vorstellung der Klägerin am 29. Mai 2012 habe diese zum Hergang des Unfalls plötzliches Unwohlsein beim Gehen und einen Sturz aus gebückter Haltung angegeben.
Nach der Auskunft des Direktors der Abteilung Neurogenetik Prof Dr P. betrifft die Verabschiedung eines Doktoranden die jeweilige Abteilung und Arbeitsgruppe, nicht das gesamte MPI. Die Abteilung Neurogenetik habe über 50 MitarbeiterInnen, von denen etwa 15 (die Arbeitsgruppe von Prof Q.) an der Verabschiedung teilgenommen hätten. Hinzu seien noch einige MitarbeiterInnen des MPI (allgemeine Dienste) gekommen, die bei der Erstellung der Doktorarbeit von Herrn R. enger mit ihm zusammengearbeitet hätten. Zu den letzteren gehöre die Klägerin. Einladungen zu einer MPI internen Verabschiedung erfolgten mündlich und per e-mail.
Die Beklagte holte schriftliche Aussagen der beiden Kolleginnen der Klägerin ein. Dr S. gab am 22. Juli 2013 an, gerade als sie die Fußgängerzone verlassen und den Wagen auf den Bordstein vor dem Auditorium gezogen hätten, habe die Klägerin einen kurzen Laut von sich gegeben und sei zu Boden gestürzt, bevor ihre Kollegin und sie hätten reagieren können. Nach der Aussage von T. vom 15. August 2013 hätten sie gerade die Wallanlage erreicht, als sie einen stöhnenden Laut vom hinteren Ende des Wagens gehört habe. Sie habe sich umgedreht und nur noch gesehen, dass die Klägerin die Augen verdreht habe, ungebremst in sich zusammengesackt und rücklings auf dem Bürgersteig aufgeschlagen sei.
Mit Bescheid vom 19. Mai 2014 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 15. Mai 2012 als Arbeitsunfall ab. Die Klägerin sei in Folge eines bestehenden Bluthochdrucks verunglückt (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 2014).
Dagegen hat die Klägerin am 12. Januar 2015 Klage beim Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben: Sie habe sich an dem Holm des Wagens festgehalten, bevor sie rückwärts zu Boden gegangen sei. Dies belegten Hämatome im Arm- und Rumpfbereich. Die Angaben in den ärztlichen Berichten seien nicht zutreffend, es habe keinen Schwindelanfall gegeben. Der Blutdruck sei perfekt eingestellt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 19. Dezember 2017 konnte die Klägerin nicht mehr genau sagen, worüber sie gestolpert und ob sie nach hinten gefallen sei. Sie sei irgendwie zu Sturz gekommen.
Das SG hat mit Urteil vom selben Tag die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom 15. Mai 2012 ein Arbeitsunfall sei. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das Verbringen des Handkarrens sei unstreitig eine Verrichtung einer versicherten Tätigkeit gewesen. Ebenso unstreitig liege mit dem Sturz auf den Hinterkopf ein Unfallereignis vor, das zu der Schädelverletzung geführt habe. Könne nicht festgestellt werden, dass der Sturz im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne auch auf eine körpereigene Ursache zurückzuführen sei, sei von der Unfallkausalität auszugehen. Im vorliegenden Fall sei nicht im Vollbeweis nachgewiesen, dass bei der Klägerin eine innere Ursache - etwa ein entgleister Blutdruck - vorgelegen habe, die ursächlich für den Sturz gewesen sei. Es sei zwar möglich, dass die Klägerin zunächst aus innerer Ursache ihr Bewusstsein verloren habe. Dafür sprächen der Sturz auf den Hinterkopf und die Aussage der Zeugin U ... Es sei aber zweifelhaft, wie die Zeugin den Ereignisablauf derart genau habe beobachten können, zumal ihre Sicht durch den Doktorwagen eingeschränkt gewesen sei.
Auch die medizinischen Berichte belegten nicht, dass die Bewusstlosigkeit Folge eines Bluthochdrucks gewesen sei. Schließlich sei auch nicht bewiesen, dass die Klägerin das Bewusstsein schon vor dem Sturz und nicht erst infolge des Aufpralls auf den Hinterkopf verloren habe.
Gegen das am 23. Februar 2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22. März 2018 Berufung eingelegt: Ein Stolpern sei weder durch die Hergangsschilderung im Rahmen der ärztlichen Erstbehandlung noch durch Zeugenaussagen belegt. Vielmehr stützten die Zeugenaussagen und der für ein Stolpern untypische Sturz auf den Hinterkopf ihre bisherigen Entscheidungen. Dagegen bestehe kein Zweifel daran, dass zum Sturzzeitpunkt eine Blutdruckentgleisung wegen eines erst kürzlich neu verordneten und zu hoch dosierten Blutdruckmedikamentes vorgelegen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Hildesheim vom 19. Dezember 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hildesheim vom 19. Dezember 2017 zurückzuweisen.
Die Klägerin trägt vor, sie habe das im Arztbericht aufgeführte neue Medikament noch gar nicht genommen. Sie wisse nur, dass sie "ins Stolpern" gekommen sei.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zugrunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung erweist sich als begründet. Entgegen der Auffassung des SG hat die Klägerin am 15. Mai 2012 keinen Arbeitsunfall erlitten.
Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs 1 SGB VII).
1.
Der Unfall hat sich schon nicht "bei" der versicherten Tätigkeit der Klägerin ereignet. Dazu ist erforderlich, dass eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis besteht, die es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.
Im vorliegenden Fall lässt sich ein wesentlicher innerer Zusammenhang mit dem Aufgabenbereich der Klägerin als Entsorgungsbeauftragte nicht begründen. Vielmehr nahm die Klägerin aufgrund ihrer engeren Zusammenarbeit bei der Erstellung der Doktorarbeit an traditionellen Promotionsfeierlichkeiten teil (Auskunft des Direktors der Abt Neurogenetik vom 27. Juni 2013, s auch die Anamnese im Krankenbericht vom 25. Mai 2012: Rückweg von einer Doktorandenfeier). Entgegen der Auffassung der Klägerin und des MPI besteht aber auch kein Versicherungsschutz aufgrund der vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Kriterien zum Versicherungsschutz bei der Teilnahme an einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung, die der Förderung des Betriebsklimas und der Stärkung des Zusammenhalts der Beschäftigten untereinander dient (zB BSGE 121, 297/302 f).
Das BSG (Urteil vom 19. Januar 1995 - 2 RU 7/94 -) hat den Unfallversicherungsschutz für eine wissenschaftliche Angestellte einer Hochschule während eines Promotionsumzugs verneint: Der Umzug sei nicht mit der Teilnahme an einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung gleichzusetzen. Denn ein bloßes Entgegenkommen bei der Arbeitszeiteinteilung und das Bereitstellen relativ geringfügiger materieller Hilfsmittel genüge nicht für die Qualifizierung der Veranstaltung als betrieblich. Vielmehr habe der Umzug dazu gedient, der Freude der soeben Promovierten über die erfolgreiche Promotion Ausdruck zu verleihen, der Feier mit Kommilitonen, Freunden und Verwandten einen besonderen Rahmen zu geben und eine jahrelange studentische Tradition zu erhalten. So lag der Fall hier. Die Fahrt hatte offensichtlich keinen dienstlichen Charakter, auch wenn die Veranstaltung auf die Arbeitszeit der Klägerin angerechnet wurde und der Handkarren vom MPI zur Verfügung gestellt wurde. Die Teilnahme an den Feierlichkeiten war beschränkt auf den Teil der Abteilung des MPI, nämlich die ungefähr 15 Personen umfassende Arbeitsgruppe, in der der Doktorand arbeitete. Hinzu kam ein ungefähr gleich großer Teil an Betriebsfremden (Auskunft des Direktors der Abt Neurogenetik vom 13. August 2012).
Im Übrigen gingen ersichtlich auch die Klägerin und das MPI anfangs nicht von einer unter Versicherungsschutz stehenden Tätigkeit aus. Vielmehr begann das Verwaltungsverfahren mit der Erstattungsanzeige der TK vom 5. Juli 2012. Die Frage nach einem Arbeitsunfall hatte die Klägerin ihr gegenüber im Bogen vom 16.6.2012 mit einem Fragezeichen versehen. Nähere Angaben und die Unfallanzeige des MPI erfolgten erst auf die anschließende Nachfrage der Beklagten.
2. Selbst wenn jedoch die Teilnahme am Promotionsumzug versichert gewesen wäre, wäre die Klage erfolglos. Denn es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Unfall (der Sturz mit folgender Schädelverletzung) durch das Schieben des Handkarrens verursacht worden ist. In der gesetzlichen Unfallversicherung besteht keine Vermutungsregel, dass bei Verrichtung einer versicherten Tätigkeit unmittelbar vor dem Unfallereignis der Unfall objektiv und rechtlich wesentlich durch diese versicherte Tätigkeit verursacht wurde. Vielmehr muss sich eine Gefahr - hier: ein Sturzrisiko - verwirklichen, gegen die die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll. Beweispflichtig für die anspruchsbegründenden Tatsachen ist nach den Regeln der objektiven Beweislast die Klägerin (BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 55).
Den Ausführungen der Klägerin ist schon nicht zu entnehmen, wie es zu dem Sturz kam. Sie hat lediglich vage angegeben gestolpert zu sein. Es fehlen aber jegliche Hinweise auf Hindernisse auf dem Weg, die dafür verantwortlich sein könnten. Gegen einen Sturz infolge eines Stolperns beim Vorwärtsgehen spricht, dass die Klägerin nach hinten stürzte. Darauf hat die Beklagte zu Recht hingewiesen.
Vielmehr lassen die ärztlichen Befundberichte und die Aussagen der Zeuginnen nur den Schluss zu, dass die Klägerin aus innerer Ursache stürzte:
Im Bericht des UMG vom 25. Mai 2012 und im Bericht des Hausarztes vom 20. August 2012 finden sich die anamnestischen Angaben, dass die Klägerin beim Gehen plötzliches Unwohl verspürt habe. Es spricht nichts dafür, dass die Ärzte dies entgegen den Angaben der Klägerin falsch notiert haben. Gegen ein Stolpern sprechen auch die Aussagen der Zeuginnen. Beide haben einen kurzen bzw stöhnenden Laut wahrgenommen, bevor die Klägerin zu Boden stürzte. Dem Senat leuchtet auch nicht ein, warum die Zeugin U. hätte aussagen sollen, dass die Klägerin die Augen verdreht hatte, wenn sie dies nicht gesehen hätte.
Der Senat hat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin aus innerer Ursache stürzte. Entgegen der Ansicht des SG ist diese Sturzursache mit der Diagnose einer Synkope in den Berichten vom 25. Mai und 2. August 2012 gesichert. Sie wird durch die anamnestischen Angaben gestützt. Demgegenüber kann ein (konkurrierendes) äußeres Ereignis nicht festgestellt werden. Dabei muss nicht weiter aufgeklärt werden, ob das plötzliche Unwohlsein auf eine Entgleisung des Blutdrucks zurückzuführen ist. Die Klägerin bestreitet eine veränderte Blutdruckmedikation.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG); Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), sind nicht gegeben. Der Senat folgt den in den genannten höchstrichterlichen Entscheidungen entwickelten Maßstäben zur Beurteilung von Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. -