Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.04.2016, Az.: 11 K 10239/15

Rechtsstreit um die Einordnung eines Diäterzeugnisses als Arzneiware bzw. als diätisches Lebensmittel; Einordnung als Arzneiware aufgrund der hohen Dosierung an Vitamin E und der Indikation "ergänzende bilanzierte Diät für Erwachsene zur diätetischen Behandlung bei altersabhängiger Makuladegeneration"; Anspruch auf Einreihung des Erzeugnisses in die Position 2106 der kombinierten Nomenklatur (KN) zum Umsatzsteuersatz von sieben Prozent

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
14.04.2016
Aktenzeichen
11 K 10239/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 40377
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2016:0414.11K10239.15.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 18.09.2018 - AZ: VII R 9/17

Amtlicher Leitsatz

Arzneiwaren im Sinne der Position 3004 der kombinierten Nomenklatur (KN) sind Erzeugnisse, die genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen und deren Wirkungen auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert sind. Eine Einordnung in Position 3004 ist nicht möglich, wenn es einem Produkt an genau umschriebenen therapeutischen oder prophylaktischen Eigenschaften mangelt.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die Lieferung des von der Klägerin vertriebenen Produkts XXX dem Regelsteuersatz oder dem begünstigten Steuersatz unterliegt. Bei dem Produkt soll es sich nach der Packungsbeilage um ein "diätetisches Lebensmittel für besondere Zwecke, ergänzende bilanzierte Diät für Erwachsene zur diätetischen Behandlung bei altersabhängiger Makuladegeneration" handeln. Laut einer unverbindlichen Auskunft für Umsatzsteuerzwecke der Oberfinanzdirektion Nürnberg am 20. September 2005 soll die Einreihung in die Position 2106 der kombinierten Nomenklatur (KN) zum Umsatzsteuersatz von sieben Prozent erfolgen. Diese unverbindliche Auskunft wurde vom Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bundesfinanzverwaltung, München mit Schreiben vom 21. Januar 2011 widerrufen. Zur Begründung hieß es, das Erzeugnis sei wegen der hohen Dosierung an Vitamin E und der Indikation "ergänzende bilanzierte Diät für Erwachsene zur diätetischen Behandlung bei altersabhängiger Makuladegeneration" als Arzneiware i.S. der Position 3004 KN einzuordnen. Die Klägerin reichte am 18. Dezember 2012 eine Umsatzsteuererklärung für 2011 ein, in der sie die streitigen Leistungen einem Steuersatz von 7 % unterwarf. Für 2012 reichte sie am 20. März 2014 eine Umsatzsteuererklärung ein, in der sie die streitigen Leistungen zunächst ebenfalls zum begünstigten Steuersatz erklärte, welcher der Beklagte, das Finanzamt (FA), jedoch nicht zustimmte. Am 4. April 2014 reichte die Klägerin eine neue Umsatzsteuererklärung für 2012 ein, in der sie die streitigen Leistungen einem Steuersatz von 19 % unterwarf. Wegen der Einzelheiten wird auf die genannten Steuererklärungen der Klägerin verwiesen.

2

Das FA führte in der Zeit vom 6. Juni 2012 bis zum 3. Juli 2012 bei der Klägerin eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung durch. Die Prüferin sah die Voraussetzungen für den ermäßigten Umsatzsteuersatz als nicht erfüllt an und unterwarf die Umsätze dem Regelsteuersatz. Das FA erließ am 4. September 2012 einen entsprechend geänderten Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid für die Monate Januar bis Dezember 2011 und für das 1. Quartal 2012. Während des Einspruchsverfahrens erließ das FA am 8. Februar 2013 einen Jahressteuerbescheid für 2011, gegen den die Klägerin erneut Einspruch einlegte. Außerdem erging am 21. Februar 2013 eine neue unverbindliche Auskunft für Umsatzsteuerzwecke, die das Produkt der Position 3004 KN mit einem Umsatzsteuersatz von 19 v.H. zuordnete. Zur Begründung heißt es u.a., die täglich zuzuführende Wirkstoffmenge an Vitamin E und Vitamin C gingen bei bestimmungsgemäßer Anwendung deutlich über das für die allgemeine Ernährung notwendige Maß hinaus. Die Werte der täglich empfohlenen Dosierung für die Vitamine würde um mehr als das Dreifache überschritten.

3

Das FA verwarf den Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid 2011 mit Bescheid vom 9. September 2013 mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig, das bereits laufende Einspruchsverfahren wurde nach § 365 Abs. 3 AO fortgesetzt. Im Übrigen wurden die Einsprüche gegen die Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide Januar bis Dezember 2011 und das 1. Quartal 2012 mit demselben Bescheid als unbegründet zurückgewiesen. Das Produkt sei unter Berücksichtigung der zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kapitel 20 KN als Arzneiware der Position 3004 KN einzuordnen. Die in der genannten Anmerkung aufgeführten Voraussetzungen lägen sämtlich vor, insbesondere auch die, dass bei der Zubereitung auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essentiellen Aminosäuren oder Fettsäuren die Menge eines dieser Stoffe pro auf dem Etikett angegebener empfohlener Tagesdosis deutlich höher sein müsse, als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis.

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Mit ihrer hiergegen gerichteten Klage macht die Klägerin geltend, ihr Produkt sei als Lebensmittelzubereitung in Kapitel 21 Position 2106 Anhang I KN einzureihen und unterliege daher dem ermäßigten Steuersatz. Wie bereits die Verkehrsbezeichnung "diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke" nahe lege, handele es sich um ein Lebensmittel und keine Arzneiware. Es sei irrelevant, ob die enthaltenen Vitamine die empfohlene Tagesdosis in dreifacher Menge überschritten. Denn diätetische Lebensmittel gehörten laut der Erläuterung generell nicht zur Position 3004 KN. Das Erzeugnis weise die gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV vorgeschriebene diätetische Indikation auf, mit der keine genau umschriebenen therapeutischen oder prophylaktischen Eigenschaften des Erzeugnisses ausgelobt würden. Die deutsche Pflichtangabe sei dabei leicht missverständlich, sowohl die englische als auch die französische Pflichtangabe verdeutlichten, dass das Erzeugnis nicht einer Behandlung im medizinischen Sinne diene. Es könne nicht sein, dass diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke allein in Deutschland wegen einer fragwürdigen Übersetzung in den Verdacht gerieten, Arzneiwaren zu sein. Hohe Mengen von Vitamin E und C könnten auch durch die normale Ernährung aufgenommen werden. Ob es sich bei den enthaltenen Dosen von Vitamin C und Vitamin E wirklich um deutlich erhöhte Dosen handele, müsse gegebenenfalls durch ein Sachverständigengutachten geklärt werden.

5

Die Klägerin beantragt,

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die Umsatzsteuer 2011 entsprechend der Steuererklärung auf 7.187,81 € festzusetzen und für 2012 die Umsatzsteuer um 8.483,93 € herabzusetzen.

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Das FA beantragt,

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die Klage abzuweisen.

9

Das Produkt sei Arzneiware i.S.d. Position 3004 KN und unterliege dem Regelsteuersatz.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

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Für das streitige Produkt ist der Steuersatz mit 7 v.H. zu bestimmen.

12

Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG ermäßigt sich die Umsatzsteuer auf 7 v.H. für die Lieferungen, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb der in Anlage 2 zum Umsatzsteuergesetzt bezeichneten Gegenstände. In laufender Nummer 33 der Anlage 2 sind verschiedene Lebensmittelzubereitungen aus dem Zolltarif Kapitel 21 genannt. In die Position 2106 der KN gehören Lebensmittelzubereitungen, die anderweit weder genannt noch inbegriffen sind. Das streitige Produkt ist in diese Position 2106 der KN einzuordnen. Denn es gehört nicht in die Position 3004 der KN.

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1. Für die Auslegung des § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 kommt es allein auf die zolltariflichen Vorschriften und Begriffe an (BFH-Urteil vom 3. Februar 2004 VII R 33/03, BFH/NV 2004, 849, 850, m.w.N.).

14

Zur Pos. 3004 KN gehören Arzneiwaren, die aus gemischten oder ungemischten Erzeugnissen zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken bestehen, dosiert (einschließlich solcher, die über die Haut verabreicht werden) oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf. Den ErlHS zu Pos. 3004 KN Rz 04.0, 05.0 und 20.0 entsprechend sind als Erzeugnisse in einer Aufmachung für den Einzelverkauf zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken solche Erzeugnisse anzusehen, die aufgrund ihrer Aufmachung und insbesondere wegen des Vorhandenseins --gleich in welcher Form-- entsprechender Angaben (z.B. Art der Beschwerden, gegen die sie eingesetzt werden sollen, Anwendungsweise, Angabe der jeweils zu verabreichenden Menge) erkennbar dazu bestimmt sind, unmittelbar und ohne weiteres Abpacken an den Verwender (Einzelpersonen, Krankenhäuser usw.) verkauft zu werden, damit sie zu den obengenannten Zwecken gebraucht werden (Rz 04.0). Diese Angaben (in jeder beliebigen Sprache) können auf der inneren oder äußeren Umschließung, in beigefügten Drucksachen oder in irgendeiner anderen Weise angebracht sein. Die Angabe des pharmazeutischen oder anderweitigen Reinheitsgrades allein genügt nicht für die Einreihung eines Erzeugnisses in diese Position (Rz 05.0). Hierher gehören nicht "Nahrungsergänzungsmittel", die Vitamine und Mineralsalze enthalten und zur Erhaltung der Gesundheit oder des Wohlbefindens dienen, sofern sie keine Angaben über die Verhütung oder Behandlung einer Krankheit enthalten. Diese Erzeugnisse, die gewöhnlich in flüssiger Form vorliegen, aber auch Pulver- oder Tablettenform aufweisen können, gehören im Allgemeinen zu Pos. 2106 KN oder zu Kap. 22 KN (Rz 20.0). Weiterhin gehören nicht zu Pos. 3004 KN u.a. diätetische Zubereitungen sowie Nahrungsmittel, wie u.a. diätetische Lebensmittel (Anmerkung 1 Buchst. a zu Kap. 30 KN).

15

Zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Zubereitungen für besondere diätetische Zwecke dient die mit der VO Nr. 1777/2001 eingefügte Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kap. 30 KN. Diese ist verbindlich und mit dem Abkommen über das Harmonisierte System vereinbar (Senatsbeschluss vom 22. Dezember 2005 VII B 62/05, BFH/NV 2006, 985, 987 f.). Der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu Kap. 30 KN folgend gehören zu Pos. 3004 KN pflanzliche Arzneizubereitungen und Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essentiellen Aminosäuren oder Fettsäuren, in Aufmachungen für den Einzelverkauf. Diese Zubereitungen sind in die Pos. 3004 KN einzureihen, wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel folgende Angaben gemacht werden:

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a) die spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, bei denen diese Erzeugnisse verwendet werden sollen;

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b) die Konzentration des enthaltenen Wirkstoffs oder der darin enthaltenen Stoffe;

18

c) die zu verabreichende Menge und

19

d) die Art der Anwendung.

20

Bei Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essentiellen Aminosäuren oder Fettsäuren muss die Menge eines dieser Stoffe pro auf dem Etikett angegebener empfohlener Tagesdosis deutlich höher sein, als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis.

21

Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Arzneiwaren im Sinne der Position 3004 der KN Erzeugnisse sind, die genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen und deren Wirkungen auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert sind (vgl. Urteil vom 9. Januar 2007 C-40/06 mit weiteren Nachweisen).

22

2. Nach diesen Grundsätzen ist das Produkt vorliegend in die Position 2106 der KN einzuordnen. Eine Einordnung in Position 3004 ist nicht möglich, denn es mangelt dem Produkt an genau umschriebenen therapeutischen oder prophylaktischen Eigenschaften. Nach der Verpackung und dem Beipackzettel soll es sich um ein diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, ergänzende bilanzierte Diät für Erwachsene zur diätetischen Behandlung bei altersabhängiger Makuladegeneration handeln. Der Beipackzettel führt hierzu aus, freie Radikale griffen die empfindlichen Strukturen der Sinneszellen an und beeinträchtigten ihre Funktionsfähigkeit. Die Folge könne ein vorzeitiger Verschleiß der Makula sein. Das Produkt sei mit einer speziell formulierten Mikronährstoffmischung für das Auge ausgewogen und optimal kombiniert für den Stoffwechsel des Auges. Lutein und Zeaxanthin schützten das Auge mit seinen empfindlichen Zellstrukturen vor oxidativen Prozessen. Die Vitamine C und E seien Bestandteile des antioxidativen Schutzsystems und unterstützten in Verbindung mit den Spurenelementen Zink und Kupfer die Regeneration der Sehzellen. Diese Angaben sind nach Ansicht des erkennenden Senats zu allgemein, als dass man ihnen genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften des Produkts entnehmen könnte. Freie Radikale werden für praktisch alle Alterserscheinungen des Körpers geltend gemacht und es wird allgemein angenommen, dass Vitamine und Spurenelemente diesen möglicherweise entgegenwirken. Ein Wirkmechanismus, warum die in dem Produkt enthaltenen Bestandteile in besonderer Weise der altersabhängigen Makuladegeneration entgegenwirken sollen, wird weder auf der Verpackung noch im Beipackzettel genannt. Der Fall ist insoweit verschieden von dem vom BFH mit Urteil vom 5. Mai 2015 in dem Verfahren VII R 10/13, BFH/NV 2015, 1449 [BFH 05.05.2015 - VII R 10/13] entschiedenen, da dort aufgrund von Herstellerangaben die Feststellung getroffen werden konnte, dass ein bestimmtes, in dem dort streitigen Produkt enthaltenes Präparat den Abbau des Stoffwechselprodukts Homoxystein bewirke, das in zu hoher Konzentration einen Risikofaktor für Schädigungen der Blutgefäße darstelle, weshalb das Produkt aktiv zumindest der Vorbeugung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und entsprechende Leiden diene. Die Angabe eines vergleichbaren konkreten Wirkmechanismus fehlt vorliegend.

23

Soweit das FA darauf hinweist, dass nach den Erläuterungen zu Kapitel 30 der KN das streitige Produkt als pharmazeutisches Erzeugnis einzustufen sei, weil es die vier Voraussetzungen, nämlich die Verwendung bei spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptomen, die Konzentration der enthaltenen Wirkstoffe, die zu verabreichende Menge und die Art der Anwendung umschreibe, ist dem entgegenzuhalten dass in den Erläuterung zu Kapitel ausdrücklich ausgeführt ist, dass zu Position 3004 u.a. nicht Nahrungsergänzungsmittel und diätetische Zubereitungen gehören.

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3. Im Ergebnis war die Umsatzsteuer für beide Streitjahre antragsgemäß festzusetzen. Die Steuerfestsetzung für 2011 erfolgt entsprechend der Umsatzsteuererklärung vom 18. Dezember 2012. Die Steuerfestsetzung für 2012 errechnet sich wie folgt:

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Umsatzsteuer laut Erklärung vom 4. April 201419.121,78 €
Abzüglich Klageantrag8.483,93 €
Steuerfestsetzung (neu)10.637,85 €
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4.Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.