Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 06.06.2024, Az.: 2 B 889/24

Abschiebung; Aufenthaltsbeendigung; Eilfall; Rechtliches Abschiebungshindernis; Stoppersuchen; Zuständigkeit; Zuständigkeit für Abschiebungen

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
06.06.2024
Aktenzeichen
2 B 889/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 18447
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2024:0606.2B889.24.00

Amtlicher Leitsatz

Der Antrag (auf Abbruch der Abschiebung) richtet sich auch gegen den richtigen Antragsgegner, auch wenn der Landkreis gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZustVO-ASVS nicht für die Durchführung von Abschiebungen zuständig ist. Denn der Landkreis ist weiterhin für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nach § 71 Abs. 1 AufenthG zuständig, § 1 Abs. 1 S. 1 ZustVO-ASVS. Dies umfasst auch die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG und die diesbezügliche rechtliche Prüfung, ob eine Abschiebung abzubrechen ist. Der Begriff Durchführung der Abschiebung in § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZustVO-ASVS umfasst im vorliegenden Fall ersichtlich nur die tatsächliche Umsetzung der Abschiebung.

Tenor:

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die Anträge - im Tenor als ein Antrag bezeichnet - haben keinen Erfolg. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, vorerst von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verschont zu bleiben. Die aufschiebende Wirkung seiner Klage bei dem Verwaltungsgericht Stade mit dem Aktenzeichen 2 A 1571/23 ist ebenfalls nicht anzuordnen und es besteht auch kein Anspruch auf den Erlass eines "Hängebeschlusses" zur Gewährleistung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet. Gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Dabei sind der Anordnungsanspruch, also der geltend gemachte materielle Anspruch der Antragsteller, und der Anordnungsgrund, mithin die Dringlichkeit der Rechtsschutzgewährung, nach §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft zu machen.

Der Antrag richtet sich auch gegen den richtigen Antragsgegner, auch wenn der Landkreis gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZustVO-ASVS nicht für die Durchführung von Abschiebungen zuständig ist. Denn der Landkreis ist weiterhin für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nach § 71 Abs. 1 AufenthG zuständig, § 1 Abs. 1 S. 1 ZustVO-ASVS. Dies umfasst auch die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG und die diesbezügliche rechtliche Prüfung, ob eine Abschiebung abzubrechen ist. Der Begriff "Durchführung der Abschiebung" in § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZustVO-ASVS umfasst im vorliegenden Fall ersichtlich nur die tatsächliche Umsetzung der Abschiebung. Nach Nr. 4.2. des Rückführungserlasses (Rechtliche Hinweise und verfahrensmäßige Vorgaben zur Organisation und Durchführung des Rückführungs- und Rücküberstellungsvollzugs (Abschiebung) und zur Beantragung von Abschiebungshaft (Rückführungserlass) vom 07.07.2021 (Nds. MBl. S. 1158)) ist die Landesaufnahmebehörde für die Organisation der Abschiebung, wie die Festlegung der Abholung, Bereitstellung der erforderlichen Fahrzeuge etc. zuständig. Nach Nr. 4.1 S. 1 nehmen die Ausländerbehörden gemäß § 71 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 2 Nr. 1 AllgZustVO-Kom für die sich in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich aufhaltenden ausreisepflichtigen Ausländerinnen und Ausländer, mit Ausnahme der Ausländerinnen und Ausländer die in einer Landesaufnahmeeinrichtung wohnen oder zu wohnen verpflichtet sind, die Aufgaben nach dem AufenthG und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen wahr. Diese Zuständigkeit umfasst nach Nr. 4.1 S. 2 Rückführungserlass die Vorbereitung der Rückführung einschließlich der Erstellung von Rückübernahmeersuchen und gilt auch für den Antragsteller. Der Antragsteller wohnt nicht in einer Landesaufnahmeeinrichtung und ist dazu auch nicht verpflichtet.

Der Antragsteller hat den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Ein solcher folgt weder aus dem Ablauf der Festnahme noch aus § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG oder einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

Der Antragsteller kann sich nicht auf § 58 Abs. 7 S. 1 AufenthG berufen. Danach darf die Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zur Nachtzeit nur betreten werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird. Insofern hat der Antragsteller zwar vorgetragen, zur Nachtzeit festgenommen worden zu sein, doch ergibt sich aus seinem Vortrag bereits nicht, dass er auch in seiner Wohnung festgenommen worden ist. Ob die Wohnung des Antragstellers überhaupt betreten wurde, bleibt damit offen.

Der Antragsteller hat weiterhin keinen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Tatsächliche Abschiebungshindernisse sind nicht ersichtlich. Der Abschiebung stehen auch keine rechtlichen Gründe entgegen. Von Rechts wegen unmöglich ist die Abschiebung, wenn sie im Verhältnis zu dem Betroffenen rechtlich ausgeschlossen ist, wenn sich also aus nationalen Gesetzen, Unionsrecht, Verfassungsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (Dollinger in Bergmann/Dienelt, AufenthG, 14. Auflage 2022, § 60a Rn. 24, beck-online).

Der Schutz der Familie des Antragstellers gemäß Art. 6 Abs. 1, 2 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK steht der Beendigung seines Aufenthalts nicht entgegen. Art. 6 GG wirkt im Aufenthaltsrecht als wertentscheidende Grundsatznorm (BVerfG, Beschluss vom 18.04.1989, 2BvR 1169/84, Rn. 35, 38, juris). Dabei vermitteln Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht unmittelbar einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005, 2 BvR 1001/04, Rn. 17). Vielmehr sind die Ausländerbehörden und die entscheidenden Gerichte verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsrechtliche Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 18.04.1989, 2BvR 1169/84, Rn. 39, juris). Besteht eine gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 GG zu schützende Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002, 2 BvR 231/00, Rn. 22 m.w.N., juris). Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002, 2 BvR 231/00, Rn. 22 m.w.N., juris).

Dabei ist die familiäre Beziehung nicht schematisch einzustufen (BVerfG, Beschluss vom 01.08.1996, 2 BvR 1119/96, Rn. 5, juris). Entscheidend für die ausländerrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005, 2 BvR 1001/04, Orientierungssatz 2b m.w.N., juris). Dabei ist zu beachten, dass bei einer Vater-Kind-Beziehung durch den spezifischen Erziehungsbeitrag des Vaters wesentliche elterliche Betreuungsleistungen erbracht werden, die ggf. aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG entfalten (BVerfG, Beschluss vom 20.03.1997, 2 BvR 260/97, Rn. 4, juris). Der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters wird auch nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005, 2 BvR 1001/04, Rn. 20 m.w.N., juris). Wenn aufenthaltsrechtliche Entscheidungen den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005, 2 BvR 1001/04, Rn. 25, juris). Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005, 2 BvR 1001/04, Rn. 25 m.w.N., juris).

Gemessen daran kann dem Antragsteller kein Abschiebungshindernis zur Seite stehen, weil er keine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft mit seinem deutschen Kind dargelegt hat. Er wohnt mit seiner am G. geborenen Tochter nicht zusammen und hat nichts vorgetragen, was auf eine Beziehung zwischen ihm und seiner nunmehr 5 Jahre alten Tochter schließen lässt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Kind ihn kaum kennt und keine Bezugsperson verliert, wenn der Antragsteller sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhält. Der Antragsteller erklärt im Antragsschriftsatz selbst, dass er in einem familienrechtlichen Verfahren um den Umgang mit seinem Kind streitet.

Der Antragsteller ist auch nicht derart in Deutschland verwurzelt, dass ihm als "faktischem Inländer" ein Abschiebungshindernis gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK zur Seite steht. Angesichts seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet, der fast sein gesamtes Leben umfasst, kann von einer Entfremdung vom Herkunftsstaat ausgegangen werden. Eine solche Entfremdung vom Heimatland im Verlauf eines langjährigen Aufenthalts im Gastland eröffnet für sich allein aber noch nicht den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz faktischer Inländer (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.03.2020, 11 S 2293/18, Rn. 31, juris). Auch der Umstand, dass ein Ausländer im Bundesgebiet geboren oder hier aufgewachsen ist, reicht hierzu nicht aus (VGH Baden-Württemberg, a.a.O.). Hinzukommen muss vielmehr, dass der Ausländer im Bundesgebiet ein Leben führt, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen so geprägt ist und er faktisch so stark in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden kann (VGH Baden-Württemberg, a.a.O. mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 16.07.2002, 1 C 8.02, Rn. 23, juris). Der besondere verfassungs- und völkerrechtliche Schutz faktischer Inländer setzt damit voraus, dass sich der Ausländer in Deutschland nachhaltig integriert hat (VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).

Der Antragsteller hat sich nicht nachhaltig in die hiesigen Verhältnisse integriert. Er hat es zwar ausweislich der vorgelegten Schulzeugnisse trotz erheblicher Schwierigkeiten geschafft, sich die deutsche Sprache in Wort und Schrift anzueignen, allerdings konnte er keinen Schulabschluss erreichen. Nach den Angaben in den vorgelegten Zeugnissen spricht der Antragsteller mit seiner Familie Albanisch, was ihm den Erwerb der deutschen Sprache erheblich erschwert hat. Eine wirtschaftliche Integration ist ihm nicht gelungen. Er war, soweit ersichtlich, lediglich in der Zeit vom September 2023 bis März 2024 befristet beschäftigt. Sonstige Integrationsleistungen, etwa durch die Mitgliedschaft in Vereinen oder ähnliches, sind nicht vorgetragen worden. Stattdessen ist er dreimal strafrechtlich verurteilt worden: Am 26.05.2020 zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen wegen Sachbeschädigung, am 30.05.2021 zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen wegen Unterschlagung und am 21.04.2023 zu 50 Tagessätzen wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln und einer Waffe (Schlagring). Dies zeigt, dass er die hiesigen Normen nicht zu akzeptieren bereit ist.

Der Antragsteller kann sich auch nicht auf einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis berufen. Eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG darf ihm gemäß § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erteilt werden, weil er bereits am 30.05.2021 zu einer Geldstrafe von mehr als 70 Tagessätzen verurteilt wurde; ausweislich des Strafbefehls beging der Antragsteller die Unterschlagung auch vorsätzlich.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG scheitert an der überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts, § 25b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG. Der Antragsteller hat nur vorgetragen, von September 2023 bis März 2024 einer befristeten Beschäftigung nachgegangen zu sein. Er hat allerdings ausweislich der im Eilverfahren vorgelegten Unterlagen bereits im Juni 2017 sein Abgangszeugnis erhalten. Angesichts der langen Zeitspanne, die der Antragsteller weder gearbeitet hat, noch eine Ausbildung absolvierte, ist eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung in Zukunft nicht zu erwarten.

Soweit der Antragsteller geltend macht, einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 S. 1 AufenthG zu haben, weil seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich sei, wird auf die Ausführungen zu § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG verwiesen.

Der hilfsweise gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO ist bereits unzulässig. Die beim Verwaltungsgericht Stade am 09.10.2023 erhobene Klage gegen den Bescheid vom 08.09.2023, mit dem der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ablehnte, entfaltete keine Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG, an die ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO anknüpfen könnte.

Für die weiteren Anträge, zur Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes die laufende Abschiebung abzubrechen besteht kein Raum. Über den Antrag des Antragstellers konnte noch vor seinem Abflug entschieden werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.