Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 10.08.2006, Az.: L 8 SO 69/06 ER

Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer Bewilligung von Grundsicherungsleistungen an einen Behinderten aufgrund Inhaftierung; Anforderungen an die Begründung der sofortigen Vollziehung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
10.08.2006
Aktenzeichen
L 8 SO 69/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 26036
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0810.L8SO69.06ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 26.06.2006 - AZ: S 19 SO 69/06 ER

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 26. Juni 2006 aufgehoben. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid des Antragsgegners vom 14. Juni 2006 wird aufgehoben. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers dieses Rechtsstreits zu erstatten. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

Der im Juli 1953 geborene Antragsteller ist verheiratet. Er besitzt einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Merkzeichen "G". er bezieht von der LVA C. eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, zurzeit in monatlicher Höhe von 338,91 EUR. Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller Leistungen gemäß § 41 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung , zuletzt mit Bescheid vom 25. November 2005 für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2006 in monatlicher Höhe von 266,86 EUR. Nachdem der Antragsgegner davon erfuhr, dass der Antragsteller seit dem 15. November 2004 in Strafhaft in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) einsitzt, stellte er die Sozialhilfezahlungen vorläufig ab April 2006 ein und erließ einen Aufhebungs- und Leistungsbescheid vom 14. Juni 2006, mit dem die Bewilligung der Grundsicherungsleistungen für die Zeit ab 1. Mai 2005 bis 31. Dezember 2006 aufgehoben wurde. Wegen der Strafhaft benötige der Antragsteller keine Grundsicherungsleistungen. Weiterhin wurde ein Erstattungsbetrag von 3.059,49 EUR gefordert. Hinsichtlich der Rücknahme der Bewilligung ordnete der Antragsgegner für die Zeit ab 1. April 2006 im besonderen öffentlichen Interesse die sofortige Vollziehbarkeit gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG an. Dies liege im fiskalischen Interesse der Allgemeinheit an der sparsamen Verwendung von Geldern. Der Antragsteller hat am 7. Juli 2006 gegen den Bescheid vom 14. Juni 2006 Widerspruch eingelegt und zur Begründung ausgeführt, dass er bei der Antragstellung in Begleitung seiner Ehefrau und seines Sohnes seine Ladung zum Straf-/ Haftantritt vorgelegt habe. Ihm sei bedeutet worden, dass der Haftantritt für die Leistung nicht von Belang sei. Der Widerspruch ist bislang nicht beschieden.

2

Der Antragsteller hatte bereits am 9. Mai 2006 beim Verwaltungsgericht D. um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht, mit welchem er die Weiterzahlung der Grundsicherungsleistungen erreichen wollte. Nach Verweisung dieses Rechtstreits an das SG Stade mit Beschluss vom 19. Mai 2006 hat das SG den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 26. Juni 2006 abgelehnt. Der vorläufige Rechtsschutz richte sich nach § 86b Abs. 2 SGG. Den dafür erforderlichen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Dagegen richtet sich die rechtzeitig eingelegte Beschwerde des Antragstellers, der vom SG nicht abgeholfen worden ist.

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Der vom Antragsteller begehrte vorläufige Rechtsschutz richtet sich nicht nach § 86b Abs. 2 SGG , sondern nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, also auch in einem Fall des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG, wie er hier nach Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid vom 14. Juni 2006 vorliegt. Der vom SG angewandte vorläufige Rechtsschutz nach § 86b Abs. 2 SGG wäre zutreffend gewesen, wenn der Antragsgegner es bei der vorläufigen Zahlungseinstellung belassen hätte, die allerdings - ohne Aufhebung der Bewilligung - rechtswidrig war.

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Der Bewilligungsbescheid vom 25. November 2005 ist Rechtsgrund für die Zahlung der Grundsicherungsleistungen nach § 41 SGB XII. Dieser Bewilligungsbescheid bleibt gemäß § 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Bereits daraus ergibt sich, dass die "vorläufige Zahlungseinstellung" mit Wirkung ab April 2006 rechtswidrig war. Eine derartige vorläufige Zahlungseinstellung sieht weder das SGB X noch das SGB XII vor. Sie ist möglich im Rechtsgebiet des Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), weil § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf die in § 331 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) geregelte vorläufige Zahlungseinstellung verweist. Eine entsprechende Regelung fehlt im SGB XII.

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Zwar hat der Antragsgegner durch den Bescheid vom 14. Juni 2006 die Bewilligung der Grundsicherungsleistungen zurückgenommen, sodass dadurch die Wirksamkeit des Bewilligungsbescheides vom 25. November 2005 beseitigt werden kann. Allerdings hat der Antragsteller gegen den Rücknahmebescheid vom 14. Juni 2006 Widerspruch eingelegt, wodurch gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG die aufschiebende Wirkung eingetreten ist, sodass die Wirksamkeit des Bewilligungsbescheides vom 25. November 2005 vorerst weiter besteht. Denn das SGB XII enthält keine Vorschrift wie den § 39 SGB II, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung haben. Dieser im SGB II geregelte gesetzliche Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gilt nur für diesen Rechtsbereich, im SGB XII findet er keine Entsprechung (vgl Senatsbeschluss vom 23. Dezember 2005 - L 8 SO 39/05 ER ).

6

Demgemäß hat der Antragsgegner im Bescheid vom 14. Juni 2006 hinsichtlich der Rücknahme der Leistungsbewilligung die sofortige Vollziehung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG angeordnet. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung - hier des Widerspruchs- in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.

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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG hat Wirkung nur für die Zukunft. Diese rechtliche Wirkung der Vollziehungsanordnung erst ab ihrem Erlass resultiert aus dem Gebot der effektiven Rechtsschutzgewährung. Würde der Vollziehungsanordnung Rückwirkung beigemessen, wäre die kraft Gesetz eingeräumte aufschiebende Wirkung im Nachhinein unterlaufen (vgl Krodel, Das Sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Seite 73 f Rdnr 156; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2005, Seite 332, Rdnr. 974; Schoch in Schoch/ Schmidt-Assmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung Loseblattkommentar 12. Auflage 2005, § 80 Rdnr 187) ...

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Hieraus wird ersichtlich, dass der Vollziehungsanordnung rechtliche Wirkung frühestens ab dem Zeitpunkt beigemessen werden kann, zu dem der Bescheid vom 14. Juni 2006 mit der Vollziehungsanordnung dem Antragsteller bekannt gegeben wurde. Dies dürfte hier der 17. Juni 2006 sein, weil der Bescheid am 14. Juni 2006 abgesandt wurde und daher die Zugangsregelung des § 37 Abs. 2 SGB X heranzuziehen ist. Danach gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Vermittlung durch die Post im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Soweit sich die Vollziehungsanordnung selbst Wirkung ab 1. April 2006 beigemessen hat, ist dies bereits aus den vorgenannten Gründen rechtswidrig. Denn die Vollziehungsanordnung wirkt erst ab ihrer Bekanntgabe für die Zukunft. Der Antragsgegner durfte daher die Grundsicherungsleistungen für die Monate Januar bis Juni 2006 unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einbehalten.

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Dies gilt auch für die Zukunft, weil die Vollziehungsanordnung wegen nicht ausreichender Begründung aufzuheben ist. Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG in dem Bescheid vom 14. Juni 2006 mit fiskalischen Interessen begründet. Es müsse verhindert werden, dass der Antragsteller weiterhin Grundsicherungsleistungen bis zum Ende des Bewilligungszeitraumes erhalte, da er sich seit dem 15. November 2004 und noch weiterhin in Haft befinde. Der Rückforderungsanspruch wäre nicht realisierbar, weil die Gefahr bestehe, dass die ausgezahlten Beträge im Zeitpunkt der Durchsetzbarkeit des Erstattungsanspruchs verbraucht wären. Es könne deshalb von einem Sozialleistungsträger nicht verlangt werden, Leistungen zunächst auszukehren, um sie alsbald wieder zurückzufordern.

10

Die Begründung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG allein mit derartigen fiskalischen Interessen genügt nicht (vgl dazu Senatsbeschluss vom 19. April 2006 - L 8 SO 49/05 ER -). Denn das öffentliche Interesse an sofortiger Vollziehung ist mehr als das für den Erlass des Verwaltungsaktes erforderliche Interesse. Das allgemeine jedem Gesetz innewohnende öffentliche Interesse am Vollzug des Gesetzes allein genügt für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht. Vielmehr erfordert die Anordnung der sofortigen Vollziehung grundsätzlich ein besonderes Vollzugsinteresse, das über jenes hinausgeht, welches den Verwaltungsakt an sich rechtfertigt (vgl. Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, Kommentar zum SGG, 8. Aufl. 2005, § 86a Rdnr 20; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 14. Auflage 2005, § 80 Rdnr 20 m.w.N.). Fiskalische Interessen könnten allenfalls ausreichen, wenn sie hinreichend gewichtig sind, ein besonderes Interesse zu begründen (vgl LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. August 2003 - L 13 AL 2374/03 ; Meyer-Ladewig, a.a.O. Rdnr 20; Kopp/Schenke a.a.O. Rdnr 99). Der Systematik der Vorschriften § 86a und 86b SGG ist zu entnehmen, dass die aufschiebende Wirkung - wie hier gemäß § 86a Abs. 1 SGG - der Normalfall ist und die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Ausnahme bleiben soll. Daher kann im Regelfall das auf die unverzügliche Realisierung einer Aufhebungsentscheidung gerichtete Begehren das öffentliche Interesse nicht begründen. Denn die - angenommene - Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Verwaltungsaktes - des Bescheides vom 14. Juni 2006 - ist Bedingung für seinen Erlass und kann daher regelmäßig nicht sogleich als Kriterium für die Anordnung der sofortigen Vollziehung herangezogen werden. Sofern die Anordnung der sofortigen Vollziehung einen auf Geld gerichteten Bescheid betrifft, muss der Sozialleistungsträger grundsätzlich darlegen, warum und weshalb das Abwarten auf den Ausgang der Hauptsache unzumutbar ist. Dies ist hier nicht in ausreichendem Maße geschehen.

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Wenn sich die Ansicht des Antragsgegners hinsichtlich der Rücknahme als zutreffend erweisen sollte, stünde für die nach dem oben Dargelegten allein noch streitige Zeit der Zahlung von Juli bis Dezember 2006 ein Betrag von insgesamt 1601,16 EUR zur Debatte (6 Monate mal 266,68 EUR Zahlbetrag). Die Monate bis April bis Juni 2006 können hierbei nicht berücksichtigt werden, weil die Anordnung der sofortigen Vollziehung erst im Monat Juni 2006 erging frühestens ab diesem Zeitpunkt in Zukunft wirkt und daher die Zahlungen April bis Juni 2006 nicht mehr erfasste (siehe das oben Dargelegte). Bei einem derartigen Geldbetrag kann dem Antragsgegner angesonnen werden, diesen ggf. im Wege der Erstattung zurückzuverlangen und ggf. nach § 26 Abs. 2 SGB XII (Aufrechnung) vorzugehen, die auch bei Grundsicherungsleistungen möglich ist (vgl Conradis, Lehr- und Praxiskommentar - SGB XII, 7. Aufl. 2005, § 26 Rdnr 2). Aufgrund des Bezugs der Erwerbsunfähigkeitsrente hat der Antragsgegner weiter die Möglichkeit, den Weg der Verrechnung gemäß § 52 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil (SGB I) einzuschlagen, um wegen der Realisierung des Erstattungsanspruchs auf die Rente des Antragstellers zuzugreifen.

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Da die sofortige Vollziehung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG nicht ausreichend begründet ist, macht der Senat von seiner Befugnis Gebrauch, allein die Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuheben, sieht also davon ab, die aufschiebende Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG anzuordnen. Die Möglichkeit der Aufhebung der Vollziehungsanordnung ist als mindere Maßnahme in dem Begehren enthalten, die aufschiebende Wirkung anzuordnen (vgl hierzu Krodel, a.a.O., Seite 74, Rdnr 157; Schenke, a.a.O., Seite 342 f, Rdnr 1001; Kopp/ Schenke, a.a.O., § 80 Rdnr 87; Binder in Lüdtke, Handkommentar zum SGG, 2. Aufl. 2006, § 86b Rdnr 10). Dementsprechend ist der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verstanden und ausgelegt worden, § 106 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwendung.

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Durch die Aufhebung der Vollziehungsanordnung hat der Widerspruch wieder aufschiebende Wirkung. Die Behörde ist nicht gehindert, die Vollziehungsanordnung mit ausreichender Begründung erneut zu treffen, wobei beachtet werden muss, dass die Vollziehungsanordnung nur für die Zukunft wirkt. Soweit die Ansicht vertreten wird, dass bei Fallgestaltungen der vorliegenden Art nicht die Vollziehungsanordnung aufzuheben, sondern die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist, besteht im Ergebnis kein Unterschied, da auch nach diesen Ansichten die Behörde zur erneuten Vollziehungsanordnung berechtigt sein soll (vgl Binder, a.a.O.; Redeker/von Oertzen, Kommentar zur VwGO, 14. Aufl. 2004, § 80 Rdnr 27 b).

14

Ergebnis dieses Rechtsstreits ist mithin, dass dem Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 14. Juni 2006 weiterhin aufschiebende Wirkung zukommt, sodass die Wirksamkeit des Bewilligungsbescheides vom 25. November 2005 erhalten geblieben ist. Daraus folgt die Zahlungspflicht des Antragsgegners aus diesem Bescheid bis zu einer erneuten ausreichend begründeten Vollziehungsanordnung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG.

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Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 SGG. Da der Antragsteller mit seinem vorläufigen Rechtsschutzbegehren Erfolg hat, weil er die Weiterzahlung der Grundsicherungsleistungen erreicht, trägt der Antragsgegner als Unterlegener die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers dieses Rechtsstreits.

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Gerichtskosten werden in Verfahren dieser Art nicht erhoben.

17

Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.