Amtsgericht Hannover
Beschl. v. 27.09.1999, Az.: 616 F 65021/98

Aufspaltung der elterlichen Sorge in Form der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Tante und des Personensorgerechts auf das Jugendamt im Fall einer stark gestörten Mutter-Kind-Beziehung; Kindeswohlgefährdung im Fall der Nichtgewährleistung des Schulbesuchs durch die Kindesmutter; Sorgerechtsentscheidung auf Probe

Bibliographie

Gericht
AG Hannover
Datum
27.09.1999
Aktenzeichen
616 F 65021/98
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1999, 30717
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGHANNO:1999:0927.616F65021.98.0A

Fundstelle

  • FamRZ 2000, 1241 (amtl. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

Kind ..., derzeitiger Aufenthalt bei seiner Tante ...

In der Familiensache
hat das Amtsgericht Hannover - Familiengericht -
durch
den Richter am Amtsgericht ...,
nach persönlicher Anhörung der Beteiligten
beschlossen:

Tenor:

Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für

... wird auf Dauer

in Abänderung des Beschlusses vom 11.11.1998 des Familiengerichts Hannover (Az.: 665 F 65021/98)

der Tante ... als Ergänzungspfleger sowie das Personensorgerecht im übrigen dem Jugendamt der Stadt Hannover als Vormund übertragen.

Von der Erhebung von Gerichtsgebühren wird abgesehen.

Die außergerichtlichen Kosten trägt jede Partei selbst.

Diese Kostenentscheidung umfaßt auch das frühere einstweilige Anordnungsverfahren.

Der Gegenstandswert wird in Abänderung des Beschlusses vom 11.11.1 und des Beschlusses des OLG Celle vom 26.2.1999 - 10 WF 31/99 auf 5.000,- DM festgesetzt.

Gründe

1

1.

Die Kindesmutter hat vier Kinder. Ihre Töchter befinden sich mit ihrem Einverständnis in einem westfälischen Kinderdorf und ihr Sohn ... war zwischenzeitlich bei ihrer Schwester, .... Er kehrte absprachegemäß zum Ende der Grundschule am 23. Juli zur Kindesmutter zurück. ... befand sich von Oktober 1996 bis April 1998 in einer Außenwohngruppe in Bad Salzdetfurth. Diese Maßnahme mußte eingestellt werden, als sich ... weigerte, hieran weiter mitzuarbeiten.

2

...

3

kehrte dann zu seiner Mutter zurück, die damals noch in Hildesheim wohnte. Aufgrund erhebliche familiärer Konflikte entschloß sie sich, mit ... nach Hannover umzuziehen. Hiermit war ... jedoch nicht einverstanden und hielt immer wieder den Kontakt zu seiner Tante, Frau ..., sowie seiner Großmutter aufrecht. Er besuchte sie häufiger und wohnte bei ihnen auch über längere Zeiträume hinweg. Da sich ... häufiger in Hildesheim aufhielt, hier jedoch nicht gemeldet war, besuchte er von Juli 1998 bis Juli 1999 nicht die Schule, ohne dass die Beteiligten insoweit versucht haben, Abhilfe zu schaffen.

4

Mit ihrem Antrag vom 12. August 1998 begehrte die Kindesmutter von ihrer Schwester ... sowie von ihrer Mutter die Herausgabe von ..., da er gegen ihren Willen am 10. August nach Hildesheim gefahren sei.

5

Die Kindesmutter suchte sodann die Unterstützung des Stadtjugendamts. Hier wurde in einem Gespräch eine Besuchsregelung zwischen ... einerseits und seiner Tante sowie seiner Großmutter andererseits in der Folgezeit verabredet. Diese Regelung wurde jedoch nur kurze Zeit eingehalten, da ... nach der Rückkehr aus dem gemeinsamen Urlaub mit seiner Mutter von seiner Tante an der Autobahnraststätte abgeholt wurde. Es folgten weitere Gespräche mit dem Jugendamt, die jedoch zu keiner Klärung der Situation fuhren konnte. Dies wird seitens des Jugendamtes auf die erheblichen familiären Spannungen und Konflikte zwischen der Kindesmutter auf der einen Seite und der Tante und der Großmutter auf der anderen Seite zurückgeführt (Bl. 13 d.A.).

6

Nach der Anhörung der Beteiligten wurde die Rückkehr von ... zur Kindesmutter sowie eine Kontaktsperre mit der Tante und der Großmutter für die Dauer von 3 Monaten mit Beschluß vom 11.11.1998 angeordnet (Bl. 30 ff. d.A.). Nach diesem Beschluß normalisierte sich die Beziehung zwischen ... und der Kindesmutter vorübergehend. Die Kontaktsperre wurde jedoch nicht vollständig eingehalten, ohne dass insoweit die Gründe genau zu ermitteln sind, so dass es wieder zu Besuchen von ... bei seiner Tante und seiner Großmutter kam. In dieser Zeit erfolgte ein Hilfeplangespräch (Bl. 55 f. d.A.) sowie ein Familienhelfereinsatz (Bl. 58 ff. d.A.), der am 1.12.1998 begann. Bereits weniger Tage nach der gerichtlichen Anhörung nahm ... Kontakt zu seiner Tante auf, die ihn jedoch zur Polizei brachte. Von hieraus wurde er in der Jugendschutzstell. Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor. Diese besteht schon darin, dass der Schulbesuch von ... seit einem Jahr nicht mehr von der Mutter gewährleistet werden kann. Da ... es nachhaltig ablehnt, bei seiner Mutter zu wohnen und er durch Maßnahmen der Familien- oder Jugendhilfe hierzu nicht angehalten oder gar gezwungen werden kann, ist ein Schulbesuch in Hannover nicht sichergestellt. Weiterhin kann die Kindesmutter das Kindeswohl tatsächlich nicht in dem erforderlichen Umfang gewährleisten, weil sie keinen kontinuierlichen Kontakt zu ihrem Sohn hat. ... hielt sich bereits früher über längere Zeit in Hildesheim bei seiner Tante auf. Dies gilt auch für die Zeit seit Januar 1999. Für die Dauer seines Aufenthaltes bei seiner Tante war ... einer Sorge und Überwachung durch seine Mutter faktisch entzogen, zumal sie jeden Kontakt zu ihrer Schwester nachdrücklich ablehnt.

7

Die Beziehung zwischen ... und seiner Mutter ist tief gestört. Eine Betreuung und Versorgung von ... durch seine Mutter kommt zur Zeit in keinem Fall in Betracht. Dies hat die Mutter auch gegenüber dem Jugendamt eingesehen. Die dargestellten Streitigkeiten, die auch zu den Handgreiflichkeiten Ende Januar und der Strafanzeige der Mutter führten, sind das markante, nach außen erkennbare Zeichen für die stark belastete Mutter-Kind-Beziehung. Worauf diese Störung bzw. Belastung zurückzuführen ist, kann und muß nicht geklärt werden. Auch wenn die Kindesmutter in der mündlichen Anhörung glaubhaft und nachvollziehbar schilderte, dass sich die Beziehung zu ihrem Sohn nach dem Beschluß vom 11.11.1998 und der angeordneten Kontaktsperre deutlich verbessert habe, ist nicht zu übersehen, dass ... kurze Zeit später wieder den Kontakt zu seiner Tante in Hildesheim suchte und in der häuslichen Gemeinschaft mit seiner Mutter die beschriebenen Handgreiflichkeiten auftraten. Es ist auch denkbar, dass die Wohnverhältnisse der Kindesmutter derartige Auseinandersetzungen dadurch förderten, dass ... in der Wohnung kein eigenes Zimmer hatte. Die gesamte Entwicklung der familiären Situation zeigt jedoch, dass die Kindesmutter mit der Erziehung und Förderung von ... überfordert ist, ohne dass ihr dies in irgendeiner Form vorzuwerfen wäre. Die Beziehungsstruktur zwischen ..., seiner Mutter, seiner Tante und Großmutter führt dazu, dass seine Mutter zur Zeit die elterliche Sorge nicht ausüben und das Kindeswohl nicht gewährleisten kann.

8

Die elterliche Sorge ist vor diesem Hintergrund überwiegend auf das Jugendamt als Vormund sowie hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts mit den damit verbundenen Kompetenzen nach § 1687 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die Tante, ..., zu übertragen. Es entspricht dem Kindeswohl, dass ... sich bei seiner Tante aufhält und diese die für die alltäglichen Angelegenheiten erforderlichen rechtlichen Kompetenzen erhält. ... hat bei seiner Anhörung eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass er es ablehnt, bei seiner Mutter oder seiner zweiten Tante, ..., zu wohnen. Er hat den Wunsch geäußert, bei seiner Tante, ... zu wohnen. Er fühle sich bei ihr wohl, habe im Hinblick auf sein Körpergewicht auch bereits 20 kg abgenommen und die Einschulung in Hildesheim sei von ihr in die Wege geleitet worden. Er habe in Hildesheim auch schon einige Freunde, mit denen er seine Freizeit verbringe.

9

Frau ... erklärte sich in der Anhörung bereit, ... aufzunehmen und sich um ihn zu kümmern. Er habe in ihrer Wohnung ein eigenes Zimmer. Sie würde sich um seine schulische Entwicklung kümmern. Dem stünde auch ihre Berufstätigkeit nicht entgegen, da sie als selbständig Tätige, sich ihre Arbeitszeit weitgehend einteilen könne. Sie meinte weiterhin, dass ... auch ihren Weisungen folgen werde und sie im Grenzen setzen könne. Gerade dieser Aspekt scheint von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung zu sein. Nachdem ... im zurückliegenden Jahr sich weitgehend einer kontinuierlichen Erziehung durch seine Mutter entzogen hat und auch den Aufenthalt bei seiner Tante beendete, um zu seiner Mutter zurückzukehren, liegt die Vermutung nahe, dass sich ... in Konfliktsituationen von seinem aktuellen Umfeldabwendet, wie dies auch vom Verfahrenspfleger angesprochen wurde. Hierauf deutet auch die Verweigerung zur Mitarbeit in der Außenwohngruppe hin, die ... unter anderem damit begründete, es seien an ihn zu viele Anforderungen herangetragen worden. Daher wird es im alltäglichen Umgang seiner Tante nunmehr obliegen, möglichen Fluchttendenzen (vor Verantwortung und Mitarbeit oder in der Schule) rechtzeitig und mit der notwendigen Klarheit sowie ggf. unter Mithilfe des Jugendamtes entgegenzutreten.

10

Der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts steht auch nicht entgegen, dass die Kindesmutter eine solche Übertragung nachdrücklich ablehnt. Sie führt hierfür keine aus dem Kindeswohl begründete Argumente heran. Sie lehnt ihre Schwester wegen des nicht näher bekannten familiären Konflikts, der zum Umzug von Hildesheim nach Hannover führte, ab. Sie befürchtet eine Beeinflußung von ..., die dazu führe, dass ... sich gegen sie stelle. Zwar ist eine Beeinflussung durch die häusliche Gemeinschaft durchaus denkbar. Jedoch soll diesem schon dadurch begegnet werden, dass dem Jugendamt weiterhin die Personensorge im übrigen obliegt. Dem Umstand, ob überhaupt und wie oft ... Kontakt zu seiner Mutter hat, wird eine besondere Bedeutung zukommen, worauf die Tante ... in der Anhörung deutlich hingewiesen wurde. Die Parteien sollten daher mit dem Jugendamt möglichst bald nach Besuchsterminen suchen.

11

Eine vollständige Übertragung der elterlichen Sorge auf die Tante von ... ist zur Zeit weder erforderlich noch angemessen. Vielmehr scheint es für die weiteren Entwicklung von ... günstig, wenn das Jugendamt weiterhin seiner Tante Hilfen anbieten und die Betreuungssituation begleiten kann. Gerade für die zukünftige Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung ist eine solche Einbindung des Jugendamtes angezeigt. Zwar konnte sich die Kindesmutter in der Anhörung dem Gedanken, dass ... sie von Hildesheim aus besuchen könne, nicht nähern. ... seinerseits äußerte unvoreingenommen, dass er seine Mutter aus Hildesheim durchaus besuchen könne, wenn sicher sei, dass er wieder nach Hildesheim zurückkehren könne. Auf der anderen Seite hatte ... keine Einwände dagegen, dass ... seine Mutter in Hannover besuchen wolle. Dem steht auch nicht entgegen, dass sie auf die Frage, ob sie den Kontakt zur Mutter auch fördern und ... zu solchen Besuchen ermutigen werde, etwas zögerlich antwortete. Die Beteiligten sollten in diesem Zusammenhang in jedem Fall bedenken, dass die Beziehung und die Durchführung von Besuchen nicht von Ansprüchen auf Herausgabe von verschiedenen Gegenständen belastet werden sollten, wie dies zum Abschluß des Anhörungstermins geschehen ist.

12

Das Jugendamt hat zu Recht für die weitere Entwicklung darauf abgestellt, dass ... nicht in den familiären Konflikt zwischen seiner Mutter und deren Schwester bzw. deren Mutter hineingezogen werden dürfe. Eine solche Gefährdung besteht durchaus. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass das Jugendamt weiterhin die Entwicklung von ... in der Familie seiner Tante beobachtet und begleitet. Möglicherweise kann auch auf den familiären Konflikt durch therapeutische Gespräche Einfluss genommen werden. Die Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern zwingt auch dazu, nicht der Kindesmutter, sondern dem Jugendamt die Personensorge im übrigen zu übertragen. Eine sachgerechte Wahrnehmung der Interessen von ... durch die Mutter ist für die Dauer seines Aufenthaltes bei seiner Tante nicht zu erwarten.

13

Für eine Aufspaltung der elterlichen Sorge spricht weiterhin, dass die Entwicklung von ... in der Familie seiner Tante zur Zeit nicht konkret absehbar und eine genauere Prognose nicht möglich ist. Daher hat der Verfahrenspfleger sowohl in seiner Stellungnahme wie auch in der Anhörung vom 13. September hervorgehoben, dass die Sorgerechtsentscheidung vorerst für eine "Probezeit" erfolgen solle. Dies ist nicht im Sinne einer vorläufigen Anordnung zu verstehen, sondern dahingehend zu verstehen, dass die Entscheidung je nach der Entwicklung von ... wieder abgeändert werden kann (§ 1696 BGB). Gründe für eine solche Abänderung könnten z.B. die schulische Entwicklung von ... aber auch die Position seiner Tante und Großmutter zur Beziehung von ... zu seiner Mutter sein. Insoweit muß ... aus den Konflikten der Geschwister und Mutter nach Möglichkeit herausgehalten werden.

14

Eine Übertragung der elterlichen Sorge auf den Kindesvater kam von vornherein nicht in Betracht, da ... zu ihm keinerlei Kontakt oder Beziehung hat.

Streitwertbeschluss:

Der Gegenstandswert wird in Abänderung des Beschlusses vom XXX und des Beschlusses des OLG Celle vom 26.2.1999 - 10 WF 31/99 auf 5.000,- DM festgesetzt.