Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.04.2007, Az.: L 4 KR 178/04

Versicherungspflicht; Beitragspflicht; Gesamtsozialversicherungsbeitrag; Entstehungsprinzip; Zuflussprinzip; geringfügige Beschäftigung; Sonderzahlung; Einmalzahlung; Weihnachtsgeld; Urlaubsgeld

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
18.04.2007
Aktenzeichen
L 4 KR 178/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 61356
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0418.L4KR178.04.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 23.04.2004 - AZ: S 81 Rl 449/00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Beitragspflicht von Einmalzahlungen richtet sich bis zum 1. Januar 2003 nach dem Entstehungsprinzip und nicht nach dem Zuflussprinzip (Anschluss an BSG, Urteil vom 14.7.2004 - B 12 KR 1/04 R).

  2. 2.

    Auch teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern stand in den Jahren 1995 bis 1997 nach den damals geltenden allgemeinverbindlichen tarifvertraglichen Regelungen im niedersächsischen Einzelhandel ein Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu.

  3. 3.

    Eine abweichende Vereinbarung war insoweit nicht nach § 8 Nr. 5 des Gehalts- und Lohntarifvertrages für den niedersächsischen Einzelhandel 1995-1996 zulässig. Denn § 8 Nr. 5 des Gehalts- und Lohntarifvertrages für den niedersächsischen Einzelhandel 1995-1996 erfasst nur Monats- und Ausbildungsvergütungen, aber keine Einmalzahlungen.

In dem Rechtsstreit

...

hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2007 in Celle durch die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende -, den Richter Schreck und die Richterin Poppinga sowie die ehrenamtlichen Richter Busch und Vogel für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. April 2004 wird aufgehoben.

  2. Die Klage wird abgewiesen.

  3. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

TATBESTAND

1

Der Rechtsstreit betrifft die Nacherhebung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die Beigeladenen zu 1) bis 6) für den Zeitraum 1. Januar 1995 bis 31. Dezember 1997.

2

Der Kläger führt als Einzelunternehmer die Firma Modehaus J. in Diepholz. Im streitbefangenen Zeitraum beschäftigte er neun fest angestellte Mitarbeiter und 12 geringfügig Beschäftigte. Die Beklagte führte in der Zeit vom 11. März 1999 bis 23. April 1999 in der Firma des Klägers eine Betriebsprüfung durch. Bei der Prüfung der Lohnkonten stellte die Beklagte bezogen auf die Beigeladenen zu 1) bis 6) fest, dass diese in den Jahren 1995 bis 1997 ein monatliches Entgelt erhielten, dass einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße entsprach. Für dieses Entgelt hatten sie eine durchschnittliche monatliche Arbeitszeit von 45 Stunden zu absolvieren. Sie wurden von der Firma des Klägers als geringfügig Beschäftigte angesehen. Beiträge zu allen Zweigen der Sozialversicherung wurden auf Grund dieser Beschäftigung nicht entrichtet.

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Im Rahmen der am 21. April 1999 durchgeführten Schlussbesprechung wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass die Beigeladenen zu 1) bis 6) im maßgeblichen Zeitraum nach den allgemeinverbindlichen Tarifbestimmungen im niedersächsischen Einzelhandel Anspruch auf die Zahlung von Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld (Sonderzahlung) hatten. Auf diese tariflich zustehenden Leistungen könnten Arbeitnehmer nicht wirksam verzichten. Unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Anspruchs auf Entlohnung seien die Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr als geringfügig zu erachten, sondern als Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Dementsprechend seien Beiträge in Höhe von ca. 29 000,- DM nach zu entrichten.

4

Mit Bescheid vom 23. April 1999 forderte die Beklagte sodann für den Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 1997 von dem Kläger Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung in Höhe von insgesamt 28 590,32 DM nach. Die Summe setzte sich bezogen auf die Beigeladenen zu 1) bis 6) wie folgt zusammen:

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Die Beigeladenen zu 1) bis 6) seien nicht als geringfügig Beschäftigte zu erachten. Ihr für die Ermittlung der Sozialversicherungspflicht zu berücksichtigendes Arbeitsentgelt betrage mehr als ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße, soweit die tariflichen Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld einbezogen würden. Dass ihnen die Sonderzahlungen nicht zugeflossen seien, sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung unerheblich. Dies gelte auch, soweit der Kläger und die Beigeladenen zu 1) bis 6) einen Verzicht auf diese Entgeltanteile vereinbart hätten. Eine solche Abrede sei in diesem Zusammenhang nicht wirksam.

8

Mit seinem am 25. Mai 1999 erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, dass er und die Beigeladenen zu 1) bis 6) sich darüber einig gewesen seien, dass in dem vereinbarten und gezahlten monatlichen Entgelt Urlaubs- und Weihnachtsgeld bereits enthalten sein sollten. Er legte entsprechende schriftliche Erklärungen der betroffenen Beschäftigten vor. Soweit sich die Beklagte auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) berufe, sei diese vorliegend nicht einschlägig, denn die Beigeladenen hätten von dem Kläger kein höheres Entgelt gefordert. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 2000 mit der Begründung zurück, dass eine Unterschreitung der tariflich vorgesehenen Entgelte nicht zulässig sei. Für die Beitragserhebung sei nicht die tatsächliche Entgeltzahlung maßgeblich, sondern die geschuldete.

9

Dagegen hat der Kläger am 11. Dezember 2000 Klage erhoben und geltend gemacht, der Gehalts- und Lohntarifvertrag für den niedersächsischen Einzelhandel lasse eine Unterschreitung des Tariflohns zu, soweit die Arbeitnehmer dadurch ein höheres Nettoentgelt erhalten könnten. So liege es hier. Die Beigeladenen zu 1) bis 6) hätten sämtlich Ehepartner, die den Hauptteil des Familieneinkommens erzielten und zur Steuerklasse III veranlagt würden. Hätten die Beigeladenen Urlaubs- und Weihnachtsentgelt zusätzlich bekommen und wären sie als versicherungspflichtig Beschäftigte eingestuft worden, wäre die Entrichtung der pauschalen Lohnsteuer durch den Arbeitgeber nicht mehr zulässig gewesen. Vielmehr wären die Beigeladenen selbst lohnsteuerpflichtig geworden und hätten unter Zugrundelegung der Steuerklasse V hohe Lohnsteuern entrichten müssen. Dann wäre eine Aushilfsbeschäftigung bei ihm, dem Kläger, für diese wirtschaftlich nicht von Interesse gewesen.

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Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat der Klage durch Urteil vom 23. April 2004 stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung hat es erläutert, dass den Beigeladenen zu 1) bis 6) kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld zugeflossen sei. Der zwischen dem Kläger und den Beigeladenen zu 1) bis 6) vereinbarte teilweise Entgeltverzicht sei unter Berücksichtigung der tarifvertraglichen Regelungen im niedersächsischen Einzelhandel zulässig gewesen. Hätten die Beigeladenen demnach in rechtlich zulässiger Weise auf die Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichtet, sei die Annahme von Versicherungspflicht auch vor dem Hintergrund des Entstehungsprinzips nicht begründet.

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Gegen dieses ihr am 7. Mai 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 4. Juni 2004 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass das Ausmaß des Lohnverzichts durch die Beigeladenen zu 1) bis 6) von den tarifvertraglichen Regelungen nicht gedeckt sei. Soweit Unterschreitungen des tariflich vorgesehenen Entgelts zur Erzielung eines höheren Nettoentgelts für zulässig erklärt würden, ziele diese Regelung auf geringfügige Entgeltverzichte ab, die beispielsweise einen Sprung in die nächste Lohnsteuerprogressionsstufe verhindern sollten. Über dieses Maß gingen die zwischen dem Kläger und den Beigeladenen geschlossenen Vereinbarungen weit hinaus. Die von ihr vorgelegte Stellungnahme des Landesbezirks Niedersachsen-Bremen der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vom 7. September 2006 belege, dass die Tarifpartner mit der Verzichtsklausel keineswegs die Umgehung von Sozialversicherungstatbeständen beabsichtigt hätten.

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Die Beklagte beantragt,

  1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. April 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

  1. die Berufung zurückzuweisen.

14

Er hält das erstinstanzliche Urteil für rechtmäßig. Die Interpretation der Tarifvereinbarungen durch den Unternehmerverband und die Gewerkschaft ver.di seien nicht überzeugend, denn sie ständen mit dem Wortlaut der Tarifvereinbarung nicht in Einklang. Im übrigen sei inzwischen gesetzlich geregelt, dass das Entstehungsprinzip bei Einmalzahlungen für die Heranziehung zu Beiträgen in der Sozialversicherung bzw. den Versicherungsstatus nicht gelte. Dass der Gesetzgeber diese Regelung getroffen habe, mache deutlich, dass er der Rechtsprechung insoweit nicht habe folgen wollen. Daher müsse dies auch für Zeiten vor der Neuregelung des § 22 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Viertes Buch- (SGB IV) zum 1. Januar 2003 gelten.

15

Die Beigeladenen zu 1), 3), 4) und 6) haben erklärt, dass ihre Ehepartner im fraglichen Zeitraum zur Steuerklasse III veranlagt worden seien. Sie hätten die ungünstige Steuerklasse V und den Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen in Kauf nehmen müssen, wenn sie Einkünfte oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze erzielt hätten. Der Beigeladene zu 5) erklärt, er habe auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichtet, um brutto für netto zu erhalten. Dies hat auch die Beigeladen zu 2) erklärt und darauf hingewiesen, dass ihr Ehemann 1995 bereits Rentner gewesen sei. Die Beigeladenen haben keine eigenen Anträge gestellt.

16

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes Stellungnahmen des Unternehmerverbandes Einzelhandel Nordwest Oldenburg-Stade e.V. vom 15. August 2006 und 16. November 2006 eingeholt, die den Beteiligten vorliegen.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

18

Die gemäß § 143 und § 144 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt worden, mithin zulässig.

19

Sie ist auch begründet.

20

Der Kläger ist verpflichtet, auf Grund der Beschäftigung der Beigeladenen zu 1) bis 6) in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1995 und dem 31. Dezember 1997 Beiträge zur Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu entrichten. Der Bescheid der Beklagten vom 23. April 1999, mit dem sie gegenüber dem Kläger Beiträge in Höhe von insgesamt 28 590,32 DM geltend gemacht hat, ist rechtmäßig.

21

Personen, die im hier maßgeblichen Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis 31. Dezember 1997 gegen Arbeitsentgelt beschäftigt waren, waren in der Krankenversicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - - SGB V -), in der Pflegeversicherung (§ 20 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Elftes Buch - - SGB XI -) und in der Rentenversicherung (§ 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - - SGB VI -) versicherungspflichtig und gemäß § 168 Abs. 1 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) beitragspflichtig.

22

Versicherungs- bzw. beitragsfrei waren im hier maßgeblichen Zeitraum hingegen Personen, die eine geringfügige Beschäftigung ausübten (§ 71. Halbsatz SGB V, § 5 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI, § 20 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI in Verbindung mit § 7 1. Halbsatz SGB V, § 169 AFG). Nach der Legaldefinition in § 8 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Viertes Buch - (SGB IV) in der seinerzeit geltenden Fassung des Gesetzes vom 13. Juni 1994 (BGBl I 1229) lag eine geringfügige Beschäftigung vor, wenn die Beschäftigung regelmäßig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausgeübt wurde und das Arbeitsentgelt regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße (§ 18 SGB IV), bei höherem Arbeitsentgelt ein Sechstel des Gesamteinkommens nicht überstieg.

23

Bemessungsgrundlage für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag war seinerzeit das Arbeitsentgelt aus der Versicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, § 57 Abs. 1 SGB XI, § 162 Nr. 1 SGB VI und § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG). Dazu gehörten im hier maßgeblichen Zeitraum auch die tariflich geschuldeten Sonderzahlungen. In der Zeit bis zum 31. Dezember 1996 beruhte dies auf § 227 SGB V a.F. (Krankenversicherung), § 164 SGB VI a.F. (Rentenversicherung), § 57 Abs. 1 SGB XI (Pflegeversicherung) und § 175 Abs. 1 Satz 2 AFG a.F. (Arbeitslosenversicherung). Ab dem 1. Januar 1997 waren Einmalzahlungen beitragsrechtlich nach Maßgabe des § 23a SGB IV in der Fassung des Gesetzes vom 12. Dezember 1996 (BGBl I 1859) in allen Zweigen der Sozialversicherung zu berücksichtigen. Dem steht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht entgegen, wonach das hier anzuwendende Recht mit der Verfassung nicht in Einklang stand, soweit Einmalzahlungen zwar bei der Beitragsbemessung, nicht aber bei der Bemessung von Lohnersatzleistungen zu berücksichtigen waren. Denn mit Beschluss vom 24. Mai 2000 hat das BVerfG entschieden, dass § 23a SGB IV in der Fassung des Gesetzes vom 12. Dezember 1996 (BGBl I 1859) noch bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 30. Juni 2001 angewendet werden durfte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2000, veröffentlicht in BVerfGE 102, 127 ff. ).

24

Die Beigeladenen zu 1) bis 6) erhielten während der jeweiligen Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses bei dem Kläger laufende monatliche Einkünfte in Höhe von einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße (im Jahre 1995: 580,- DM, im Jahre 1996: 590,- DM, im Jahre 1997 610,- DM). Für dieses Entgelt waren von ihnen monatlich 45 Arbeitsstunden zu leisten.

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Die Beigeladenen zu 1) bis 6) waren 1995 bis 1997 dennoch nicht als geringfügig Beschäftigte und damit als versicherungsfrei zu erachten. Denn im niedersächsischen Einzelhandel waren im fraglichen Zeitraum neben dem laufenden monatlichen Entgelt Urlaubs- und Weihnachtsgeld (Sonderzahlung) an die Beschäftigten (auch Teilzeitbeschäftigte) zu zahlen. Das folgte aus § 4b Nr. 6 und § 10 des Manteltarifvertrages für den niedersächsischen Einzelhandel in Verbindung mit §§ 3, 4, 8, 9, und 10 der ab 1. Januar 1993 geltenden Tarifvereinbarung über Urlaubsgeld und Sonderzahlungen im niedersächsischen Einzelhandel, die nach der Auskunft des Unternehmerverbandes Einzelhandel Nordwest Oldenburg-Stade e.V. vom 15. August 2006 im hier maßgeblichen Zeitraum sämtlich allgemeinverbindlich und damit auch auf den Kläger, seine Firma und die Beigeladenen zu 1) bis 6) anzuwenden waren.

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Diese Sonderzahlungen sind dem Arbeitsentgelt hinzuzurechnen, auch wenn sie den Versicherten tatsächlich nicht gezahlt wurden. Denn es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, dass in Bezug auf das zu berücksichtigende Arbeitsentgelt bis zum 1. Januar 2003 das Entstehungsprinzip und nicht das Zuflussprinzip maßgeblich ist (vgl. grundlegend und zur historischen Entwicklung im einzelnen BSG Urteil vom 14. Juli 2004, AZ: B 12 KR 1/04  R, veröffentlicht in SozR 4-2400 § 22 Nr. 2). Es hat diese Auffassung wie folgt begründet.

27

Nach § 14 Abs. 1 SGB IV definiere sich Arbeitsentgelt als alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen bestehe, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet würden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt würden. Arbeitsentgelt seien in erster Linie die tariflich geregelten, ansonsten die einzelvertraglich vereinbarten Entgeltbestandteile. Schon für den Beginn der Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt und der Versicherungsverhältnisse komme es nach dem Schutzzweck der Sozialversicherung nicht darauf an, ob und wann der Arbeitgeber das mit dem Arbeitnehmer vereinbarte Entgelt tatsächlich zahle und dieses dem Arbeitnehmer zufließe. Anderenfalls hätte es der Arbeitgeber in der Hand, durch verzögerte oder verkürzte Zahlung des Arbeitsentgelts über den Versicherungsschutz des Arbeitnehmers zu verfügen. Ob ein bestimmter Arbeitnehmer in seiner Beschäftigung der Versicherungspflicht unterliege, müsse bereits bei Aufnahme der Beschäftigung und auch danach zu jeder Zeit mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können. Diese zum Schutz der Beschäftigten erforderliche Rechtssicherheit sei nur gewährleistet, wenn bei der Frage, ob das Arbeitsentgelt die Geringfügigkeitsgrenze übersteige oder die Versicherungspflichtgrenze (Jahresarbeitsentgeltgrenze) in der Krankenversicherung (§ 6 Abs. 1 Nr. SGB V) überschritten werde, auf das tariflich zustehende Arbeitsentgelt abgestellt werde. Für den Beginn der entgeltlichen Beschäftigung, von Versicherungspflicht oder von Versicherungsfreiheit könne demgemäß das in § 14 Abs. 1 SGB IV gesetzlich definierte Arbeitsentgelt nicht im Sinne des Zuflussprinzips verstanden werden.

28

Das BSG hat ferner entschieden, dass das Entstehungsprinzip für die Zeit bis zum 1. Januar 2003 auch in Bezug auf Einmalzahlungen anzuwenden sei (vgl. BSG a.a.O.). Denn die Vorschriften zum Entstehen und zur Fälligkeit von Beitragsforderungen ließen keine Unterscheidung danach zu, ob der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt zahle oder ob der Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt verlange oder noch verlangen könne. Derartige Bedingungen würden das Entstehen oder den endgültigen Bestand von Beitragsforderungen von zahlreichen Unsicherheiten abhängig machen, wie beispielsweise: dem Geltendmachen des Anspruchs auf nicht gezahltes Arbeitsentgelt durch den Arbeitnehmer, dem Eingreifen tariflicher Ausschlussklauseln, der Verjährung des Anspruchs, der Erhebung der Verjährungseinrede oder einem etwaigen Verzicht des Arbeitnehmers auf Arbeitsentgelt. Von derartigen Auswirkungen solle die Beitrags- und die Versicherungspflicht nicht abhängig sein (vgl. BSG a.a.O.).

29

Dass in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV in der Fassung des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl I 4621) inzwischen ausdrücklich geregelt sei, dass Beitragsansprüche bei einmalig gezahltem Arbeitsentgelt erst entstehen, wenn dieses ausgezahlt sei, stehe der Anwendung des Entstehungsprinzips für Zeiträume vor dem Inkrafttreten der Vorschrift zum 1. Januar 2003 nicht entgegen. Dass der Gesetzgeber eine Regelungsbedürftigkeit gesehen habe, lasse den Schluss zu, dass für den vorliegenden Zusammenhang bei der Ermittlung des Arbeitsentgelts grundsätzlich vom Entstehungs- und nicht vom Zuflussprinzip ausgegangen werden müsse. Dies schließe die Anwendung der Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV für die Zeit vor 2003 aus.

30

Diese Erwägungen hält der erkennende Senat für überzeugend. Er sieht keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

31

Vor diesem Hintergrund steht der Annahme der Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1) bis 6) in ihrer Beschäftigung bei dem Kläger nicht entgegen, dass diese angegeben haben, dass die Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht vereinbart worden sei bzw. dass der Anspruch auf diese Einmalzahlungen bereits mit dem laufenden Entgelt abgegolten sein sollte. Denn derartigen individuellen Abreden stehen die in dieser Zeit noch allgemeinverbindlichen tarifvertraglichen Regelungen im niedersächsischen Einzelhandel entgegen. Der Kläger und die Beigeladenen zu 1) bis 6) berufen sich für ihre abweichende Vereinbarung ohne Erfolg auf die Klausel in § 8 Nr. 5 des Gehalts- und Lohntarifvertrags für den niedersächsischen Einzelhandel 1995-96. Dort heißt es: "Die Unterschreitung der Monatsentgelte und Ausbildungsvergütungen ist grundsätzlich zulässig, vorausgesetzt, dass der/die Arbeitnehmerin die Unterschreitung wünscht, weil er/sie dadurch ein günstigeres Nettogehalt erzielen würde." Schon seinem Wortlaut nach bezieht sich diese Regelung nur auf Monatsentgelte und Ausbildungsvergütungen, nicht aber auf die tariflich vorgesehenen Einmalzahlungen. Eine erweiternde Auslegung dieser Ausnahmevorschrift auch auf Einmalzahlungen erachtet der Senat für nicht zulässig. Im übrigen haben die Tarifparteien weitgehend übereinstimmend erklärt, dass diese Klausel lediglich dazu dienen sollte, lohnsteuertarifliche Progressionsspitzen zu vermeiden, nicht aber Einfluss auf die sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Arbeitnehmer zu nehmen.

32

Grundsätzlich führt die Anwendung des Entstehungsprinzips bei der Ermittlung der Beitragsbemessungsgrundlage im Sozialversicherungsrecht zu einer nicht unerheblichen Einschränkung der aus Artikel (Art. ) 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) folgenden Handlungsfreiheit der beteiligten Kreise. Auch das aus Art. 14 Abs. 1 folgende Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist betroffen. Die genannten Grundrechte stehen jedoch unter Gesetzesvorbehalt und sind in ihren Ausprägungen auch unter dem Gesichtspunkt des in Art. 20 Abs. 1 GG festgelegten Sozialstaatsprinzip zu beurteilen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Hinblick auf das Sozialrecht, zu dem die hier herangezogenen gesetzlichen Bestimmungen gehören, in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass dem Gesetzgeber auf diesem Gebiet wegen der fortwährenden schnellen Änderungen des Wirtschafts-, Arbeits- und Soziallebens eine besonders weite Gestaltungsfreiheit zusteht, die nur einer eingeschränkten verfassungsrechtlichen Kontrolle unterliege (vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Januar 1990, AZ: 1 BvL 44/86 und 1 BvL 48/87, veröffentlicht in BVerfGE 80, 205 ff. [BVerfG 13.06.1989 - 2 BvE 1/88] ). Die weitgehende Einschränkung für Individualabreden im Hinblick auf die Ermittlung von Arbeitsentgelten und die daraus folgende Beitragsbemessung in den Zweigen der Sozialversicherung ist danach für den hier zu beurteilenden Zeitraum hinzunehmen. Inzwischen haben die geänderten Auffassungen in den Kreisen der Wirtschaft dazu geführt, dass der Gesetzgeber für Einmalzahlungen das Zuflussprinzip für maßgeblich erklärt hat.

33

Die Beklagte hat demnach zu Recht den Entgelten der Beigeladenen zu 1) bis 6) die tariflich zustehenden anteiligen Einmalzahlungen hinzugerechnet und auf diese Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung erhoben. Die Berechnungen der Beklagten erweisen sich unter Berücksichtigung der tarifvertraglichen Regelungen als zutreffend.

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in der hier noch anzuwendenden vor dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung.

35

Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen, denn die Entscheidung betrifft inzwischen außer Kraft getretenes Recht.

Schimmelpfeng-Schütte
Schreck
Poppinga
Busch
Vogel