Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.05.2010, Az.: 6 B 53/10

Antragsbefugnis; Arithmetisierung; Begründung; Begründungspflicht; Bewerbung; Bewertung; Bewertungsbegründung; Bewertungsgrundsatz; Bewertungsspielraum; Bewertungsspielraumüberschreitung; Bewertungsverfahren; Einzelnote; Gesamtbewertung; Gesamtschule; Halbjahreszeugnis; Klassenkonferenz; Konferenz; Kopfnote; Lehrer; Nachvollziehbarkeit; sachfremde Erwägung; Schule; Schüler; Sozialverhalten; Sozialverhaltensbewertung; Tatsache; Unterricht; Verwaltungsakt; Verwaltungsgericht; Vorjahr; Vorwegnahme der Hauptsache; willkürliche Erwägung; Zeugnis; Zeugniserlass

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
25.05.2010
Aktenzeichen
6 B 53/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 47968
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei der im Halbjahreszeugnis der 10. Klasse einer Integrierten Gesamtschule dokumentierten Bewertung des Sozialverhaltens handelt es sich um einen selbstständigen Verwaltungsakt (Fortführung der Kammerrechtsprechung, vgl. Urteil vom 18.02.2004 - 6 A 106/03 -).

2. Das Verwaltungsgericht darf die Bewertung des Sozialverhaltens lediglich darauf überprüfen, ob sie auf der Grundlage eines fehlerfreien Bewertungsverfahrens zustande gekommen ist und ob die Grenzen des Bewertungsspielraums überschritten sind, weil die Klassenkonferenz bei ihrer Entscheidung von falschen Tatsachen ausgegangen ist, allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze missachtet oder sachfremde und damit willkürliche Erwägungen angestellt hat.

3. Die Schule muss die Bewertung nachvollziehbar begründen. Eine gesteigerte Begründungspflicht besteht, wenn die Bewertung der den Schüler unterrichtenden Lehrer und Lehrerinnen bezogen auf das Sozialverhalten im Unterricht erheblich von der Bewertung des Sozialverhaltens außerhalb des Unterrichts durch andere Lehrer abweicht und das Sozialverhalten in den Vorjahren immer eine oder zwei Abstufungen besser beurteilt worden war. In diesem Fall wird eine rein rechnerische Ermittlung der Gesamtbewertung über eine Berücksichtigung des Sozialverhaltens innerhalb und außerhalb des Unterrichts zu jeweils 50 Prozent den Anforderungen an eine sachgerechte Begründung nicht gerecht.

Gründe

1

Der einstweilige Rechtsschutzantrag, mit dem die Antragsteller begehren, die Antragsgegnerin - eine Integrierte Gesamtschule - im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, das Sozialverhalten ihres Sohnes D. im Halbjahreszeugnis der 10. Klasse des Schuljahres 2009/2010 neu zu bewerten, ist zulässig und begründet.

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Die für die Zulässigkeit eines einstweiligen Rechtsschutzantrags erforderliche Antragsbefugnis der gemeinsam sorgeberechtigten Antragsteller liegt vor. Denn ihr Sohn wird durch die angegriffene Bewertung in eigenen Rechten unmittelbar gefährdet. Der Bewertung des Sozialverhaltens im Halbjahreszeugnis der 10. Klasse einer Integrierten Gesamtschule kommt eine selbstständige rechtliche Bedeutung zu; bei dieser Bewertung handelt es sich um einen selbstständig anfechtbaren Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG. Als Verwaltungsakte sind diejenigen Einzelnoten eines Zeugnisses eigenständig angreifbar, denen eine selbstständige rechtliche Bedeutung zukommt und die die Rechtspositionen des Schülers unmittelbar betreffen. Dies ist - unabhängig davon, ob die Note nach den maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen für die Entscheidung über einen Schulabschluss eine Bedeutung hat - dann der Fall, wenn die Note für die weitere Schullaufbahn des Schülers erheblich ist oder seine Chancen beim Eintritt in das Berufsleben beeinflussen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 22.01.2001 - 19 A 1901/00 -, NVwZ-RR 2001, 384 und v. 02.06.2008 - 19 B 609/08 -, juris; VGH Baden-Württemberg, U. v. 11.04.1989 - 9 S 2047/88 -, NVwZ-RR 1989, 479, 480; VG Braunschweig, U. v. 18.02.2004 - 6 A 106/03 -, www.dbovg.niedersachsen.de - im Folgenden: dbovg -; Brockmann in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG, Stand: März 2009, § 34 Anm. 5.1.1).

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Nach diesen Grundsätzen ist auch die hier angefochtene Bewertung des Sozialverhaltens als selbstständig anfechtbarer Verwaltungsakt anzusehen. Nach dem Sprachgebrauch der schulrechtlichen Bestimmungen handelt es sich dabei zwar nicht um eine Zeugnisnote im engeren Sinne, sondern um eine einem anderen Stufensystem folgende Bewertung besonderer Art (vgl. 3.7.3, 3.1 und 3.4 des Erlasses des MK vom 24.05.2004 - SVBl. S. 505 - i. d. F. vom 08.04.2009 - SVBl. S. 171 -, im Folgenden: Zeugniserlass). Auch diese Bewertung hat jedoch eine selbstständige rechtliche Bedeutung und wirkt sich unmittelbar auf Rechtspositionen des Schülers aus, da sie die Chancen beim Eintritt in das Berufsleben maßgeblich beeinflussen kann. Die Bewertung bringt zum Ausdruck, inwieweit der Schüler in der Lage gewesen ist, eine Balance herzustellen zwischen seinen individuellen Ansprüchen, den Interessen anderer sowie den für ein Gemeinschaftsleben notwendigen Regeln und beruht unter anderem auf Beobachtungen zur Konfliktfähigkeit und zum Verantwortungsbewusstsein (vgl. Nr. 3.7.2 des Zeugniserlasses sowie Bade, SVBl. 2001, 147, 148). Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, die für viele Berufe von entscheidender Bedeutung sind. Dementsprechend kann die Bewertung des Sozialverhaltens in einem Zeugnis, das bei Bewerbungen üblicherweise vorzulegen ist, die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz verbessern oder - im Falle eines negativen Ergebnisses - auch verschlechtern (vgl. VG Braunschweig, U. v. 18.02.2004, a. a. O.). Da die Antragsteller hier nachgewiesen haben, dass das betroffene Halbjahreszeugnis für die Bewerbung bei der Deutschen BKK notwendig ist und auch im Übrigen gerichtsbekannt ist, dass bei Bewerbungen mit einem Sekundarabschluss I in vielen Fällen die letzten drei Zeugnisse vorzulegen sind, bestehen im vorliegenden Verfahren keine Zweifel an der selbstständigen rechtlichen Bedeutung der Bewertung.

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Der einstweilige Rechtsschutzantrag ist auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Dazu muss der Antragsteller grundsätzlich glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch). Besondere Anforderungen gelten für den Fall, dass die begehrte Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde. Da die einstweilige Anordnung grundsätzlich nur zur Regelung eines vorläufigen Zustandes ausgesprochen werden darf, ist sie in diesen Fällen nur möglich, wenn sonst das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt würde. So darf die Entscheidung in der Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen werden, wenn ein Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben würde und wenn es dem Antragsteller darüber hinaus schlechthin unzumutbar wäre, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (vgl. z. B. VG Braunschweig, B. v. 19.09.2008 - 6 B 198/08 -, dbovg; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl., Rn. 190 ff.). Diese Anforderungen sind im Fall der Antragsteller erfüllt.

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Der Eilantrag ist auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet. Eine die Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung erhöhende Vorwegnahme der Hauptsache liegt schon dann vor, wenn die begehrte Entscheidung des Gerichts dem Antragsteller für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens die Rechtsposition vermitteln würde, die er in der Hauptsache anstrebt (vgl. Nds. OVG, B. v. 23.11.1999 - 13 M 3944/99 -, NVwZ-RR 2001, 241; Finkelnburg/ Dombert/Külpmann, a. a. O., Rn. 179 ff.). Dies ist hier der Fall. Die Antragsteller wollen mit dem Antrag als gemeinsam Sorgeberechtigte die Neubewertung des Sozialverhaltens ihres Sohnes im Halbjahreszeugnis des Schuljahres 2009/2010 erreichen. Da dieses Zeugnis in bereits laufenden Bewerbungsverfahren nachgereicht werden soll bzw. ihr Sohn sich damit in absehbarer Zeit ggfls. an anderen Stellen bewerben will, soll damit bereits im Eilverfahren diejenige Rechtsposition erreicht werden, die die Antragsteller im Hauptsachverfahren anstreben (vgl. VG Braunschweig, B. v. 19.09.2008, a. a. O.; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a. a. O., Rn. 1399).

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Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund, das heißt die Eilbedürftigkeit ihres Begehrens, glaubhaft gemacht. Mit dem vorgelegten Schreiben der Deutschen BKK vom 13. April 2010 wurde nachgewiesen, dass sich ihr Sohn dort für die Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten beworben hat. Mit der Bitte um Vervollständigung der Bewerbungsunterlagen bzw. Nachreichung des Halbjahreszeugnisses ist glaubhaft gemacht, dass dieses Zeugnis einschließlich der hier angefochtenen Bewertung des Sozialverhaltens notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung ist. Da im Übrigen gerichtsbekannt ist, dass die Bewertung des Sozialverhaltens - zumindest mit der hier umstrittenen Bewertung d - bei Bewerbungen eine maßgebliche Rolle spielen kann, ist dem Sohn der Antragsteller nicht zuzumuten, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

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Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach den vorliegenden Unterlagen wird das Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben. Den Antragstellern steht als für ihren Sohn gemeinsam Sorgeberechtigten ein Anspruch auf Neubewertung seines Sozialverhaltens im Halbjahreszeugnis des Schuljahres 2009/2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu. Die Entscheidungen der Klassenkonferenz betreffend das Sozialverhalten in der Zeugniskonferenz am 25. Januar 2010 und den Abhilfekonferenzen am 18. Februar 2010 und 15. April 2010 sind rechtswidrig und verletzen die Antragsteller in ihren Rechten. Die Antragsteller haben einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin das Sozialverhalten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu bewertet.

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Die Antragsgegnerin bzw. die Klassenkonferenz hat das Sozialverhalten des Sohnes der Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtsfehlerhaft bewertet.

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Der niedersächsische Gesetzgeber ermächtigt die Klassenkonferenz dazu, das Gesamtverhalten der Schülerinnen und Schüler zu beurteilen (§ 35 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 NSchG i. d. F. vom 03.03.1998 - Nds. GVBl. S. 137 -, zuletzt geändert durch Art. 5 Haushaltsbegleitgesetz vom 17.12.2009 - Nds. GVBl. S. 489 -). Diese verfassungsrechtlich unbedenkliche Ermächtigung (vgl. VG Braunschweig, U. v. 18.02.2004, a. a. O.) umfasst auch die Bewertung des Sozialverhaltens (ebenso Brockmann, a. a. O. § 35 Anm. 4.1.3). Dass die Einzelheiten der Bewertung durch den Zeugniserlass und damit in Verwaltungsvorschriften geregelt sind, ist ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (im Ergebnis ebenso Nds. OVG, B. v 16.07.2002 - 13 PA 113/02 -; VG Braunschweig, U. v. 18.02.2004, a. a. O.; Brockmann, a. a. O., § 34 Anm. 5.1.2).

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Die Bewertung des Sozialverhaltens durch die Klassenkonferenz ist der verwaltungsgerichtlichen Prüfung weitgehend entzogen. Bei fachlich-pädagogischen Bewertungen von Schülerleistungen, wie sie für die Festsetzung der Zeugnisnoten erforderlich sind, steht den Lehrern ein Bewertungsspielraum zu. Dies gilt entsprechend für die Bewertung des Sozialverhaltens. Auch insoweit ist davon auszugehen, dass es für die Bewertung wesentlich auf nicht reproduzierbare Eindrücke der unterrichtenden Lehrkräfte von dem Schüler und seinem Verhalten ankommt und dem Verwaltungsgericht die für eine abgewogene eigene Beurteilung erforderliche pädagogisch-fachliche Kompetenz fehlt. Die Lehrkräfte müssen im Übrigen bei ihrem wertenden Urteil von Einschätzungen und Erfahrungen ausgehen, die sie im Laufe ihrer Berufspraxis bei der Beurteilung des Schülerverhaltens entwickelt haben. Die konkrete Bewertung erfolgt im Rahmen eines Bezugssystems, das von den persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Lehrkräfte beeinflusst wird. Die komplexen Erwägungen, die einer Bewertung zugrunde liegen, lassen sich nicht regelhaft erfassen. Eine gerichtliche Kontrolle würde insoweit die Maßstäbe verzerren. Denn in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren eines einzelnen Schülers könnte das Gericht die Bewertungskriterien, die für alle anderen Schüler maßgebend waren nicht abschließend feststellen. Es müsste eigene Bewertungskriterien entwickeln und an die Stelle derjenigen der Lehrkräfte setzen. Dies wäre mit dem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar, weil einzelne Schüler so die Möglichkeit einer vom Vergleichsrahmen der Lehrkräfte unabhängigen Bewertung erhielten.

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Das Gericht darf die Bewertung des Sozialverhaltens daher lediglich darauf überprüfen, ob sie auf der Grundlage eines fehlerfreien Bewertungsverfahrens zustande gekommen ist und ob die Grenzen des Bewertungsspielraumes überschritten worden sind, weil die Klassenkonferenz bei ihrer Entscheidung von falschen Tatsachen ausgegangen ist, allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze missachtet oder sachfremde und damit willkürliche Erwägungen angestellt hat (vgl. für alles Vorstehende VG Braunschweig, U. v. 18.02.2004 -, a. a. O.).

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Nach diesen Maßstäben weist die angegriffene Bewertung rechtserhebliche Bewertungsfehler auf und ist nicht nachvollziehbar begründet. Es bestehen Zweifel daran, ob die Bewertung insgesamt willkürfrei zustande gekommen ist.

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Es ist nicht ersichtlich, dass die Klassenkonferenz bei der Bewertung des Sozialverhaltens des Sohnes der Antragsteller in der Zeugniskonferenz und den zwei Abhilfekonferenzen die anerkannten Bewertungsgrundsätze beachtet hat. Allgemein anerkannte Bewertungsregeln, die bei der Bewertung des Sozialverhaltens zu beachten sind, ergeben sich aus dem Zeugniserlass (s. o). Dieser Erlass beschränkt sich zwar darauf, in Ziff. 3.7.2 die Gesichtspunkte aufzuführen, die bei der Bewertung des Sozialverhaltens „vor allem“ zu berücksichtigen sind und enthält damit keine abschließende Aufzählung der Bewertungsgrundsätze. Ihm sind aber die Gesichtspunkte zu entnehmen, die in jedem Fall von allen niedersächsischen Schulen bei der Sozialverhaltensbeurteilung in Zeugnissen mindestens zu beachten und für den Zuständigkeitsbereich des Niedersächsischen Kultusministeriums als allgemein anerkannt anzusehen sind. Nach den vorliegenden Unterlagen ist hier nicht ersichtlich, dass alle im Zeugniserlass aufgeführten Bewertungsgesichtspunkte in einer angemessenen Gewichtung berücksichtigt worden sind.

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Nach den Angaben in der Antragserwiderung vom 12. Mai 2010 ist die Bewertung des Sozialverhaltens anhand der im Zeugniserlass vorgegebenen Kriterien ergänzt durch Leitlinien, deren Anwendung die Antragsgegnerin in der Gesamtkonferenz vom 19. März 2007 beschlossen hat, erfolgt (vgl. „Leitfaden zur Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens“, 28.02.2007). In diesem Leitfaden werden u. a. Regeln dazu aufgestellt, wann die in Ziff. 3.7.3 des Zeugniserlasses genannten fünf standardisierten Bewertungsabstufungen zu vergeben sind. Zwar geht das Gericht davon aus, dass es den Schulen freisteht, ob sie im Interesse einer einheitlichen Umsetzung der Vorgaben des Zeugniserlasses schulinterne Regelungen erlassen. Sofern solche Regelungen getroffen werden, sie jedoch den im Zeugniserlass zum Ausdruck gekommenen allgemein anerkannten Bewertungsregeln gerecht werden; im Übrigen sind die schulinternen Regelungen nach entsprechender Beschlussfassung auch tatsächlich einheitlich in nachvollziehbarer Form anzuwenden. Gegenwärtig ist nicht ersichtlich, dass diese Anforderungen erfüllt sind.

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Nach Ansicht der Kammer ist der von der Antragsgegnerin in Bezug genommene „Leitfaden zur Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens“ nicht geeignet, die allgemein anerkannten Bewertungsregeln des Zeugniserlasses umzusetzen. Nach diesem Leitfaden sollen bei der Bewertung des Sozialverhaltens für jeden einzelnen Schüler Feststellungen zu den sechs unter Ziffer 3.7.2 des Zeugniserlasses genannten Gesichtspunkten getroffen werden. Zur Einstufung dienen dabei folgende Kategorien:

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++ = trifft in besonderem Maße zu

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+ = trifft zu

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- = trifft nicht zu

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0 = unauffällig

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Im Folgenden werden in dem Leitfaden zu den fünf unter Ziffer 3.7.3 des Zeugniserlasses genannten Beurteilungsabstufungen a-e Regelungen dazu aufgestellt, welche Gesichtspunkte mit ++ oder + bzw. wie oft Gesichtspunkte mit - (Minus) bewertet werden dürfen, um eine Einstufung des Sozialverhaltens in die einzelnen Beurteilungsabstufungen zu rechtfertigen.

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Nach Ansicht des Gerichts ist die Beurteilung nach den Kriterien ++, +, - und 0 nicht in sich schlüssig und daher nicht geeignet, als Grundlage einer sachgerechten Bewertung zu dienen. Es ist nicht nachvollziehbar, in welchen Fällen die Beurteilung 0 = unauffällig erfolgen soll. Bei der Bewertung einer bestimmten Eigenschaft (wie z. B. Fairness oder Hilfsbereitschaft) oder Verhaltensweise (wie z. B. der Übernahme von Verantwortung oder Mitgestaltung des Gemeinschaftslebens) erscheint es zwar sachgerecht zu beurteilen, ob diese zutrifft, im besonderen Maße zutrifft oder nicht zutrifft. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, in welchen Fällen dann noch die Bewertung mit 0=unauffällig als weitere Kategorie vergeben werden sollte. Da die Vergabe der Beurteilungsabstufungen nach dem Leitfaden im Wesentlichen nach den zutreffenden Merkmalen erfolgt (+ und ++), wirkt sich im Übrigen die Vergabe des Zeichens 0=unauffällig - entgegen dem eigentlichen Wortsinn - immer negativ für den betroffenen Schüler aus.

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Nach Ansicht des Gerichts bestehen weitere Zweifel an den Regelungen des Leitfadens. Dort werden von den sechs unter 3.7.2 des Zeugniserlasses genannten, zwingend zu berücksichtigenden Gesichtspunkten zwei besonders hervorgehoben („2.1 Vereinbaren und Einhalten von Regeln, Fairness“; „2.2 Hilfsbereitschaft und Achtung anderer“) und bei der Einordnung in die Beurteilungsabstufungen nach den Kriterien +, ++ ,- und 0 stärker gewichtet als die anderen Gesichtspunkte. Dies führt dazu, dass ein Schüler, bei dem weder das Merkmal 2.1 noch das Merkmal 2.2 mit + oder ++ bewertet wird, nur die Abstufung e („entspricht nicht den Erwartungen“) erhalten kann, auch wenn z. B. die vier anderen Gesichtspunkte mit + oder sogar ++ bewertet wurden. Da sich aus dem Zeugniserlass keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass zwischen den dort genannten mindestens zu berücksichtigenden Gesichtspunkten qualitative Wertungsunterschiede bestehen, entspricht diese Verfahrensweise nicht den zwingenden Vorgaben. Mit den im Zeugniserlass genannten Gesichtspunkten werden unterschiedliche Fähigkeiten des einzelnen Schülers im Hinblick auf seine eigene Person und andere bewertet, die in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck bringen sollen, inwieweit der Schüler in der Lage gewesen ist, eine Balance zwischen seinen individuellen Ansprüchen, den Interessen anderer sowie den für ein Gemeinschaftsleben notwendige Regeln herzustellen (s. o.). Dem widerspricht, die Bewertung des Sozialverhaltens bei sechs zu berücksichtigenden Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen maßgeblich auf das Vorhandensein von zwei dieser Punkte zu stützen. Anzumerken ist außerdem, dass nach den Regelungen des Leitfadens nicht alle Beurteilungsergebnisse einer Beurteilungsabstufung zugeordnet werden können. So wird z. B. keine Regelung für Bewertungen getroffen, bei denen nur einer der Gesichtspunkte 2.3 Reflexionsfähigkeit, 2.4 Konfliktfähigkeit, 2.5 Übernahme von Verantwortung oder 2.6 Mitgestaltung des Gemeinschaftslebens mit + bewertet wurde. Darüber hinaus erschließt sich die Bedeutung der zwei letzten Sätze des Leitfadens („Es wird nicht ausgezählt! Bei der Beschlussfassung über das AV und SV ist entsprechend der Anteilsverhältnisse wie bei den Beurteilungskategorien zu verfahren.“) nicht.

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Unabhängig davon, hat die Antragsgegnerin nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Bewertung des Sozialverhaltens des Sohnes der Antragsteller mit d („entspricht den Erwartungen mit Einschränkungen“) auf den in Bezug genommenen Regelungen des Leitfadens beruht. Selbst wenn schriftliche Aufzeichnungen zu einzelnen Vorfällen entsprechend der Auffassung der Antragsgegnerin nicht zwingend erforderlich sein sollten (nach Ansicht des Gerichts aber jedenfalls sehr hilfreich sind), ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das Sozialverhalten insgesamt im Hinblick auf alle im Zeugniserlass genannten Gesichtspunkte mit den Kriterien ++, +, - oder 0 bewertet wurde und die abschließende Bewertung darauf beruht. Ausführungen dazu enthält insbesondere das einzig ausführlichere Protokoll der Abhilfekonferenz vom 15. April 2010 nicht. Auch finden sich keine Ausführungen über das Sozialverhalten des Sohnes der Antragsteller, welche sich auf die Kategorien Hilfsbereitschaft, Übernahme von Verantwortung oder Mitgestaltung des Gemeinschaftslebens beziehen.

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Jedenfalls ist die Bewertung des Sozialverhaltens aufgrund einer Berücksichtigung des Verhaltens im Unterricht und des Verhaltens außerhalb des Unterrichts zu jeweils 50 Prozent, wie in der Antragserwiderung vom 12. Mai 2010 dargestellt, aus den Unterlagen zu den Entscheidungen der Klassenkonferenz jedoch nicht zu verifizieren, nicht in nachvollziehbarer Weise unter Beachtung der anerkannten Bewertungsgrundsätze begründet worden. Wie oben bereits ausgeführt beurteilt die Klassenkonferenz das Gesamtverhalten der Schülerinnen und Schüler, zu dem auch das Sozialverhalten gehört. Im Gegensatz zu den in den Zeugnissen festgehaltenen Noten im Hinblick auf einzelne Fächer, die aufgrund von Beobachtungen im Unterricht und aufgrund von Lernkontrollen erteilt werden (Ziffer 3.1 Satz 1 des Zeugniserlasses), bestimmt Ziffer 3.1 Satz 4, dass die in den Zeugnissen festgehaltenen Bewertungen über das Arbeits- und Sozialverhalten auf der Grundlage von Beobachtungen erfolgen, die sich über den Unterricht hinaus auch auf das Schulleben erstrecken. Damit sind die Schulen zwar verpflichtet, das Verhalten eines Schülers außerhalb des Unterrichts in Pausen und freiwilligen Arbeitsgemeinschaften etc. in die Bewertung mit einzubeziehen. Jedoch ist eine zusammenfassende Bewertung über das Sozialverhalten insgesamt abzugeben, bei der den Besonderheiten des einzelnen Schülers Rechnung zu tragen ist. Es geht um die Bewertung eines Verhaltens, die die ganze Schülerpersönlichkeit in ihrem Verhältnis zu anderen und zu dem „Gemeinwesen Schule“ betrifft (vgl. auch Bade, a. a. O., S. 148). Dementsprechend sieht der Zeugniserlass auch keine getrennte Bewertung des Verhaltens im Unterricht und außerhalb des Unterrichts vor. Die Schülerpersönlichkeit ist in ihrer Gesamtheit zu bewerten und es sind ggfls. auch Entwicklungsprozesse - sowohl positiv als auch negativ - in den Blick zu nehmen. Dementsprechend wird im Interesse einer gerechten Einzelfallbewertung zu beachten und bewerten sein, wenn die Beurteilungen des Sozialverhaltens durch die den Schüler unterrichtenden Lehrer im Unterricht erheblich von den Feststellungen zum Sozialverhalten außerhalb des Unterrichts abweichen. Jedenfalls ist eine insgesamt schlechtere Bewertung lediglich aufgrund von Verhalten außerhalb des Unterrichts in besonderer Weise und nachvollziehbar zu begründen.

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Eine diesen Grundsätzen gerecht werdende Begründung ist im vorliegenden Fall nicht erfolgt. Unstreitig ist das Sozialverhaltens des Sohnes der Antragsteller im Unterricht durch die ihn unterrichtenden Lehrer sechsmal mit b („entspricht den Erwartungen in vollem Umfang“) und fünfmal mit c („entspricht den Erwartungen“) bewertet worden. Nach den Ausführungen der Antragsgegnerin hat lediglich sein Verhalten außerhalb des Unterrichts zu einer Gesamtbewertung des Sozialverhaltens mit d („entspricht den Erwartungen mit Einschränkungen“) geführt. Dabei ist im vorliegenden Verfahren insbesondere auch zu berücksichtigen, dass die Feststellungen außerhalb des Unterrichts wohl vor allem durch Lehrkräfte erfolgt sind, bei denen der Sohn der Antragsteller keinen Unterricht hatte. Darüber hinaus wäre hier in den Blick zu nehmen gewesen, dass das Sozialverhalten in seiner bisherigen Schullaufbahn unwidersprochen bisher nur mit a oder b bewertet wurde und damit ein im Bereich der Notenvergabe sog. Notensprung vorliegt. Zwar sieht der Zeugniserlass - anders als bei der Vergabe der Fachnoten - in diesem Fall keine ausdrückliche Pflicht zu einer besonderen Bewertungsbegründung mit Vermerk im Protokoll vor. Jedoch besteht aufgrund des besonderen Erziehungsauftrags der Schule aus § 2 NSchG in einem solchen Fall eine gesteigerte Begründungspflicht unter nachvollziehbarer Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte des Zeugniserlasses. Dieser Begründungspflicht hat die Klassenkonferenz nicht genüge getan. Aus den Unterlagen zu den Klassenkonferenzen ist nicht ersichtlich, inwieweit überhaupt berücksichtigt worden ist, dass die Bewertungen der Fachlehrer und die Bewertungen der Lehrkräfte außerhalb des Unterrichts in erheblicher Weise voneinander abweichen. Dies gilt ebenfalls für die aufgezeigte besondere Problematik eines Notensprungs im Vergleich zu sämtlichen Vorjahren. Das Protokoll der Abhilfekonferenz vom 15. April 2010 enthält im Wesentlichen lediglich Angaben zur Bewertung des Sozialverhaltens außerhalb des Unterrichts und lässt Ausführungen im Hinblick auf die Gesichtspunkte Fairness, Hilfsbereitschaft, Übernahme von Verantwortung und Mitgestaltung des Gemeinschaftslebens gänzlich vermissen. In Anbetracht der oben dargestellten besonderen Situation wird die in der Antragserwiderung dargestellte rein rechnerische Ermittlung der Gesamtbewertung über eine Berücksichtigung des Verhaltens innerhalb und außerhalb des Unterrichts zu jeweils 50 % den Anforderungen an eine willkürfreie, sachgerechte und nachvollziehbare Begründung nicht gerecht.

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Bei einer erneuten Bewertung wird darüber hinaus zu berücksichtigen sein, dass die Antragsteller von den nunmehr mit Schriftsatz vom 12. Mai 2010 genannten Vorfällen, die zu der umstrittenen Bewertung geführt haben, lediglich ein einmaliges Verlassen des Schulgrundstückes, das einmalige Laufen mit Schuhen über Mensatische sowie die Beleidigung von Herrn E. gegenüber dessen Tochter eingeräumt haben und die übrigen von der Antragsgegnerin nicht durch schriftliche Unterlagen nachgewiesenen Vorfälle bestritten haben. Im Übrigen erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Beleidigung von Herrn E. nach dem Gespräch zwischen den Antragstellern, ihrem Sohn und Herrn E. unter Vermittlung und Anwesenheit der Leiterin für die 5. bis 10. Jahrgänge als einer Art Mediatorin überhaupt berücksichtigungsfähig ist. Nach einem gemeinsamen Gespräch, bei dem man sich per Handschlag voneinander verabschiedet und die Angelegenheit gemeinsam als bereinigt betrachtet, dürfte es einer - auch von der Schulordnung geforderten - vertrauensvollen Zusammenarbeit und dem Erziehungsauftrag der Schule widersprechen, gerade den besprochenen Vorfall negativ bei der Bewertung des Sozialverhaltens zu berücksichtigen. Im Übrigen werden bei einer Neubescheidung die dann nachgewiesenen Vorfälle in Bezug auf ihre Schwere und das Vorkommen derartiger Fälle bei der Antragsgegnerin insgesamt neu zu gewichten sein.

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Nach alledem ist die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, das Sozialverhalten des Sohnes der Antragsteller im Halbjahreszeugnis des Schuljahres 2009/2010 neu zu bewerten.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG. Das Gericht sieht aufgrund der Vorwegnahme der Hauptsache davon ab, den für ein Hauptsacheverfahren zugrunde zu legenden Streitwert zu halbieren (vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2004, 1327 ff., II Nr. 1.5 Satz 2, 38.5 und Nds. OVG, B. v. 15.04.2007 - 6 B 808/07 -, dbovg ).