Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 14.08.2009, Az.: 1 Ws 404/09
Zulässigkeit der Einschränkung des Rechts auf Briefwechsel bei Untersuchungsgefangenen in Missbrauchsfällen; Einschränkung des Briefverkehrs zur Verhinderung von Verdunkelungsmaßnahmen, Fluchtplänen oder sonstigen verfahrenswidrigen Handlungen bei unverhältnismäßig hohem Aufwand der Kontrolle; Versenden eines auch handschriftlichen verfassten Romans als individueller Gedankenaustausch i.S.d. besonderen Schutzbereichs des Briefverkehrs
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 14.08.2009
- Aktenzeichen
- 1 Ws 404/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 22195
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2009:0814.1WS404.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 119 Abs. 3 StPO
- § 145 Abs. 1 StVollzG
- § 147 Abs. 1 NJVollzG
Fundstellen
- NJW-Spezial 2009, 746
- StRR 2009, 363 (amtl. Leitsatz)
- StV 2010, 143-144
- StraFo 2009, 515-516
- ZAP EN-Nr. 272/2010
- ZAP EN-Nr. 0/2010
Verfahrensgegenstand
Schwerer Raub
Amtlicher Leitsatz
Ein Untersuchungsgefangener kann grundsätzlich in unbeschränktem Umfang Briefe senden und empfangen. In Einzelfällen kann jedoch eine Einschränkung des Rechts auf Briefwechsel ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn der Gefangene dieses Recht missbraucht oder wenn der Schriftwechsel ein solches Ausmaß erreicht, dass eine Kontrolle nicht mehr mit vertretbarem Verwaltungsaufwand durchgeführt werden kann. Nach diesen Grundsätzen darf das Weiterleiten einer Postsendung mit einem Umfang von 217 Seiten abgelehnt werden. Hingegen ist die Kontrolle eines Schriftwechsels im Ausmaß von zehn Seiten pro Tag noch mit vertretbarem Verwaltungsaufwand möglich (§§ 145 Abs. 1; 147 Abs. 1; 168 Abs. 1 Satz 1 StVollzG).
In der Strafsache
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Beschwerden des Angeklagten
gegen
die Beschlüsse der 18. großen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 26. Juni 2009 und vom 24. Juli 2009
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
den Richter am Oberlandesgericht Dr. Gittermann,
den Richter am Oberlandesgericht Schmidt-Clarner und
den Richter am Oberlandesgericht Hillebrand
am 14. August 2009
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen, soweit sie sich gegen den Beschluss vom 26. Juni 2009 richtet.
Der Beschluss vom 24. Juli 2009 wird aufgehoben. Die insoweit entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.
Gründe
1.
Der Angeklagte, der sich in vorliegender Sache seit dem 4. August 2008 in Untersuchungshaft befindet, wurde mit Urteil des Landgerichts Hannover vom 4. März 2009 u.a. wegen schweren Raubes und schwerer räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Dem Schuldspruch liegen ausweislich der vom Landgericht getroffenen Feststellungen mehrere Banküberfalle in Hannover im Jahre 2008 zugrunde. Der Angeklagte hat sich zur Sache nicht eingelassen, vielmehr nur erklärt, er sei unschuldig.
Mit Beschluss vom 26. Juni 2009 hat die mit der Briefkontrolle befasste Strafkammer es abgelehnt, eine an die Lebensgefährtin des Angeklagten gerichtete Postendung weiterzuleiten. Das maßgebliche Schriftstück hatte einen Umfang von 217 Seiten und trug auf dem Umschlag die Beschriftung: "Kriminal-Familiendramatik pur auf 217 Seiten". Die Kammer hat hierzu ausgeführt, dass es sich nach Sichtung der ersten Seiten um einen vom Angeklagten verfassten Roman handele, der nicht dem Gedankenaustausch zum Aufrechterhalten persönlicher Beziehungen diene. Da die aus der der Verurteilung zugrunde liegenden Taten stammende Beute ganz überwiegend noch nicht aufgefunden worden sei, ein kleiner Teil indessen in der Wohnung der Frau L., sei eine inhaltliche Kontrolle des Schriftwechsels unentbehrlich; diese könne nicht zuletzt aufgrund der Belastung der Kammer in diesem Umfang aber nicht geleistet werden.
Unter dem Datum des 1. Juli 2009 - nachdem allein für den Zeitraum vom 29. Juni bis zum 1. Juli 2009 sechs Briefe an Frau L.... sowie drei weitere Briefe zur Kontrolle vorlagen - wurde dem Angeklagten seitens der Kammer erklärt, sie beabsichtige, den Briefverkehr mit Frau L.... auf wöchentlich zwei Briefe mit zehn Seiten Umfang zu beschränken, sollte der Angeklagte nicht seinerseits sich zu einer Beschränkung des Briefverkehrs im Stande sehen. Dieses Anschreiben blieb offenbar fruchtlos. Vielmehr sah die Kammer sich veranlasst, mit Beschluss vom 24. Juli 2009 den Briefverkehr des Angeklagten mit Frau L.... auf wöchentlich zwei Briefe mit höchstens zehn Seiten Länge zu beschränken; entsprechendes gelte für andere Adressaten mit Ausnahme von Verteidigerpost. Gegenstand der Beschlussgründe ist eine Übersicht der vom Angeklagten im Zeitraum vom 3. bis zum 23. Juli 2009 beim Landgericht eingegangenen 22 Briefe mit einem Umfang von insgesamt knapp 200 Seiten, 19 Briefe hiervon waren an Frau L.... gerichtet.
Gegen beide Beschlüsse wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, die einen Eingriff in Grundrechte des Angeklagten beklagt. Aus einem Vermerk der Vorsitzenden geht hervor, dass die Kammer der Beschwerde nicht abgeholfen habe.
2.
Das nach Maßgabe von § 168 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG i.V.m. § 304 StPO statthafte und zulässige Rechtsmittel hat aus dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
a)
Nach § 145 Abs. 1 StVollzG hat ein Gefangener in der Untersuchungshaft das Recht, Schreiben abzusenden und zu empfangen. Dieses Recht korrespondiert mit dem auch aus Art. 2 Abs. 1 GG herzuleitenden Recht auf grundsätzlich unbeschränkten Schriftwechsel ( BVerfGE 35, 315 [BVerfG 16.05.1973 - 2 BvR 590/71]; 57,177 [BVerfG 05.02.1981 - 2 BvR 646/80]; LR-Hilger, StPO, 26. Aufl., § 119 Rn. 68). Nach Maßgabe von § 147 Abs. 1 NJVollzG kann dieses Recht dahingehend eingeschränkt werden, dass Schreiben von dem mit der Überwachung des Schriftwechsels betrauten Gericht angehalten werden können, soweit der Zweck der Untersuchungshaft oder die Sicherheit oder Ordnung einer Anstalt dies erfordert. Insofern hat sich gegenüber der auf § 119 Abs. 3 StPO in Verbindung mit der UVollzO gestützten Rechtslage eine inhaltliche Änderung für die Möglichkeit der Einschränkung des Schriftverkehrs in der Untersuchungshaft nicht ergeben.
Hiernach kann ein Untersuchungsgefangener in grundsätzlich unbeschränktem Umfang Schreiben senden und empfangen ( OLG Hamm MDR 1974, 248 [OLG Hamm 05.06.1973 - 4 Ws 135/73]; LR-Hilger a.a.O.) und sind mit der Überwachung einhergehende Lästigkeiten der Briefkontrolle grundsätzlich hinzunehmen ( BVerfGE 34, 370, 381; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 52. Aufl., § 119 Rn. 20). Eine generelle Beschränkung des Rechts auf Briefwechsels kann hierbei auch nicht auf eine Belastung des zuständigen Richters gestützt werden ( KG StV 1992, 477; LR-Hilger a.a.O.). Nur sind in seinem solchen Falle bei umfangreichem Schriftwechsel die mit der erforderlichen Kontrolle einhergehenden Verzögerungen hinzunehmen (OLG Hamm a.a.O.; KK-Schultheis Strafprozessordnung, 6. Aufl., § 119 Rn. 32). Indessen kann in Einzelfällen eine Einschränkung des Rechts auf Briefwechsel ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn der Gefangene dieses Recht missbraucht (OLG Hamm a.a.O.) oder wenn der Schriftwechsel des Gefangenen ein solches Ausmaß erreicht, dass eine Kontrolle nicht mehr mit vertretbarem Verwaltungsaufwand durchgeführt werden kann ( OLG Stuttgart MDR 1973, 335 [OLG Stuttgart 23.05.1972 - 1 Ws 143/72]; KK-Schultheis a.a.O.; für den Bereich der Strafhaft auch Senatsbeschluss vom 19. Mai 2009 [1 Ws 248/09]). Zu berücksichtigen ist hierbei aber auch, ob bzw. mit welchem Aufwand die Schreiben aus Anlass der Kontrolle übersetzt ( OLG München NStZ 1984, 333; LR-Hilger, 26. Aufl., § 119 Rn. 70) oder durch einen Übersetzer zur Kontrolle auf verfahrensrelevante Mitteilungen zumindest gelesen werden müssen.
Voraussetzung aber bleibt, dass entweder Sicherheit und Ordnung einer Anstalt beeinträchtigt werden [vorliegend nicht einschlägig], oder dass der Zweck der Untersuchungshaft die einschränkende Maßnahme erfordert. Zweck der Untersuchungshaft ist die Sicherung des Verfahrens. Auch die Briefkontrolle dient diesem Ziel, nämlich der Verhinderung von Verdunkelungsmaßnahmen, Fluchtplänen oder sonstigen verfahrenswidrigen Handlungen ( BVerfG NStZ 2004, 274). Zur Sicherung dieser Ziele darf der Briefverkehr eingeschränkt werden. In Bezug auf den Briefverkehr des Untersuchungsgefangenen kann es dem Zweck der Untersuchungshaft zuwiderlaufen, wenn dieser einen unverhältnismäßig hohen Aufwand bei der Kontrolle notwendig macht (BVerfG a.a.O.).
b)
Unter Berücksichtigung dieses Beurteilungsmaßstabs ist es nicht zu beanstanden, soweit die Kammer mit Beschluss vom 26. Juni 2009 das Weiterleiten der Postsendung mit einem Umfang von 217 Seiten abgelehnt hat. Das Sichten eines derartig umfangreichen Schriftwerks kann im Rahmen der Haftkontrolle überlicherweise zumutbar nicht geleistet werden. Hierbei kam auch zum Tragen, dass sich die Post des Angeklagten nicht auf diese und auch sonst wenige Sendungen beschränkt, sondern auch im Übrigen das Maß des Zumutbaren und Leistbaren nahezu bereits erreicht hatte. Vor Allem war zu berücksichtigen, dass das Schriftwerk sich nach Umfang und nach seinem Inhalt offenbar nicht als Brief darstellt, sondern als Roman, der in Form eines Briefes übersandt werden sollte. Ob hierin bereits der Missbrauch des Rechts auf Briefwechsel gesehen werden kann, ist unerheblich. Denn jedenfalls dient das Versenden eines auch handschriftlichen verfassten Romans nicht dem individuellen Gedankenaustausch und unterfällt daher nicht dem besonderen Schutzbereich des Briefverkehrs.
c)
Soweit die Kammer den Briefverkehr des Angeklagten mit Frau L.... und auch im Hinblick auf andere Adressaten auf wöchentlich (je) zwei Briefe mit zehn Seiten Umfang beschränkt hat, hält dies rechtlicher Überprüfung indessen nicht stand. Denn insoweit ist die Grenze zum Missbrauch des Briefverkehrs - noch - nicht überschritten. Nach der von der Kammer in ihren Beschluss eingefügten Übersicht hat der Angeklagte im Zeitraum vom 3. bis zum 23. Juli 2009 (also über einen Zeitraum von 21 Tagen) 22 Briefe mit einem Umfang von insgesamt knapp 200 Seiten übersandt. Dies entspricht - zumindest rechnerisch - einem Briefverkehr von durchschnittlich einem Brief von knapp zehn Seiten pro Tag. Ein Schriftwechsel solchen Ausmaßes mag - zumal in Zeiten schwindender Briefkultur - ungewöhnlich erscheinen, bewegt sich aus Sicht des Senats indessen - noch - im Rahmen des sozial Üblichen. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass dem Angeklagten in der Untersuchungshaft sonstige Formen des individuellen Gedankenaustauschs mit seiner Lebensgefährtin (Gespräche, Telefonate, E-Mails, Kurzmitteilungen und dergl.) allenfalls in sehr eingeschränktem Umfang zur Verfügung stehen. Die Kontrolle dieses Briefverkehrs mag aus Sicht der Kammer zumindest lästig erscheinen. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber hinzunehmen. Auch erscheint die Kontrolle dieses Briefverkehrs mit - noch - vertretbarem Verwaltungsaufwand durchaus möglich - zumal die Kontrolle, dem Richter obliegt und somit innerhalb eines Kollegialgerichts auch delegiert werden kann. Hinzu kommt, dass auch nach der von der Kammer angeordneten Beschränkung es dem Angeklagten freisteht, an beliebig viele Empfänger wöchentlich je zwei Briefe mit einem Umfang von zehn Seiten zu versenden - deren Kontrolle die Kammer aber für zumutbar erachtet. Schließlich war zu berücksichtigen, dass die Kontrolle der Haftpost des Angeklagten keine - zudem kostenpflichtige - Mitwirkung eines Übersetzers erfordert.
3.
Der Senat weist ergänzend indessen auf Folgendes hin:
a)
Der Angeklagte muss auch nach dem hier dargelegten Prüfungsmaßstab damit rechnen, dass sein Recht auf Briefwechsel zumindest eingeschränkt werden kann, wenn das Maß der von ihm übersandten Briefe von Anzahl und Umfang erkennbar zunehmen sollte.
b)
Dessen ungeachtet hat er eine mit der erforderlichen Kontrolle seiner - schon jetzt - umfangreichen Post einhergehende Verzögerung hinzunehmen und kann demnach nicht darauf vertrauen, dass seine Briefe vom Gericht unverzüglich überprüft und weitergeleitet werden. Die Vorschrift des 146 Abs. 2 NJVollzG normiert das Erfordernis unverzüglicher Weiterleitung nur für die Vollzugsanstalt, der aber - anders als dem Gericht - keinerlei inhaltliche Kontrolle obliegt. Je mehr Briefe der Angeklagte schreibt, desto länger wird deren Kontrolle und Weiterleitung sich hinziehen müssen.
c)
Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der Abwägung zwischen dem Recht auf Briefwechsel und dem Sichern des Zwecks der Untersuchungshaft stets eine Einzelfallbetrachtung erforderlich. Verallgemeinerungsfähige Grundsätze für das Maß des Zumutbaren der Briefkontrolle lassen sich demnach nicht aufstellen.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 1 und 467 StPO in entsprechender Anwendung.
5.
Ein Rechtsmittel gegen die vorliegende Entscheidung ist nach § 304 Abs. 4 StPO nicht eröffnet.