Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 09.07.2021, Az.: 2 Ws 194/21
Recht auf Vertrauen in übliche Postlaufzeiten; Stempel des Briefzentrums als rechtzeitiger Einlieferungsbeweis; Unbrauchbarkeit eines Gutachtens zum gewalttätigen Handeln; Erfordernis der Gutachtenerstattung über Schizophrenie durch Arzt für Psychatrie
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 09.07.2021
- Aktenzeichen
- 2 Ws 194/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 31550
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2021:0709.2WS194.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 03.06.2021 - AZ: 161 StVK 13/21
Rechtsgrundlagen
- § 63 StGB
- § 67d Abs. 2 StGB
- § 67e StGB
- § 44 StPO
- § 45 Abs. 2 StPO
- § 311 StPO
- § 463 Abs. 4 StPO
- § 2 Nr. 3 PUDLV
- § 473 Abs. 7 StPO
Fundstellen
- RPsych 2021, 604
- StV 2022, 314
- StraFo 2021, 375-376
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Ein Beschwerdeführer darf darauf vertrauen, dass sein Beschwerdeschreiben innerhalb der üblichen Postlaufzeit - das heißt am Werktag nach der rechtzeitigen Einlieferung bei der Post - beim Empfänger eingeht; die rechtzeitige Einlieferung ist nachgewiesen, wenn der Brief am Tag vor Fristablauf im Briefzentrum gestempelt wurde.
- 2.
Das gemäß § 463 Abs. 4 StPO zur Prüfung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einzuholende Gutachten ist regelmäßig von einem Arzt für Psychiatrie zu erstellen, wenn bei dem Betroffenen eine paranoide Schizophrenie vorliegt.
Tenor:
Dem Untergebrachten wird von Amts wegen und auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg vom 3. Juni 2021 gewährt.
Auf die sofortige Beschwerde des Untergebrachten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg vom 3. Juni 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit Urteil vom 20. Juni 2012, rechtskräftig seit demselben Tage, hat das Landgericht Verden die Unterbringung des heute 29 Jahre alten Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Der Unterbringung lag zugrunde, dass der Betroffene am 16. November 2011 seinem schlafenden Vater ein Messer in den Brustkorb gestochen hatte, weil er aufgrund einer akuten paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis in ihm den Teufel erblickte. Das Landgericht hat durch die Tat den Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB als verwirklicht angesehen, vom Versuch eines Totschlags war der Beschuldigte nach den Urteilsfeststellungen zurückgetreten.
Die Unterbringung wird seit dem 20. Juni 2012 in der Psychiatrischen Klinik ... vollzogen, zuvor war der Beschuldigte bereits seit dem 16. November 2011 vorläufig untergebracht. Eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung wurde von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg nach jährlichen Prüfungen abgelehnt, zuletzt rechtskräftig mit Beschluss vom 28. April 2020.
Für das aktuelle Prüfungsverfahren hat die Strafvollstreckungskammer eine Stellungnahme der Maßregelvollzugsklinik sowie ein Gutachten des Diplom-Psychologen T. S. eingeholt, die vom 24. April bzw. 12. Mai 2021 datieren.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 3. Juni 2021 hat die Strafvollstreckungskammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beschlossen.
Gegen diesen Beschluss, der dem Verteidiger am 9. Juni 2021 zugestellt wurde, wendet sich der Untergebrachte mit seiner sofortigen Beschwerde. Das Beschwerdeschreiben weist einen Poststempel vom 15. Juni 2021 auf und ist am 17. Juni 2021 beim Landgericht Lüneburg eingegangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässig und hat zumindest vorläufig Erfolg.
1.
Dem Verurteilten war gemäß §§ 44, 45 Abs. 2 S. 3 StPO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist zu gewähren, weil sich aus den Akten ergibt, dass ihn an der Versäumung der Begründungsfrist kein Verschulden trifft.
Der Senat schließt sich der verbreiteten obergerichtlichen Rechtsprechung an, wonach ein Rechtsmittelführer darauf vertrauen darf, dass bei einer Aufgabe der Rechtsmittelschrift zur Post die seitens der Deutschen Post AG für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 2020, IX ZA 4/20, juris; BGH, Beschluss vom 20. Mai 2009, NJW 2009, 2379; OLG Oldenburg, Beschluss vom 16. September 2013, NStZ-RR 2014, 113 [OLG Oldenburg 16.09.2013 - 1 Ws 547/13]; OLG Hamm, Beschluss vom 17. Februar 2009, NJW 2009, 2230 [OLG Hamm 17.02.2009 - 3 Ws 37/09]). Beim Versand eines einfachen Briefes darf er davon ausgehen, dass dieser bereits einen Werktag nach der Einlieferung beim Empfänger eingeht. Denn dies entspricht nicht nur den üblichen Laufzeiten nach § 2 Nr. 3 Post-Universaldienstleistungsverordnung, wonach im Jahresdurchschnitt mindestens 80 Prozent der Briefsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden müssen, sondern auch den Angaben der Deutschen Post AG auf ihrer Internetseite, wonach die Betriebsprozesse darauf ausgelegt sind, rund 90 % aller nationalen Briefsendungen bereits einen Werktag nach der Einlieferung beim Empfänger auszuliefern.
Der Untergebrachte durfte deshalb darauf vertrauen, dass sein (spätestens) am 15. Juni 2021 zur Post gegebener Brief am 16. Juni 2021 und damit innerhalb der Beschwerdefrist beim Landgericht eingehen würde.
2.
Die Beschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss hält den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer Fortdauerentscheidung bei Unterbringungen nicht stand.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei langdauernden Unterbringungen sowohl die Verhältnismäßigkeitsprüfung als auch die Anforderungen, die an die Begründung einer Entscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB zu stellen sind. Zu verlangen ist die Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen, wobei auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles einzugehen ist (OLG Celle, Beschluss vom 24. April 2019, 2 Ws 77/19; OLG München, Beschluss vom 10. Januar 2014, NStZ-RR 2014, 230). Zu erwähnen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und die von ihm bislang begangenen Taten. Abzuheben ist aber auch auf die nach Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. Dazu gehören der Zustand des Untergebrachten und die künftig zu erwartenden Lebensumstände. Schließlich hat sich der Beschluss zudem mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der Verhältnismäßigkeit einer Fortdauer der Unterbringung entgegensteht, dass den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit mit milderen Mitteln genügt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. November 2016, 2 BvR 2921/14, juris, Rdnr. 28; Beschluss vom 16. November 2016, 2 BvR 1739/14, juris, Rdnr. 27 ff., und Beschluss vom 22. März 2018, 2 BvR 1509/15, juris, Rdnr. 19 jeweils m. w. N.).
Diesen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht. Aus der sehr gedrängten Zusammenfassung des Sachverständigengutachtens lässt sich zwar entnehmen, dass die Strafvollstreckungskammer beim Untergebrachten von einer Gefahr erneuten gewalttätigen Handelns ausgeht. Diese Annahme wird jedoch nicht tragfähig unterlegt. Insbesondere setzt sich der angefochtene Beschluss nicht damit auseinander, dass die massive Gewaltausübung bei der Anlasstat bereits neun Jahre zurückliegt und nach der Stellungnahme der Klinik letztmals im Jahr 2017 ein Übergriff durch den Untergebrachten auf Klinikpersonal erfolgt ist. Es hätte ferner einer Auseinandersetzung mit der prognoserelevanten Einschätzung der Klinik bedurft, dass die frühere Neigung des Untergebrachten zu dominant aggressivem Verhalten mit zunehmendem Alter sowie in Anbetracht der im Verlauf ausgeprägten Minussymptomatik und zunehmender Verflachung etwas in den Hintergrund trete.
Darüber hinaus lässt sich dem angefochtenen Beschluss nicht ausreichend entnehmen, für wie wahrscheinlich die Strafvollstreckungskammer die Begehung künftiger Gewalttaten hält und worauf sie diese Einschätzung stützt. Insoweit gibt der Beschluss zwar die Einschätzung des Sachverständigen im Hinblick auf ein statistisches Prognoseinstrument wieder, das eine "deutlich" mittlere Wahrscheinlichkeit ausweise. Standardisierte Prognoseinstrumente allein können indes eine Gefährlichkeitsbeurteilung nicht tragfähig begründen, erforderlich ist vielmehr eine differenzierte Analyse des Einzelfalls (BGH, Beschluss vom 17. März 2021, 2 StR 434/20, juris; BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010, 3 StR 169/10, NStZ-RR 2010, 203 [BGH 30.03.2010 - 3 StR 69/10]; BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2008, 3 StR 350/08, NStZ 2009, 227). Eine solche geht jedenfalls aus dem angefochtenen Beschluss nicht hervor.
Vor diesem Hintergrund begegnen auch die Erwägungen, mit denen die Strafvollstreckungskammer die Fortdauer der Unterbringung für verhältnismäßig erachtet hat, schon deshalb durchgreifenden Bedenken, weil die erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung erst auf der Grundlage der den dargelegten Begründungsanforderungen genügenden Gefährlichkeitsprognose zu erfolgen hat (vgl. OLG München a.a.O.).
3.
Der Senat sieht sich auf der Grundlage der bisher erfolgten Sachaufklärung außerstande, selbst eine den dargestellten Anforderungen entsprechende Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung zu treffen. Das gemäß § 463 Abs. 4 StPO eingeholte Gutachten bildet keine geeignete Grundlage für die gerichtliche Prognoseentscheidung, weil es nicht von einem Psychiater erstellt worden ist.
§ 463 Abs. 4 Satz 5 StPO verpflichtet das Gericht nicht stets zur Einholung eines psychiatrischen Gutachtens, sondern ermöglicht auch die Beauftragung eines psychologischen Sachverständigen mit forensisch-psychiatrischer Sachkunde. Bei der Auswahl des Sachverständigen ist aber besonders zu berücksichtigen, inwieweit die zu beurteilende Störung in sein Fachgebiet fällt und die Sachkunde eines nicht-ärztlichen Sachverständigen zur Erstattung des Gutachtens genügt (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29. Mai 2015, 1 Ws 81/15, juris). Für schizophrene Psychosen ist regelmäßig davon auszugehen, dass deren Beurteilung besondere medizinische Fachkenntnisse voraussetzt, die ein nichtärztlicher Psychologe nicht besitzt (OLG Saarbrücken a. a. O.; BGH, Beschluss vom 29. April 2014, 3 StR 171/14, juris; KG, Beschluss vom 19. Dezember 2007, 1 AR 1717/07- 2 Ws 762/07, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 05. April 2005, 4 Ws 124/05, juris; Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, L 179).
Die Umstände des vorliegenden Falles rechtfertigen es nicht, von dieser Regel abzuweichen. Im Gegenteil ist aufgrund der Stellungnahme der Klinik davon auszugehen, dass sich das Prognosegutachten nicht unwesentlich mit der Wirkung der Medikation auf den Untergebrachten, den Folgen ihres eventuellen Absetzens und der Frage einer zu erwartenden produktiven Symptomatik im Rahmen seiner chronifizierten paranoiden Schizophrenie auseinandersetzen muss. Die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens ist deshalb unerlässlich.
Wegen der damit erforderlichen weiteren Sachverhaltsaufklärung und der anschließend gesetzlich vorgeschriebenen mündlichen Anhörungen (§ 463 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 454 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 3 StPO) war die Sache abweichend vom Grundsatz des § 309 Abs. 2 StPO an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2011, NStZ-RR 2012, 8; OLG Celle, Beschluss vom 5. Dezember 2016, NdsRpfl 2017, 253; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 5. September 2017, 2 Ws 251/17, juris), die auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.
Die Kosten Wiedereinsetzung hat der Senat gemäß § 473 Abs. 7 StPO dem Untergebrachten auferlegt.