Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 24.01.2019, Az.: 3 Ws 317/18 (StrVollz)
Keine Prüfungsbeschränkung anstaltsärztlicher Maßnahmen auf erkennbare Fehler
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 24.01.2019
- Aktenzeichen
- 3 Ws 317/18 (StrVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 36148
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hildesheim - 07.11.2018 - AZ: 23 StVK 385/17
Rechtsgrundlage
- § 115 Nr. 6 StVollzG
Amtlicher Leitsatz
1. Die gerichtliche Kontrolle anstaltsärztlicher Maßnahmen auf die Wahrung der Grenzen des pflichtgemäßen ärztlichen Ermessens ist nicht auf offensichtliche Ermessensfehler beschränkt.
2. Im Rahmen des Freibeweisverfahrens kann unter bestimmten Voraussetzungen auch die anstaltsärztliche Stellungnahme dem Gericht die notwendige Sachkunde vermitteln.
Redaktioneller Leitsatz
Eine nicht fachgerechte Behandlung in der Strafanstalt verletzt das Recht des Strafgefangenen auf Behandlung. Reicht der Anstaltsarzt nicht aus, sind auswärtige Fachkräfte hinzu zu ziehen.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben, soweit er die Ablehnung fachärztlicher Behandlung zum Gegenstand hat.
Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.
Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 1.000,- € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt S.
Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Juli 2017 machte er geltend, dass er in der Anstalt nicht die adäquate Behandlung durch Fachärzte, insbesondere Neurologen und Kardiologen, erhalte. Diese benötige er, weil seine Hirnfunktion durch drei Schlaganfälle eingeschränkt sei und er darüber hinaus an einer verdickten Herzscheidewand, einem Loch in der Herzscheidewand, Herzrhythmusstörungen und Vorhofflimmern leide. Außerdem wandte sich der Antragsteller dagegen, dass an ihn gerichtete Briefsendungen, die er nicht aus dem Stationsbüro abhole, an den jeweiligen Absender mit dem Hinweis zurückgesandt würden, dass der Antragsteller die Annahme verweigere.
Mit Beschluss vom 7. November 2018 hat das Landgericht die Anträge als unbegründet zurückgewiesen. Gestützt auf eine Stellungnahme der Anstaltsärztin vom 4. August 2017 ist das Landgericht zu der Feststellung gelangt, dass die Ablehnung einer Vorstellung des Antragstellers bei einem Facharzt nicht die Grenzen des ärztlichen Ermessens überschreite. Die Rechtmäßigkeit der Behandlung eingehender Schreiben, die der Antragsteller nicht aus dem Stationsbüro abholt, habe das Landgericht bereits mit rechtskräftigem Beschluss vom 31. August 2017 - 3 StVK 345/17 - festgestellt. Danach bestehe eine Pflicht der Vollzugsbehörde zur Übergabe der Schreiben im Haftraum nicht, weil der Antragsteller in der Lage und es ihm zumutbar sei, die Schreiben im Stationsbüro abzuholen.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und eine mangelnde Sachaufklärung.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat zum Teil (zumindest vorläufigen) Erfolg.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig, soweit die angefochtene Entscheidung die Ablehnung fachärztlicher Behandlung zum Gegenstand hat. Es ist geboten, insoweit die Nachprüfung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Die Formulierung, dass eine Behandlungsmaßnahme des Anstaltsarztes einer gerichtlichen Kontrolle nur unterfällt, "wenn erkennbar ist, dass der Anstaltsarzt/die Anstaltsärztin die Grenzen pflichtgemäßen Ermessens überschritten hat", lässt besorgen, dass der Entscheidung ein von der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 9. Mai 2018 - 3 Ws 73/18 (StrVollz) -, Nds. Rpfl. 2018, 312) abweichender Prüfungsmaßstab zugrunde liegt.
Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde hingegen unzulässig, weil die Überprüfung des angefochtenen Beschlusses weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist (§ 116 Abs. 1 StVollzG).
2. Soweit die Rechtsbeschwerde zulässig ist, ist sie auch begründet.
Die angefochtene Entscheidung zur medizinischen Behandlung des Antragstellers hat keinen Bestand, weil die getroffenen Feststellungen auf einer unzureichenden Sachaufklärung und rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung beruhen.
Aus § 57 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG folgt ein - grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteter - Anspruch auf Krankenbehandlung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2013 - 2 BvR 2757/11 -, juris). Da Strafgefangene kein Recht auf freie Arztwahl haben, ist zunächst die Anstaltsärztin oder der Anstaltsarzt für ihre Behandlung zuständig (vgl. § 180 Abs. 1 NJVollzG). Sind die Grenzen der Fachkompetenz der Anstaltsärztin oder des Anstaltsarztes oder der Ausstattung der Justizvollzugsanstalt erreicht, muss ein anderer (Fach-)Arzt hinzugezogen werden oder der Strafgefangene zur Behandlung an einen für die betreffende Angelegenheit besser qualifizierten oder besser ausgestatteten Arzt oder an ein geeignetes Krankenhaus überwiesen werden (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Mai 2014 - 2 BvR 1823/13 -, juris; Lesting, in: Feest, AK-StVollzG, 7. Aufl., Teil II § 62 LandesR Rn. 27).
Das Landgericht hat dem Beschwerdeführer zwar nicht jegliche sachliche Prüfung seiner unterbliebenen Überweisung an einen Facharzt mit der Begründung verweigert, dass es sich nicht um eine Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG handele. Der Senat kann aber nicht ausschließen, dass sich die bereits zitierte, zumindest missverständliche Formulierung in einer unzureichenden Sachaufklärung niedergeschlagen hat, indem eine Prüfung nur auf "erkennbare" - im Sinne von "offensichtliche" - Ermessensfehler vorgenommen worden ist. Aber auch mit diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hielte die Entscheidung rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Auszugehen ist davon, dass eine nicht fachgerechte medizinische Behandlung oder Nichtbehandlung eines Strafgefangenen dessen Rechte - insbesondere das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - verletzen kann, und dass Art. 19 Abs. 4 GG daher eine Auslegung der Verfahrensordnung verbietet, die die Angemessenheit der medizinischen Behandlung von Strafgefangenen der gerichtlichen Überprüfung entzieht (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10. Oktober 2012 - 2 BvR 922/11 -, BVerfGK 20, 84). Zwar beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die Wahrung der Grenzen des pflichtgemäßen ärztlichen Ermessens (vgl. OLG Celle aaO). Die Wahrung dieser Grenzen unterliegt aber von Verfassungs wegen uneingeschränkt gerichtlicher Überprüfung und darf nicht auf "erkennbare" Ermessensfehler reduziert werden. Vielmehr hat sich das Gericht "erforderlichenfalls der Hilfe von Sachverständigen" zu bedienen (so BVerfG aaO).
Andererseits bedeutet das nicht, dass zur Überprüfung anstaltsärztlicher Behandlungsmaßnahmen immer ein Sachverständiger hinzuzuziehen ist. Die Auffassung, dass die Stellungnahme des Anstaltsarztes in jedem Fall völlig ungeeignet sei, eine Überschreitung ärztlichen Ermessens auszuschließen (vgl. Lesting StV 2018, 639, 640), teilt der Senat nicht. Etwas anders lässt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2012 - 2 BvR 683/11 - (NStZ-RR 2013, 224 [OLG Hamm 26.02.2013 - 4 Ws 42/13]) herleiten. Zwar gilt danach, dass die fachgerichtliche Überprüfung die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten kann, wenn sie auf zureichender Aufklärung des Sachverhalts beruht. Bedenken gegen die dort angegriffene Entscheidung des Landgerichts hat das Bundesverfassungsgericht aber gerade darauf gestützt, dass die Entscheidung nicht mit der "vom zuständigen Anstaltsarzt selbst ausgesprochenen und zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt von seiner Seite nicht grundsätzlich in Frage gestellten Empfehlung" in Einklang stand. Auch die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer durch die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde kein schwerer Nachteil drohte, hat das Bundesverfassungsgericht auf "Angaben des Anstaltsarztes" gestützt (BVerfG aaO).
Im gerichtlichen Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz erfolgt die Sachaufklärung von Amts wegen und nach den Regeln des Freibeweisverfahrens (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 24. Februar 2010 - 3 Vollz (Ws) 61/09 -, OLGSt StVollzG § 115 Nr. 6 mwN). Es liegt im Ermessen des Gerichts, ob und inwieweit es Ermittlungen anordnet bzw. selbst durchführt, wobei jedoch die Beweismittel-, Beweismethoden- und Beweisverwertungsverbote zu beachten sind (vgl. Laubenthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG 6. Aufl., § 115 Rn. 10 mwN). Eine Stellungnahme des Anstaltsarztes scheidet nicht etwa deshalb von vornherein als Beweismittel aus, weil sie als bloßer Parteivortrag der Vollzugsbehörde anzusehen ist. Auch dann, wenn Gegenstand des Verfahrens eine Maßnahme des Anstaltsarztes ist, ist dieser nicht Beteiligter des gerichtlichen Verfahrens (vgl. KG, Beschluss vom 10. März 2017 - 5 Ws 51/17 Vollz -, OLGSt StVollzG § 109 Nr. 13; Arloth/Krä, StVollzG 4. Aufl., § 111 Rn. 2). Dementsprechend hängt es vom jeweiligen Einzelfall, insbesondere vom Informationsgehalt der Stellungnahme des Anstaltsarztes, vom Vorbringen des Gefangenen entsprechend seinen Darlegungsobliegenheiten (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Mai 2014 - 2 BvR 1823/13 -, Rn. 25, juris), von Art und Schwere des Krankheitsbildes sowie Komplexität der Behandlungsmaßnahme, ab, ob bereits die Stellungnahme des Anstaltsarztes zur Sachaufklärung ausreicht. Dies kommt namentlich dann in Betracht, wenn der Anstaltsarzt etwa durch Vorlage fachärztlicher Vorbefunde, Hinweise auf einschlägige Fachliteratur oder - wie in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall (2 BvR 683/11 aaO) - auf Leitlinien oder Empfehlungen eines anerkannten Fachverbandes (z. B. Deutsche Ophtalmologische Gesellschaft) dem Gericht die nötige Sachkunde vermittelt, um die Streitfrage zu beurteilen.
Bei der Anwendung dieser Grundsätze ist allerdings immer das besondere Gewicht des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) zu beachten (vgl. BVerfG aaO und Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2008 - 2 BvR 338/08 -, juris).
b) Hieran gemessen erweist sich die Sachaufklärung im vorliegenden Fall als unzureichend und die den getroffenen Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung als rechtsfehlerhaft. Das Landgericht durfte sich nicht mit der Stellungnahme der Anstaltsärztin vom 4. August 2017 begnügen, weil diese keine hinreichend konkreten Angaben zur Anamnese, zu Untersuchungsbefunden und zu den zu beachtenden Leitlinien enthielt. Insbesondere aber hätte folgende Passage der Stellungnahme Anlass zu weiterer Sachaufklärung geben müssen:
"Ursächlich für die Schlaganfälle war ein kleines Loch in der Herzscheidewand zwischen den Herzvorhöfen (offenes Foramen ovale). Eine wie bei Herrn B. vorhandene kleine Öffnung ist hämodynamisch nicht bedeutsam und nicht operativ behandlungsbedürftig."
Die Rechtsbeschwerde weist zutreffend darauf hin, dass es widersprüchlich erscheint, zumindest aber nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist, dass die Öffnung in der Herzscheidewand einerseits Ursache von Schlaganfällen gewesen sei, andererseits aber hämodynamisch nicht bedeutsam und operativ nicht behandlungsbedürftig sei.
III.
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 1 Nr. 8, 63 Abs. 3, 65 GKG.