Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 10.04.2013, Az.: 1 A 127/11
Einkesselung; polizeiliche Einschließung mutmaßlicher Demonstranten
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 10.04.2013
- Aktenzeichen
- 1 A 127/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 64462
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 SOG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die polizeiliche Einschließung eines mutmaßlichen Demonstranten bedarf einer Rechtssgrundlage.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Maßnahme.
Am 22.05.2011 fand der Landesparteitag der NPD in F. statt. Hierzu hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Verdi Jugend E. Gegendemonstrationen angezeigt; autonome Gruppierungen der linken Szene E. hatten über das Internet, Plakate und Flyer zur Verhinderung des Parteitages aufgerufen. Am 22.05.2011 fuhren ca. 200 Gegendemonstranten mit dem Zug von E. nach F., darunter befanden sich 80 bis 120 Angehörige des linksautonomen Spektrums. Als sie um 9.20 Uhr im F. Bahnhof eintrafen, war der Bahnhofsvorplatz von Polizisten der 5. Bereitschaftspolizeihundertschaft umstellt. Ein Verlassen des Platzes war nur nach vorheriger Kontrolle durch die Polizei möglich. Ein Teil der Gegendemonstranten weigerte sich, sich kontrollieren zu lassen. Lt. Bericht des vor Ort eingesetzten Hundertschaftsführers der 5. Bereitschaftspolizeihundertschaft G. vom 25.05.2011 handelte es sich dabei um Angehörige des linksautonomen Spektrums, die dann von 09.20 bis 13.32 Uhr auf dem Bahnhofvorplatz verblieben, ohne an der Gegendemonstration teilgenommen zu haben. Um 13.32 Uhr fuhr die Gruppe mit dem Zug nach E. zurück, traf um 13.48 Uhr im E. Bahnhof ein und ging zum Bahnhofsvorplatz. Inzwischen war der Einsatzort der 5. Bereitschaftspolizeihundertschaft nach E. verlegt worden, um etwaige versammlungsrechtliche Aktionen der zurückgekehrten Demonstranten polizeilich zu begleiten. Die Polizei hatte über das Internet erfahren, dass die zurückreisenden Demonstranten in E. eine Spontandemonstration durchführen wollten; ferner war es im Zug von F. nach E. zu einer Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und der Bundespolizei gekommen. G. ließ den Bahnhofsvorplatz des E. Bahnhofs durch Einsatzfahrzeuge und eine Polizeikette absperren. Auch im Bahnhofsgebäude wurde zwischen Burger King und dem Info-Point der Deutschen Bundesbahn eine Polizeikette gebildet, der Hinter(West)ausgang des Bahnhofs wurde ebenfalls von Polizisten kontrolliert. Später trafen noch weitere Polizeikräfte ein und verstärkten die Absperrung des Bahnhofvorplatzes. Zwischen den Beteiligten ist inzwischen unstreitig, dass es in der Absperrung Durchlassstellen gab. Die Polizei wies über Lautsprecher darauf hin, dass Bahnreisende und einzelne Personen an eingerichteten Durchlassstellen den Bahnhofsvorplatz verlassen könnten. Die auf dem Bahnhofsvorplatz verbliebenen Personen verließen den Platz erst mit einer bei der Polizei spontan angemeldeten Demonstration. Zu der Demonstration gab es Lautsprecherdurchsagen der Polizei. Ca. 20 Minuten nach Ankunft des Zuges aus F. in E. setzte sich der Demonstrationszug unter polizeilicher Begleitung Richtung Innenstadt in Bewegung. Zugleich wurde die Absperrung des Bahnhofsvorplatzes aufgelöst.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob und in welcher Weise der Kläger von dem Geschehen auf dem Bahnhofsvorplatz am 22.05.2011 betroffen war.
Der Kläger trägt vor, auch er sei um 13.48 Uhr mit dem Zug aus F. im E. Bahnhof eingetroffen und habe gemeinsam mit seinem Freund H. den Heimweg antreten wollen. Als er gesehen habe, dass der Bahnhofsvorplatz von Einsatzfahrzeugen und einer Polizeikette abgeriegelt gewesen sei, habe er den Bahnhof durch den Westausgang verlassen wollen. Dies sei jedoch nicht möglich gewesen, weil eine im Bahnhofsgebäude zwischen Burger King und Service-Point der Deutschen Bahn gebildete Polizeikette ihm den Weg zum Westausgang versperrt habe. Nach seiner Rückkehr auf den Bahnhofsvorplatz habe er die bei den Fahrzeugen eingesetzten Polizisten gebeten, ihn durch die Absperrung durchzulassen. Dies sei ihm unter Hinweis auf entsprechende Anweisungen ihres Vorgesetzten verwehrt worden. Auf Nachfrage bei einem augenscheinlich ranghöheren Beamten habe er lediglich erfahren, dass es während der Zugfahrt Vorkommnisse gegeben habe, die der Klärung bedürften. Er habe den Polizisten nach seinem Namen gefragt. Dieser habe „I.“ oder „J.“ geantwortet; wahrscheinlich habe es sich um den von der Beklagten als Zeugen benannten POK K. gehandelt. Die Polizei habe über Lautsprecher mitgeteilt, dass man den Kessel verlassen dürfe, wenn man an einer Demonstration teilnehme, die allerdings erst angemeldet werden müsse. Personen, die wie er den Kessel zum Antritt ihres Heimweges hätten verlassen wollen, sei dies von der Polizei weiterhin versagt worden. Später sei die weitere Lautsprecherdurchsage erfolgt, dass es nunmehr einen Anmelder gebe und die Demonstration beginnen könne. Ihm sei nichts anderes übrig geblieben, als sich der Demonstration bis zum „Nabel“ in der E. Innenstadt anzuschließen. Erst danach habe er sich nach Hause begeben können.
Der Kläger hat am 11.07.2011 Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog erhoben.
Er verfüge über das notwendige Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Zum einen habe er ein Rehabilitationsinteresse, da seine Einschließung auf dem Bahnhofsvorplatz auf offener Straße vor anderen Menschen erfolgt sei und er von dem Makel des scheinbar gefährlichen Störers befreit werden wolle. Es liege auch eine Wiederholungsgefahr vor, da er weiterhin zu Demonstrationen mit der Bahn anreisen wolle, sodass er auch zukünftig der Gefahr ausgesetzt sei, von Polizeibeamten am E. Bahnhof festgehalten und zur Teilnahme an einer Versammlung gezwungen zu werden. Zudem stelle die Freiheitsentziehung einen derart nachhaltigen und erheblichen Grundrechtseingriff dar, dass er das Recht habe, die Rechtswidrigkeit der Maßnahme auch nachträglich feststellen zu lassen. Seine Klage sei auch begründet, denn für die Einschließung seiner Person habe es keine Rechtsgrundlage gegeben.
Er beantragt,
festzustellen, dass seine polizeiliche Einschließung auf dem Bahnhofsvorplatz in E. am 22.05.2011 rechtswidrig gewesen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie zweifelt das Rechtsschutzinteresse des Klägers an, weil sie nicht wisse, ob sich der Kläger am 22.05.2011 tatsächlich auf dem Bahnhofsvorplatz aufgehalten und an dem Spontanaufzug teilgenommen habe. Sie bestreitet, dass die Personengruppe auf dem Bahnhofsvorplatz von der Polizei eingekesselt worden sei. Einzelnen Personen sei das Verlassen des Bahnhofsvorplatzes über Durchlassstellen jederzeit und nicht nur als Teilnehmer einer Demonstration möglich gewesen. Sie bestreitet, dass der Kläger die Bitte geäußert habe, den Bahnhofsvorplatz verlassen zu dürfen und dass ihm dies nicht gestattet worden sei. Sofern für den Kläger aufgrund der Aufstellung der Einsatzfahrzeuge und der Einsatzkräfte auf dem Bahnhofsvorplatz der Eindruck entstanden sein sollte, dass er den Platz nicht habe verlassen dürfen, stelle dies eine unbeabsichtigte Unannehmlichkeit der notwendigen Gefahrenabwehrmaßnahme dar, die vom Kläger hinzunehmen gewesen sei. Die Absperrung des Bahnhofsvorplatzes sei unter gefahrenabwehrrechtlichen Gesichtspunkten notwendig gewesen. Unter Berücksichtigung des uneinsichtigen und teils aggressiven Verhaltens von einigen Gegendemonstranten an der Kontrollstelle in F. und der nur eingeschränkten Polizeipräsenz in E. bei Rückkehr der Gegendemonstranten habe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestanden, falls die zurückgereisten Personen geschlossen und polizeilich unbegleitet in die Göttinger Innenstadt gelangt wären. In der Vergangenheit sei es im Göttinger Innenstadtbereich aus Anlass oder im Anschluss an versammlungsrechtliche Aktionen häufiger zu Störungen und Auseinandersetzungen aus der linken Szene gekommen. Beispiele hierfür seien Vorfälle im Anschluss an Demonstrationen vom 22.01., 02.02., 13.03., 03.04. und 04.07.2011 in E..
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Sie ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Bei der vom Kläger behaupteten polizeilichen Maßnahme handelt es sich um einen Verwaltungsakt auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr. Dieser Verwaltungsakt war nach Ergehen der Maßnahme am 22.05.2011 und damit vor Klageerhebung erledigt. Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass ein Verwaltungsakt, der erledigt ist, rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Die Vorschrift ist entsprechend anwendbar, wenn sich ein streitiger Verwaltungsakt schon vor Klageerhebung erledigt hat. Ein berechtigtes Interesse im genannten Sinn kann u.a. dann vorliegen, wenn die Gefahr der Wiederholung gleichartiger Verwaltungsentscheidungen besteht, wenn die Maßnahme diskriminierend gewirkt und der Kläger ein Interesse an der Rehabilitation hat oder wenn der gerügte Eingriff zu einem tiefgreifenden und folgenschweren Grundrechtsverstoß geführt hat.
Der Kläger kann sich auf ein Feststellungsinteresse wegen einer Wiederholungsgefahr berufen; ob er daneben auch ein Rehabilitationsinteresse oder einen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß geltend machen kann, kann deshalb dahinstehen. Ein Interesse wegen einer Wiederholungsgefahr setzt die hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird (BVerwG, Urteil vom 12.10.2006 - 4 C 12/04 -, Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 23 m.w.N.), wobei es nicht des Fortbestehens der gleichen Umstände in allen Einzelheiten bedarf (Hettich, Versammlungsrecht in der kommunalen Praxis, 2003, Rn. 285). Vorliegend liegt eine Wiederholungsgefahr vor. Der Kläger beabsichtigt, auch zukünftig an durch Angehörige der linken Szene (mit)veranstalteten Versammlungen teilzunehmen und zu den Veranstaltungsorten mit der Bahn anzureisen. Hierbei kommt es erfahrungsgemäß u. a. deshalb zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, weil Demonstranten sich einer polizeilichen Kontrolle widersetzen. Insofern wird es auch zukünftig Situationen geben, in denen mit der Bahn nach E. zurückgereiste Demonstranten einen von der Polizei umstellten Bahnhofsvorplatz vorfinden, weil die Polizei befürchtet, dass die „unverrichteter Dinge“ zurückgekehrten Demonstranten in E. eine Spontandemonstration mit gewalttätigen Ausschreitungen durchführen könnten. Es ist deshalb hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger zukünftig in eine mit der hier streitigen Situation vergleichbare Lage geraten und ihm das Verlassen des Bahnhofsvorplatzes untersagt wird.
Die Klage ist auch begründet. Die am 22.05.2011 auf dem Bahnhofsvorplatz erfolgte Einschließung des Klägers durch die Polizei war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass dem Kläger von der Polizei das Verlassen des Bahnhofsvorplatzes zum Antritt seines Heimweges untersagt wurde (1). Hierfür gab es keine Rechtsgrundlage (2).
(1) Der Zeuge L. hat bei seiner Zeugenvernehmung den Vortrag des Klägers bestätigt, der Kläger und er seien am 22.05.2011 gemeinsam mit dem Regionalzug aus F. um 13.48 Uhr im E. Bahnhof angekommen. Sie seien gemeinsam durch das Bahnhofsgebäude Richtung Hauptausgang gegangen und hätten dabei eine Polizeikette zwischen Burger King und Info-Point der Deutschen Bundesbahn passiert. Auf dem Bahnhofsvorplatz angekommen, hätten sie gesehen, dass dieser von dicht an dicht stehenden Polizeifahrzeugen und Polizisten umstellt gewesen sei. Es habe nur einen kleinen Durchlass zwischen den ersten Einsatzfahrzeugen gegeben, die vom Haupteingang aus gesehen links in der Nähe des Eingangs gestanden hätten. Dort seien Bahnreisende, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild offensichtlich nicht zu den aus F. zurückgekehrten Demonstrationsteilnehmern gehörten, durchgelassen worden. Dem Kläger und ihm sei an der Durchlassstelle der Durchlass verwehrt worden, obwohl sie gesagt hätten, dass sie nach Hause gehen wollten. Der Zeuge hat auch bestätigt, dass der Kläger und er anschließend ein Gespräch mit einem Polizisten gehabt hätten, der ihnen mitgeteilt habe, dass der Bahnhofsvorplatz wegen eines Vorfalls im Regionalzug von F. nach E. zur Zeit nicht verlassen werden dürfe, dass dies aber im Rahmen einer Demonstration möglich sei. Das Gericht hat keinen Anlass, die Richtigkeit dieser Angaben in Frage zu stellen. Die Aussage des Zeugen war widerspruchsfrei und in sich schlüssig. Soweit er sich nicht mehr daran erinnern konnte, ob es ein Polizist oder eine Polizistin waren, die ihnen den Durchlass verwehrt hatten, handelt es sich um ein unwesentliches Detail.
Die weiteren Zeugen konnten zwar keine Angaben zu dem konkreten streitbefangenen Vorfall machen, da sie einen solchen Vorfall mit dem Kläger nicht beobachtet hatten. Ihre Aussagen sprechen jedoch überwiegend dafür, dass der vom Kläger behauptete Vorfall sich tatsächlich so zugetragen haben kann. So hat der Zeuge M., der ebenfalls um 13.48 Uhr mit dem Regionalzug von F. aus E. zurückfuhr, ohne an der Demonstration teilgenommen zu haben, angegeben, als er den Bahnhofsvorplatz erreicht habe, habe ihn zunächst ein Polizist, der ihn wohl als Stadtverbandsvorsitzenden der SPD erkannt habe, heran gewinkt, um ihn durch die Absperrung durchzulassen. Hiervon habe er keinen Gebrauch gemacht, weil er auf seine Parteigenossen habe warten wollen. Er habe dann beobachtet, dass zunächst Einzelpersonen durchgelassen worden seien, die offensichtlich nichts mit dem Demonstrationsgeschehen in F. zu tun gehabt hätten, wie zum Beispiel Personen mit großen Koffern oder Einkaufstüten. All diejenigen, die vom äußeren Erscheinungsbild her zu den aus F. zurückgekehrten Demonstranten gehört hätten, seien von der Polizei nicht durchgelassen worden. Auch er selbst sei später trotz seiner ausdrücklich geäußerten Bitte, den Bahnhofsvorplatz verlassen zu dürfen, nicht durch die Absperrung durchgelassen. Der Zeuge benannte namentlich weitere Personen, denen ebenfalls der Durchlass versagt worden sei.
Die Zeugin PK N. (geborene O.) hatte nur noch schwache Erinnerungen an ihren Einsatz auf dem E. Bahnhofsvorplatz am 22.05.2011. Sie konnte sich weder daran erinnern, dass es in der Absperrung des Bahnhofsvorplatzes Durchlassstellen gab noch daran - wie von der Beklagten vorgetragen -, dass sie an einer solchen Durchlassstelle eingesetzt war. Der Zeuge P., der laut Angabe der Beklagten gemeinsam mit PK N. an einer Durchlassstelle eingesetzt war, hat dies ausdrücklich ausgeschlossen. Er sei im Bearbeitungstrupp eingesetzt gewesen, Truppführer sei der Zeuge POK Q. gewesen. Er habe schriftliche Aufgaben wie Anzeigen schreiben oder Platzweise erstellen erledigt. Er hat weiter angegeben, direkt gegenüber dem Haupteingang des Bahnhofs habe es eine Durchlassstelle gegeben; dort und auch an anderen Stellen seien Reisende, die augenscheinlich nicht zu der aus F. zurückgekehrten Demonstrationsgruppe gehörten, durchgelassen worden. Personen, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild den Eindruck erweckt hätten, an dem Demonstrationsgeschehen am Bahnhof F. beteiligt gewesen zu sein, seien an den Durchlassstellen nicht durchgelassen worden. Grund hierfür sei seiner Auffassung nach gewesen, dass diese Personen in F. bereits eine gewisse Gewaltbereitschaft gezeigt hätten und aufgebracht gewesen seien, weil sie an der Demonstration in F. nicht hätten teilnehmen können. Die Zeugin N. hat ausgesagt, in Situationen wie derjenigen auf dem Bahnhofsvorplatz vom 22.05.2011, nämlich wenn nach einem Demonstrationsgeschehen zurückkehrende Demonstranten unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr umstellt würden, sei es generell so, dass die Polizei Personen, die augenscheinlich mit dem vorherigen Demonstrationsgeschehen nichts zu tun gehabt hätten, wie z.B. Familien, an Durchlassstellen durchlasse. Personen, die augenscheinlich an einer weiteren Demonstration teilnehmen wollten, würden zunächst gesammelt und nicht durch die Absperrung durchgelassen. Bei der Einschätzung, ob jemand an einer Demonstration teilnehmen wolle, orientiere sie sich am äußeren Erscheinungsbild, z.B. an der für die Linksautonomen typischen schwarzen Kleidung, ggfs. an mitgebrachten Transparenten oder ähnlichem. Es komme auch vor, dass sie Personen, die an dem vorangegangenen Demonstrationsgeschehen teilgenommen hätten, wiedererkenne. Damit bestätigten die Zeugen N. und P., dass es grundsätzlich – wie vom Kläger vorgetragen – am 22.05.2011 Situationen gegeben haben kann, in denen einzelnen Personen das Verlassen des Bahnhofsvorplatzes allein aufgrund ihres äußeren Eindrucks als potentielle Demonstrationsteilnehmer untersagt wurde, ohne dass danach gefragt wurde, ob die Betroffenen tatsächlich an einer Demonstration teilnehmen wollen. Auch der Kläger wurde nicht danach gefragt. Zudem hatte er ausdrücklich erklärt, dass er lediglich nach Hause gehen wolle.
Auch der Zeuge POK R., der nach seinen Angaben am 22.05.2011 als Zugführer des 1. Zugs der 5. Bereitschaftspolizeihundertschaft zunächst in F. und dann am E. Bahnhof eingesetzt war, hat die Aussagen der Zeugen N. und P. insoweit bestätigt, als er erklärt hat, er schließe nicht aus, dass er Personen, die nicht offensichtlich als Reisende zu erkennen und eher Demonstrationsteilnehmern zuzuordnen gewesen seien, auf Nachfrage nicht durch die Absperrung durchgelassen habe. Dies müsse zu einem Zeitpunkt gewesen sein, als es noch keine Durchlassstelle gegeben habe. An den Kläger konkret könne er sich nicht erinnern; auch der Kläger konnte sich nicht an POK R. erinnern. POK R. konnte sich jedoch daran erinnern, dass er auf dem Bahnhofsvorplatz mehrfach nach den Gründen für die Absperrung gefragt worden sei, eine Person habe ihn auch nach seinen Namen gefragt. Es könne durchaus sein, dass er derjenige gewesen sei, den der Kläger gefragt habe, warum er den Bahnhofsvorplatz nicht verlassen dürfe, und dass er darauf geantwortet habe, weil er dies angeordnet habe bzw. wegen der Vorfälle im Zug von F. nach E.. Dieses Gespräch müsse zu einem Zeitpunkt stattgefunden haben, als noch nicht ausreichend geklärt gewesen sei, ob aufgrund der Vorfälle im Zug von F. nach E. auf dem Bahnhofsvorplatz noch nach mutmaßlichen Tätern gesucht werden solle. Auf Vorhalt der Beklagtenvertreterin, dass der Zeuge in seiner Stellungnahme vom 19.12.2011 angegeben habe, Ziel der von ihm eingerichteten Durchlassstelle sei gewesen, eintreffenden und abreisenden Bahnreisenden den Zu- und Abgang zum Bahnhof zu ermöglichen und Einzelpersonen (Unbeteiligten und Teilnehmern der vorangegangenen Versammlung am Bahnhof F.) das Verlassen des Bahnhofs zu ermöglichen, was dafür spreche, dass – entgegen seiner bisherigen Aussage – auch Teilnehmer des vorausgegangenen Demonstrationsgeschehens am Bahnhof F. an der Durchlassstelle durchgelassen worden seien, erklärte der Zeuge, dass er davon ausgehe, dass er zum Zeitpunkt seiner Stellungnahme die Situation so wiedergegeben habe, wie sie sich für ihn dargestellt habe. Er könne sich heute allerdings nicht daran erinnern, dass Personen, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild mutmaßlichen Demonstranten zuzuordnen gewesen seien, von ihm oder von anderen Polizeikräften durch die Absperrung durchgelassen worden seien. Demnach steht auch die Aussage des Zeugen R. nicht im Widerspruch zum Vortrag des Klägers, sondern lässt dessen Darstellung vielmehr als durchaus möglich erscheinen.
Lediglich der Zeuge POK Q., der am 22.05.2011 Truppführer des Bearbeitungstrupps war, dem neben seiner Person PK P., PK N. und PK S. angehört hätten, bestätigte nicht, dass mutmaßliche Demonstrationsteilnehmer generell nicht durch die Absperrung durchgelassen wurden. Er gab an, die Polizei sei in dieser Hinsicht besonders sensibilisiert. Er selbst würde im Einzelfall jede Person durch eine Absperrung durchlassen, die nachvollziehbar erkläre, an keiner weiteren Demonstration teilnehmen zu wollen. Nach seiner Beobachtung hätten ca. 10 bis 20 Personen den Bahnhofsvorplatz durch die Durchlassstelle verlassen. Er könne sich insbesondere an Reisende mit Koffern erinnern. Er habe in der Nähe der Durchlassstelle gestanden. Ob auch Personen, die von ihrem äußeren Erscheinungsbild eher mutmaßlichen Demonstranten zuzuordnen gewesen seien, durchgelassen worden seien, könne er nicht sagen. Er habe auch beobachtet, dass die an der Durchlassstelle eingesetzten Polizisten mit einzelnen Personen, auch mit mutmaßlichen Demonstranten, gesprochen hätten. Verstanden habe er von den Gesprächen aufgrund des allgemeinen Lärmpegels nichts. Soweit der Zeuge für sich selbst ausgeschlossen hat, in einer Situation wie derjenigen auf dem Bahnhofsvorplatz mutmaßliche Demonstrationsteilnehmer generell nicht durch eine Absperrung durchzulassen, steht auch dies dem Vortrag des Klägers nicht entgegen. Zum einen war der Zeuge an keiner Durchlassstelle eingesetzt. Zum anderen konnte er sich nicht daran erinnern, beobachtet zu haben, dass mutmaßliche Demonstrationsteilnehmer durch die Durchlassstelle durchgelassen wurden, obwohl er in der Nähe einer Durchlassstelle stand.
Nach alledem hält es das Gericht für erwiesen, dass dem Kläger am 22.05.2011 trotz seines ausdrücklich geäußerten Wunsches nach Hause gehen zu wollen, das Verlassen des Bahnhofsvorplatzes durch die Polizei verwehrt wurde. Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob es eine Lautsprecherdurchsage der Polizei gab, wonach der Bahnhofsvorplatz nur verlassen werden könne, wenn man sich einer Demonstration anschließe, kommt es nicht mehr an. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war dies jedenfalls für den Kläger die einzige Möglichkeit, den Bahnhofsvorplatz zu verlassen. Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der Kläger nicht alternativ den Bahnhofsvorplatz durch das Bahnhofsgebäude über den Westausgang verlassen konnte. Zwar konnte der Zeuge L. sich nicht mehr daran erinnern, ob – wie vom Kläger vorgetragen – der Kläger und er vergeblich versucht hatten, die Polizeikette zwischen Burger King und Info-Point der Deutschen Bahn zu passieren, um zum Westausgang zu gelangen. Dies steht dem Vortrag des Klägers jedoch nicht entgegen. Das Gericht sieht keinen Grund seinen ansonsten glaubhaften Vortrag an dieser Stelle anzuzweifeln. Doch selbst wenn der Kläger nicht versucht haben sollte, den Bahnhofsvorplatz über den Westausgang zu verlassen, wäre trotzdem von seiner Einschließung auf dem Bahnhofsvorplatz auszugehen. Es ist nachvollziehbar, dass unter Berücksichtigung der Gesamtsituation in und um den E. Bahnhof – Verweigerung des Durchlasses auf dem Bahnhofsvorplatz, Polizeikette im Bahnhofsgebäude zwischen Burger King und Service-Point, Polizeikontrollen am Westausgang und fehlendem Hinweis der Polizei, dass ein Verlassen des Bahnhofsvorplatzes über den Westausgang möglich sei – nicht nur der Kläger, sondern auch die Zeugen M. und L. davon ausgehen mussten, dass ein Verlassen des Bahnhofsvorplatzes über den Westausgang nicht möglich war. Dass die beiden Zeugen diesen Eindruck hatten, haben sie bei ihren Zeugenaussagen ausdrücklich erklärt.
(2) Als Rechtsgrundlage für die Einschließung des Klägers kommt § 11 Nds. SOG in Betracht. Danach können die Verwaltungsbehörden und die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht die Vorschriften des dritten Teils die Befugnisse der Verwaltungsbehörden und der Polizei besonders regeln. Die Norm des § 18 Nds. SOG (Gewahrsam) scheidet als spezielle Ermächtigungsgrundlage aus, da der Kläger von der Polizei offensichtlich nicht in Gewahrsam genommen wurde. Aber auch die Voraussetzungen der allgemeinen Eingriffsnorm nach § 11 Nds. SOG liegen nicht vor. Gefahr im Sinne des Nds. SOG ist nach § 2 Nr. 1. a) stets eine konkrete Gefahr, d.h. eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eintreten wird. Eine solche Sachlage lag hinsichtlich der Person des Klägers offensichtlich nicht vor und wird von der Beklagten auch nicht vorgetragen. Der Kläger wollte den Bahnhofsvorplatz verlassen, um nach Hause zu gehen. Dies hatte er gegenüber den Polizisten auch erklärt. Damit gehörte er nicht zu denjenigen auf dem Bahnhofsvorplatz Eingeschlossenen, die noch eine Demonstration in E. durchführen wollten. Insofern kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die vorübergehende Einschließung dieses Personenkreises in rechtmäßiger Weise auf Grundlage des§ 11 Nds. SOG erfolgte, denn der Kläger gehörte weder nach seinem eigenen noch nach dem Vortrag der Beklagten zu diesem Personenkreis.
Da dem Kläger in rechtswidriger Weise untersagt wurde, den Bahnhofsvorplatz in freier Entscheidung zu verlassen, wurde er in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 8 GG, der auch die negative Versammlungsfreiheit schützt, verletzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.