Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 26.06.2024, Az.: 1 B 896/24

Alternativen; Ausnahmegenehmigung; Tötung; Wolf; Artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung zur letalen Entnahme eines Wolfes

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
26.06.2024
Aktenzeichen
1 B 896/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 22423
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2024:0626.1B896.24.00

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 06. Juni 2024 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 15.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller wendet sich gegen eine von dem Antragsgegner erlassene Ausnahmegenehmigung zur Tötung eines Wolfes. Sein Antrag ist nach seinem wohlverstandenen Interesse dahingehend auszulegen, dass er vorläufigen Rechtsschutz gegen die Bescheide vom 6. Juni 2024 begehrt, denn an diesem Tag ist nach der Angabe des Antragsgegners die Verfügung sechs namentlich nicht bekannten Jägern gegenüber bekannt gegeben und wirksam geworden. Bei der vom 30. Mai 2024 datierenden inhaltsgleichen Version handelt es sich nach der Angabe des Antragsgegners um eine auf der Internetseite veröffentlichte Vorabversion der Genehmigung. Der Antragsgegner hat in diesen Bescheiden vom 6. Juni 2024 eine Ausnahmegenehmigung für die Entnahme eines Wolfes in der Gemeinde G. unter Anordnung der sofortigen Vollziehung erteilt. Der Antragsteller hat gegen die Bescheide vom 6. Juni 2024 am selben Tag Widerspruch eingelegt.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers ist zulässig und begründet.

Der Antragsteller ist insbesondere antragsbefugt. Die Antragsbefugnis des Antragstellers ergibt sich hier aus § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 Umweltrechtsbehelfsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. August 2017 (BGBl. I S. 3290), zuletzt geändert durch Art. 14b G zur Anpassung des Energiewirtschaftsrechts an unionsrechtliche Vorgaben und zur Änd. weiterer energierechtlicher Vorschriften vom 22.12.2023 (BGBl. 2023 I Nr. 405) - UmwRG -. Danach kann eine nach § 3 UmwRG anerkannte inländische oder ausländische Vereinigung, ohne eine Verletzung von eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 oder deren Unterlassen einlegen, wenn die Vereinigung geltend macht, dass eine Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften, die für die Entscheidung von Bedeutung sein können, widerspricht und geltend macht, in ihrem satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes durch die Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 oder deren Unterlassen berührt zu sein. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Antragsteller ist eine nach § 3 UmwRG anerkannte inländische Vereinigung. Dies ergibt sich aus den Anerkennungsbescheiden des Umweltbundesamtes vom 25. Januar 2018 und vom 19. Juli 2023. Bei dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs handelt es sich um einen Rechtsbehelf nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), nämlich nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO. Der Rechtsbehelf des Antragstellers richtet sich auch gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 S. 1 UmwRG, vorliegend § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 UmwRG. Danach zählen zu den nach dem UmwRG angreifbaren Entscheidungen Verwaltungsakte oder öffentlich-rechtliche Verträge, durch die andere als in den Nummern 1 bis 2 b genannte Vorhaben unter Anwendung umweltbezogener Rechtsvorschriften des Bundesrechts, des Landesrechts oder unmittelbar geltender Rechtsakte der Europäischen Union zugelassen werden. Zu den Verwaltungsakten, durch die Vorhaben unter Anwendung umweltbezogener Vorschriften des Bundesrechts zugelassen werden, zählt auch die hier streitige Ausnahmegenehmigung von dem Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG), das auch für die streng geschützte Art des Wolfs gilt. Bei dieser Ausnahmegenehmigung handelt es sich um eine Zulassungsentscheidung, auf die umweltbezogene Rechtsvorschriften anzuwenden sind. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG ist als weiter Auffangtatbestand zu verstehen. Der Vorhabensbegriff der Norm umfasst entsprechend sämtliche Zulassungsentscheidungen, auf die umweltbezogene Rechtsvorschriften anzuwenden sind und die nicht bereits von den Nrn. 1 bis 2b der Regelung erfasst sind (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 26. Juni 2020 - 4 ME 116/20 -, juris, Rn. 13 f. m.w.N.). Dies ist hier der Fall, denn der Antragsgegner hat mit der Ausnahmegenehmigung eine Zulassungsentscheidung nach § 45 Abs. 7 Nr. 4 BNatSchG getroffen. Bei der hier in Streit stehenden Ausnahmegenehmigung von dem Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG handelt es sich unzweifelhaft um eine Zulassungsentscheidung, auf die umweltbezogene Rechtsvorschriften anzuwenden sind (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 26. Juni 2020 - 4 ME 116/20 -, juris, Rn. 14 m.w.N.). Der Antragsteller macht schließlich auch geltend, dass eine Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 Rechtsvorschriften, die für die Entscheidung von Bedeutung sein können, widerspricht und in seinem satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes durch die Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 berührt zu sein. Er macht geltend, dass die angegriffene Ausnahmegenehmigung rechtswidrig ist, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 4 und Satz 2 BNatSchG nicht vorlägen. Zudem berührt die angegriffene Entscheidung auch den satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes des Antragstellers. Vereinszweck ist nach § 2 der Vereinssatzung des Antragstellers der Schutz der Wölfe in Deutschland. Die angegriffene Entscheidung berührt diesen Zweck, denn der Antragsgegner erteilt in dieser gerade eine Ausnahme von dem Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG und erteilt eine Genehmigung für die zielgerichtete letale Entnahme eines Wolfes.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist das Umweltrechtsbehelfsgesetz hier auch neben dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) anwendbar (vgl. i.E.: Nds. OVG, Beschluss vom 26. Juni 2020 - 4 ME 116/20 -, juris, Rn. 11 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24). Ein Vorrang der naturschutzrechtlichen Verbandsklage besteht entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht, vielmehr sind beide Gesetze gleichrangig nebeneinander anwendbar (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 4. Juni 2009 - 1 A 7/09 -, juris, Rn. 71; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 23. Juni 2009 - 8 A 08.40001 -, juris, Rn. 53; Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 19. August 2015 - 3 M 64/14 -, juris; Schlacke, in: Schlacke, GK-BNatSchG, 3. Aufl. 2024, § 64 Rn. 92; Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht, 145. Aktualisierung Juni 2019, § 64 BNatSchG Rn. 45; Kment in Beckmann/Kment, UmwRG, 6. Aufl. 2023, § 2 Rn. 1; Kleve, in: BeckOK UmweltR, 70. Ed. 1.7.2020, BNatSchG, § 64 Rn. 30, jeweils m.w.N.).

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist allerdings formal nicht zu beanstanden. Die nicht bloß formelhafte Begründung in dem angegriffenen Bescheid genügt noch den in § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO normierten Anforderungen. Der Antragsgegner ist unter Berücksichtigung und Abwägung der im konkreten Fall betroffenen Interessen zu dem näher begründeten Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Vollzugsinteresse als vorrangig anzusehen ist.

Dennoch ist vorliegend die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 6. Juni 2024 wiederherzustellen.

In materiell-rechtlicher Hinsicht erfordert die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten des Antragstellers aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass sein Rechtsbehelf offensichtlich keinen Erfolg haben wird. Dagegen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist. Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der in dem Aussetzungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung jedoch offen, kommt es auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2022 - 4 ME 231/21 -, juris, Rn. 4 m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn die Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 6. Juni 2024 ist voraussichtlich rechtswidrig. Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass eine Klage voraussichtlich Erfolg haben würde, da die Erteilung der Ausnahmegenehmigung aller Voraussicht nach zu Unrecht erfolgt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Ob die Ausnahmegenehmigung, wie der Antragsteller meint, formell rechtswidrig ist, weil es sich bei dieser entgegen ihrer Bezeichnung mangels Antrags durch die Adressaten um eine Allgemeinverfügung handelt und der Antragsteller gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 4b BNatSchG zu beteiligen gewesen wäre, kann hier dahinstehen.

Der angegriffene Bescheid ist jedenfalls materiell rechtswidrig.

Der Antragsgegner hat die Ausnahmegenehmigung auf § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 BNatSchG gestützt, mit dem Art. 16 Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen - FHH-Richtlinie - in deutsches Recht umgesetzt worden ist. Bei Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie handelt es sich um eine Ausnahmeregelung zu den artenschutzrechtlichen Zugriffsverboten des Art. 12 FFH-Richtlinie (im deutschen Recht umgesetzt in § 44 BNatSchG), die eng auszulegen ist und bei der die Beweislast für das Vorliegen der für jede Abweichung erforderlichen Voraussetzungen diejenige Stelle der öffentlichen Verwaltung trifft, die darüber entscheidet (EuGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 - C-674/17 -, juris Rn. 30). Besteht über einzelne der in Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie geregelten Voraussetzungen für eine Ausnahmeregelung nicht ohne weiteres in tatsächlicher Hinsicht Gewissheit, so hat die zuständige Behörde unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse sowie der Umstände des konkreten Falls zu begründen und nachzuweisen, dass sie gegeben sind (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24 -, juris Rn. 21 m.w.N., vgl. auch Leitfaden der Kommission zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie, Ziffer 3.2.2, S. 72 ff.). In diesem Konzept der FFH-Richtlinie zur Begründungs- und Nachweispflicht liegt eine unionsrechtliche artenschutzrechtliche Spezialregelung im Hinblick auf die Bedeutung sowohl der behördlichen Amtsermittlungspflicht im Verwaltungsverfahren als auch der Pflicht zur Begründung des Verwaltungsakts mit vorentscheidender Bedeutung auch für das verwaltungsgerichtliche Prüfprogramm und den daraus folgenden Gegenstand und die Reichweite der verwaltungsgerichtlichen Amtsermittlung (Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24 -, juris Rn. 22).

Im vorliegenden Fall ist bereits zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 BNatSchG vorliegen. Nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 BNatSchG können die für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörden von den Verboten des § 44 BNatSchG im Einzelfall Ausnahmen zulassen im Interesse der Gesundheit des Menschen, der öffentlichen Sicherheit, einschließlich der Verteidigung und des Schutzes der Zivilbevölkerung, oder der maßgeblich günstigen Auswirkungen auf die Umwelt. Es erscheint hier höchst fraglich, ob die von dem Antragsgegner dargelegte mittelbare und zeitlich noch nicht konkret absehbare Auswirkung der zukünftig möglichen Schafsrisse des betreffenden Wolfes auf die geschützten Rechtsgüter, insbesondere die Wehrfähigkeit und Sicherheit der Deiche und den Hochwasser- und Sturmflutschutz, für die Annahme der Tatbestandsvoraussetzungen ausreicht. Dass es sich darüber hinaus bei dem streitgegenständlichen Wolf tatsächlich um einen problematischen Wolf handelt, bei dem Übergriffe auf Menschen zu befürchten sind, hat der Antragsgegner zwar impliziert, aber nicht näher dargelegt. Insbesondere erschöpft sich die Darlegung des erwähnten Verlusts der Menschenscheu in dessen bloßer Behauptung. Dass der streitgegenständlich Wolf sich tatsächlich auf dem Ponyhof oder Obsthöfen Menschen genähert hätte, ergibt sich aus den Ausführungen des Antragsgegners nicht.

Diese Fragen müssen hier jedoch nicht entschieden werden. Jedenfalls erweist sich die in Streit stehende Ausnahmegenehmigung bei summarischer Prüfung deshalb als rechtswidrig, weil gemäß § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG eine Ausnahme vom strengen Artenschutz nur zugelassen werden darf, wenn zumutbare Alternativen nicht gegeben sind. Auch insoweit gilt die oben dargestellte Nachweispflicht der Behörden, der der Antragsgegner nicht nachgekommen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 - C-674/17 - juris Rn. 45 zu Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie).

Die Schadensprognose des Antragsgegners beruht auf zwei Rissereignissen innerhalb derselben Deichschafsherde, aber auf unterschiedlichen, nicht näher konkretisierten Deichabschnitten (1. Rissereignis am 9. März 2024 in der Gemeinde H.; 2. Rissereignis am 24. April 2024 in der Gemeinde I.).

Der Antragsgegner hat weder ausreichend dargelegt, noch nachgewiesen, dass es zu der genehmigten Ausnahme vom strengen Artenschutz keine zumutbaren Alternativen gibt. Im vorliegenden Fall stellt sich insbesondere die Frage, weshalb eine solche Alternative nicht darin bestehen kann, einen ausreichenden Herdenschutz herzustellen.

Es ist weder ersichtlich, dass bei den genannten Rissereignissen ein derartiger Herdenschutz gegeben war, noch hat der Antragsgegner hinreichend dargelegt und nachgewiesen, dass künftig weitere Herdenschutzmaßnahmen als zumutbare Alternative im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG ausscheiden.

Als Mindestanforderung für die sog. Alternativenprüfung nach der genannten Vorschrift ist jedenfalls zu verlangen, dass sich die Behörde nachvollziehbar an den Vorgaben orientiert, die sich hierzu in dem von der Umweltministerkonferenz im Oktober 2021 beschlossenen Praxisleitfaden zur Erteilung artenschutzrechtlicher Ausnahmen nach §§ 45 und 45 a BNatSchG beim Wolf, insbesondere bei Nutztierrissen (im Folgenden: Praxisleitfaden Wolf) orientiert (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24 -, juris Rn. 25).

Dort heißt es zur Alternativenprüfung bei Schafen und Ziegen (Praxisleitfaden Wolf, S. 25 f.):

"3.2.4. Schafe und Ziegen (auch Lamas, Alpakas)

Mobile Zaunanlagen

Schafe und Ziegen sind die in Deutschland mit Abstand am häufigsten durch Wölfe getöteten Nutztiere. BfN und DBBW empfehlen daher derzeit einen Schutz dieser Weidetiere durch Elektrozäune mit u.a. den nachfolgenden Anforderungen:

- mind. 120 cm Höhe, straff gespannt und bodenbündiger Abschluss (Netzzaun) bzw. unterster Draht/Litze bei max. 20 cm;

- niedrigere Netzzäune (? 90 cm) können durch eine zusätzliche oder integrierte Breitbandlitze auf 120 cm Höhe aufgestockt werden; alternativ können sie auch in Kombination mit Herdenschutzhunden (siehe Einsatz von Herdenschutzhunden zur Weidetiersicherung) eingesetzt werden.

- Draht-/Litzenzäune sollten aus mind. fünf Drähten/Litzen bestehen (Abstand vom Boden 20, 40, 60, 90, 120 cm).

Sofern dies im Einzelfall sinnvoll und zumutbar ist, kann es neben den Empfehlungen von DBBW und BfN sinnvoll sein, zusätzlich einfache optische (zum Beispiel Flatterband) und akustische (zum Beispiel Glöckchen) Abschreckungsmaßnahmen durchzuführen. Optische und akustische Abschreckungsmaßnahmen wirken aufgrund von Gewöhnungseffekten jedoch nur kurzfristig.

Einsatz von Herdenschutzhunden zur Weidetiersicherung

Eine weitere Möglichkeit zur Abwendung von Wolfsübergriffen auf Weidetiere ist die Kombination des Einsatzes von Elektrozäunen und von Herdenschutzhunden. Insbesondere bei der Verwendung von Elektronetzen bzw. Litzenzäunen von weniger als der von den Ländern jeweils empfohlenen Höhe hat sich der zusätzliche Einsatz von Herdenschutzhunden bewährt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht jede Hunderasse und nicht jeder Hund für den Einsatz geeignet ist und Hunde und Halter*in einer umfangreichen Ausbildung bedürfen.

Angesichts des hohen Grads an Freizeitnutzung der Landschaft (u.a. Spaziergänger*innen, Jogger*innen, Mountainbiker*innen) und des hohen Anteils an Bissvorfällen durch Hunde in Deutschland kommen als Herdenschutzhunde i.d.R. keine Hunderassen in Betracht, die nach den einschlägigen Verordnungen in den einzelnen Bundesländern als Kampfhunde oder gefährliche Hunde gelten. Darüber hinaus sollten daher für einen wirksamen Einsatz von Herdenschutzhunden - unabhängig von der verwendeten Rasse - nach Möglichkeit nur geeignete, speziell ausgebildete und geprüfte bzw. zertifizierte Herdenschutzhunde ohne unangemessene Aggression gegenüber Menschen eingesetzt werden. Die Verwendungsprüfung sollte auf der Grundlage definierter Prüfkriterien oder definierter Zertifizierungen der Länder erfolgen. Hierfür ist langfristig eine Standardisierung auf Bundesebene anzustreben. Ob Herdenschutzhunde eine anderweitige zufriedenstellende Lösung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie und somit eine zumutbare Alternative im Sinne der nationalen Regelung des § 45 Abs. 7 S. 2 BNatSchG darstellen, ist im Einzelfall zu prüfen.

Nachtpferche, Behirtung

Im Einzelfall kann auch das tägliche Verbringen der Herde in Nachtpferche, Ställe sowie eine Behirtung eine Lösung sein, deren Zumutbarkeit zu prüfen ist.

Festzaunanlagen

Eine weitere Möglichkeit zur Abwendung von Wolfsübergriffen sind ausreichend hohe Festzäune mit Untergrabungs- und Überkletterschutz.

Beispielsweise in E.enburg bewährt haben sich 140 cm hohe Drahtgeflechtzäune mit Untergrabungsschutz und zusätzlicher Elektrolitze am oberen Zaunrand (ab Bodenoberfläche insgesamt 160 cm hoch). Als Untergrabungsschutz werden zwei stromführende Drahtlitzen (Bodenabstand 20 und 40 Cm, Mindestspannung 2.500 V) mittels Abstandsisolatoren außen am Zaun angebracht. Alternativ kann als Untergrabungsschutz bei neuen Zäunen entweder ein ausreichend (mindestens 60 - 100 cm breiter Teil des Drahtgeflechtzauns außen vor dem Zaun flach ausgelegt und mit Erdankern am Boden fixiert oder der Zaun ausreichend (mindestens 30 besser 50 cm) tief eingegraben werden. Bei bestehenden Zäunen kann alternativ ein mindestens 100 cm breiter Drahtgeflechtstreifen außen vor dem Zaun flach ausgelegt, mit Bindedraht mit dem bestehenden Zaun fest verbunden und mit Erdankern am Boden fixiert werden. Dies betrifft den Neubau und die Umrüstung bestehender Zaunanlagen, derzeit besonders relevant bei der Errichtung von Freiflächenfotovoltaikanlagen, die vielfach an Schäfer*innen verpachtet werden.

Da es mit elektrischen Zäunen gute und einfachere Alternativen gibt, kommen Festzäune als zumutbare Alternative außer bei Gehegewild (s. C 3.2.4.2) i.d.R. jedoch nur im Rahmen der Umrüstung bereits bestehenden Festzaunanlagen in Betracht. Festzaunanlagen sind zudem aus Sicht der gewünschten Offenhaltung der Landschaft für Wildtiere grundsätzlich problematisch."

Zu Herdenschutzmaßnahmen an Deichen heißt es auf Seite 28 des Praxisleitfadens Wolf:

"Hinweise zu Herdenschutzmaßnahmen an Deichen

Was eine wolfsabweisende Zäunung anbelangt, kann der empfohlene Schutz (s. C 3.2.3) in besonderen Fällen, z.B. bei topographischen Besonderheiten wie etwa Deiche oder hoher Windlast, nicht mit zumutbarem Aufwand umsetzbar sein bzw. nur unzureichende Wirkung entfalten. Die Umsetzung von zumutbaren Herdenschutzmaßnahmen bleibt auch bei Binnen- und Küstendeichen die Voraussetzung jeder Ausnahmegenehmigung. Vor jeder Ausnahmegenehmigung zur Entnahme eines Wolfs im Bereich von Deichen und Verwallungen ist daher zu prüfen, ob die Durchführung von Herdenschutzmaßnahmen (u.a. stromführende Wolfsschutzzäune und/oder Herdenschutzhunde, Änderungen im Herdenmanagement) im Einzelfall eine zumutbare Alternative im Sinne von § 45 Abs. 7 S. 2 BNatSchG bzw. eine "anderweitige zufriedenstellende Lösung" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie ist."

Hinter diesen fachlichen Anforderungen bleibt die Begründung des Bescheides ersichtlich zurück. Die gemäß dem Praxisleitfaden Wolf erforderliche Einzelfallprüfung hat insbesondere die örtlichen topografischen und landschaftlichen Gegebenheiten, die dort anzutreffenden Besonderheiten sowie die spezifischen Haltungs- und Herdenmanagementkonzepte zu berücksichtigen (vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24 -, juris Rn. 30). Dies leistet weder die Begründung des Bescheides in hinreichend konkretem Umfang, noch ergibt sich die geforderte Begründungstiefe aus der Antragserwiderung. Der Antragsgegner zitiert zwar aus den Vorgaben des Praxisleitfadens Wolf. Er beschränkt sich jedoch im Übrigen auf pauschale Erwägungen, warum ein diesen Vorgaben genügender Herdenschutz nicht möglich oder zumutbar sei, ohne die konkreten Gegebenheiten der in Frage stehenden Deiche und den aktuell bestehenden Herdenschutz konkret zu benennen und sich mit den Anforderungen in Bezug auf die betroffenen Deiche konkret auseinanderzusetzen. Der Antragsgegner hat weder erwähnt, auf welchen Deichabschnitten genau die Wolfsrisse stattgefunden haben, noch hat er die topografischen und landschaftlichen Gegebenheiten an dem jeweiligen Deichabschnitt dargelegt. Er macht noch nicht einmal deutlich, ob es sich bei den hier bei den Rissereignissen vorhandenen Zäunen um Festzäune oder mobile Zäune handelt und ob es sich um einen Netz- oder einen Draht- bzw. Litzenzaun handelt, bei dem die Anzahl und der Abstand der erforderlichen Drähte des Zauns eingehalten wurde.

Die Zäune genügen den Herdenschutzvorgaben des Praxisleitfadens Wolf mangels ausreichender Höhe und vollständiger Umzäunung auch an der Wasserseite eindeutig nicht. Die Zäune waren in beiden Fällen maximal 105 cm hoch, d.h. mindestens 15 cm niedriger, als die im Praxisleitfaden Wolf vorgegebene Mindesthöhe. Die Frage, warum im konkreten Fall als weitere Herdenschutzmaßnahme eine Erhöhung der Zäune nicht möglich und zumutbar ist, verneint der Antragsgegner pauschal mit den optischen Auswirkungen in dem FFH-Gebiet "J." und vermuteten Vergrämungseffekten für dort brütende Entenarten. Mit wissenschaftlichen Nachweisen ist diese Behauptung nicht untermauert. Insbesondere erschließt sich nicht, inwiefern eine optische Verschlechterung aufgrund der Zaunerhöhung diese Alternative zum Wolfsabschuss unzumutbar machen soll. Der Antragsgegner hat hier gerade nicht unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse sowie der Umstände des konkreten Falls begründet und nachgewiesen, dass die Zaunerhöhung keine zumutbare Alternative darstellt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24 -, juris Rn. 21 m.w.N.).

Der Antragsgegner hat auch nicht überzeugend und insbesondere nicht unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse sowie der Umstände des konkreten Falls begründet und nachgewiesen, warum ein wasserseitiger Zaun nicht möglich oder zumutbar sein sollte. Mangels konkreter Lagebezeichnung und Beschreibung der Weideflächen bleibt unklar, wie die genauen Gegebenheiten am Deich sind und insbesondere wie die Wasserseite des Deiches genau beschaffen ist, so dass sich bereits aus diesem Grund nicht nachvollziehen lässt, warum im konkreten Fall ein wasserseitiger Zaun technisch nicht umsetzbar oder nicht zumutbar sein soll. Der Antragsgegner begründet dabei nicht, weshalb ein mobiler Zaun nicht möglich sein sollte. Er beschränkt sich auf Darlegungen zu einem Festzaun und führt hierzu aus, dass ein wasserseitiger Festzaun unter hochwasserschutzrechtlichen Aspekten erheblichen Bedenken begegnen würde. Das Gewässerbett und das Ufer müssten zum ordnungsgemäßen Wasserabfluss gewährleistet und überwacht werden. Ein wasserseitiger am Böschungsende befindlicher fester Zaun oder Zaunpfähle wären, insbesondere, wenn sich Treibgut verfinge, ein Abflusshindernis und Treibgut könne eine Gefahr darstellen, wenn es sich ansammle und mitgerissen werde. Auch schränkten elektrifizierte Festzäune die Nutzung der vielfach ausgewiesenen Wanderwege mangels Durchlässigkeit ein. In diesem Zusammenhang verweist die Kammer auf den Bericht "Herdenschutz am Deich in der Praxis - Betriebe im Porträt: Erfahrungen und Empfehlungen für den Herdenschutz auf Sonderstandorten", BfN-Schriften 680/2024, S. 45 ff. Für die dort beschriebene Schafshaltung am Deich ist ein wolfsabweisender Elektrofestzaun gemäß den Empfehlungen des Bundesamtes für Naturschutz 2019 von allen Seiten, d.h. auch wasserseitig, gebaut worden. Als Halterungsisolatoren werden Pin-Isolatoren genutzt, so dass die Drähte im Fall einer drohenden Sturmflut herausgenommen werden können. Die Fläche dort ist über fest verbaute Tore am Fuß des Deiches befahrbar und über kleine Tore für Fußgänger zugänglich, die jeweils wiederum wolfsabweisend gebaut sind. Aus den pauschalen Erwägungen der Bescheidbegründung erschließt sich nicht, warum ein solcher Herdenschutz im konkreten Fall technisch nicht umsetzbar und in Bezug auf den erforderlichen Aufwand nicht zumutbar sein soll.

Auf die Frage, warum im konkreten Fall als weitere Herdenschutzmaßnahme eine Behirtung oder Verbringung in einen Nachtpferch nicht in Frage kommen soll, geht der Antragsgegner gar nicht ein, sondern argumentiert lediglich pauschal, derartige Maßnahmen müssten landesweit umgesetzt werden, um weitere Rissereignisse zu verhindern, was die Grenze des Zumutbaren überschreite (vgl. Bescheide, Seite 7). Diese Argumentation bezieht sich nicht wie erforderlich auf den hier konkret vorliegenden Einzelfall. Dass derartige Herdenschutzmaßnahmen die Grenze des zumutbaren überschreiten, entspricht auch nicht der aktuellen Rechtsprechung des Niedersächsischen OVG (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12. April 2024 - 4 ME 73/24 -, juris Rn. 35).

Auch die Begründung in dem Bescheid, warum der Einsatz von Herdenschutzhunden für Schafherden am Deich keine zumutbare Alternative zum Abschuss des Wolfes darstellt, entbehrt einen Bezug zum konkreten Fall. Bezüglich des erfolgreichen und auch zumutbaren Einsatzes von Herdenschutzhunden am Deich verweist die Kammer auf den Bericht "Herdenschutz am Deich in der Praxis - Betriebe im Porträt: Erfahrungen und Empfehlungen für den Herdenschutz auf Sonderstandorten", BfN-Schriften 680/2024. In den dort beschriebenen Schafshaltungen werden mehrfach mit gutem Erfolg Herdenschutzhunde am Deich eingesetzt. Ohne Bezug zum konkreten Einzelfall ist nicht nachvollziehbar, warum der Einsatz von Herdenschutzhunden vorliegend keine zumutbare Alternative ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.2 und 1.5 S. 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31.05./01.06.2012 und am 18.07.2013 beschlossenen Änderungen (NordÖR 2014, 11). Das Gericht hält eine Orientierung an der unteren Grenze des regelmäßig anzunehmenden Streitwertes bei Verbandsklagen für angemessen, denn der zu entscheidende Einzelfall betrifft nur die Entnahme eines einzelnen Tieres und ist damit in seinen Auswirkungen begrenzt. Eine Halbierung des Streitwertes ist nicht vorzunehmen, da die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Hauptsache vorwegnimmt (vgl. Nds. OVG, Beschluss v. 26. Juni 2020, 4 ME 97/20, juris Rn. 49).