Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 13.02.1992, Az.: 4 A 4236/90

Anspruch auf laufende Leistungen zum Lebensunterhalt ; Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen ; Beschaffung und Erhaltung eines kleineren Hausgrundstücks

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
13.02.1992
Aktenzeichen
4 A 4236/90
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 22079
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1992:0213.4A4236.90.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 24.03.1993 - AZ: 4 L 2065/92
BVerwG - 18.05.1995 - AZ: BVerwG 5 C 22/93

Fundstelle

  • BtPrax 1992, 78-80 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Sozialhilfe

Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 1992
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Ungelenk,
den Richter am Verwaltungsgericht Steinhoff und
den Richter Thommes
sowie
die ehrenamtliche Richterin Fahlbusch und
den ehrenamtlichen Richter Burgdorf
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Bescheide des Landkreises Goslar vom 02. Mai 1988 und des beklagten Amtes vom 16. Mai 1990 werden aufgehoben.

Das beklagte Amt wird verpflichtet, dem Kläger Sozialhilfe in Form der übernähme der Kosten für die Förderung in der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe in Lamspringe ohne Berücksichtigung des Vermögens (restliches Schmerzensgeld, Erbschaft) zu gewähren.

Das beklagte Amt trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Das beklagte Amt kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger in gleicher Höhe vorher Sicherheit leistet.

Gründe

1

I.

Die Parteien streiten darum, in welcher Höhe Schmerzensgeld und andere Geldmittel des Klägers bei der Bewilligung von Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen als Vermögen einzusetzen sind.

2

Der 1962 geborene Kläger erlitt im Juni 1982 einen schweren Motorradunfall, infolgedessen ihm das linke Bein am Oberschenkel amputiert wurde. Er erlitt ferner schwere Schädelverletzungen, durch die es zu schweren Wesensveränderungen bei dem Kläger gekommen ist. Dies äußert sich in aggressiven Schüben und in einer mangelhaften Realitätseinschätzung. Der Kläger leidet darüber hinaus aufgrund des Unfalls an weiteren körperlichen Einschränkungen, die eine aufwendige Pflege des Klägers erforderlich machen. Für ihn wurde seine Mutter - Frau ... - zur Pflegerin bestellt.

3

Am 5. Juli 1984 schloß die Mutter des Klägers in dessen Namen mit der ... eine Abfindungsvereinbarung; darin wurde dem Kläger das ihm für den Unfall zustehende Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 105.000,- DM abgegolten. Diese Abfindungsvereinbarung wurde vom Amtsgericht in Seesen am 17. Juli 1984 genehmigt.

4

Seit dem 17. Juni 1986 wird der Kläger in der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe in ... betreut. Dies erfolgt derart, daß sich der Kläger tagsüber dort in der Arbeitstherapie aufhält. In den restlichen Stunden des Tages wird der Kläger von seiner Familie, insbesondere von seiner Mutter sowie seinem Bruder, Herrn ..., zu Hause betreut.

5

Ebenfalls im Juni 1986 verstarb der Großvater des Klägers. Auf den Kläger entfiel eine Erbschaft in Höhe von 37.500,- DM in Form von Bundesschatzbriefen.

6

Am 25. Februar 1988 beantragte der Kläger bei dem Landkreis Goslar die übernahme der Kosten für seine Betreuung in der Werkstatt für Behinderte aus Mitteln der Sozialhilfe. Dieser Antrag wurde vom Landkreis Goslar am 2. Mai 1988 zurückgewiesen. Zur Begründung verwies der Landkreis im wesentlichen darauf, daß der Kläger verpflichtet sei, vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe sein eigenes Vermögen (Schmerzensgeldzahlung und die Erbschaft) zu verwerten.

7

Gegen den Ablehnungsbescheid, der im Namen des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe ergangen war, erhob der Kläger am 24. Mai 1988 Widerspruch.

8

Am 28. Oktober 1988 verschenkte der Kläger im Rahmen eines notariellen Vertrages durch seine Gebrechlichkeitspflegerin die Bundesschatzbriefe, die er von seinem Großvater geerbt hatte, an seinen Bruder. Diese Schenkung wurde am 23. November 1988 vom Amtsgericht Seesen - Vormundschaftsgericht - als "erlaubte Anstandsschenkung" eingestuft. Das Vormundschaftsgericht ging infolgedessen infolgedessen davon aus, daß eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nicht erforderlich war (§ 1804 BGB).

9

Dem Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 2. Mai 1988 wurde im Widerspruchsbescheid des beklagten Amtes vom 16. Mai 1990 insoweit abgeholfen, als eine Summe von 30.000,- DM von der Schmerzensgeldzahlung als nicht einzusetzendes Schonvermögen i.S.v. § 88 Abs. 3 BSHG eingestuft wurde. Im übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung verwies das beklagte Amt darauf, daß eine weitere Freilassung des klägerischen Vermögens nicht notwendig sei, da dies der verlangte Einsatz des Restvermögens keine unbillige Härte i.S.v. § 88 Abs. 3 BSHG darstelle.

10

Hiergegen erhob der Kläger am 15. Juni 1990 Klage. Er ist der Auffassung, weder sein Vermögen aus seiner Erbschaft nach seinem Großvater noch sein Vermögen aus der Schmerzensgeldzahlung müsse verwertet werden, bevor ihm Sozialhilfe in der Form der übernahme der Kosten für die Betreuung in der Werkstatt für Behinderte gezahlt werde. Insoweit liege jeweils eine Härte i.S.v. § 88 Abs. 3 BSHG vor. Dies ergebe sich insbesondere aus einer Wertung von § 77 Abs. 2 BSHG, wonach eine Entschädigung, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, nach § 847 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geleistet wird, nicht als Einkommen i.S.d. Bundessozialhilfegesetzes zu berücksichtigen ist. Das müsse entsprechend auch für das Schmerzensgeld gelten. Zumindest müsse daraus geschlossen werden, daß der Einsatz bzw. die Verwertung solcher Schmerzensgeldzahlungen als Härte i.S.d. § 88 Abs. 3 einzustufen sei. Im Hinblick auf die Erbschaft ist der Kläger der Auffassung, daß er insofern eine gebotene Anstandsschenkung vorgenommen habe ihm dieses Vermögen also nicht mehr zur Verfügung stehe.

11

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides des Landkreises Goslar vom 02. Mai 1988 und des Widerspruchsbescheides des beklagten Amtes vom 16. Mai 1990 das beklagte Amt zu verpflichten, dem Kläger Sozialhilfe in Form der übernahme der Kosten für die Förderung in der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe in Lamspringe ohne Berücksichtigung des Vermögens (restliches Schmerzensgeld, Erbschaft) zu gewähren.

12

Das beklagte Amt beantragt,

die Klage abzuweisen.

13

Es ist der Auffassung, die Klage sei schon deswegen abzuweisen, weil das beklagte Amt nicht der richtige Klagegegner im Sinne von § 78 VwGO sei. Das beklagte Amt meint, daß der ablehnende Bescheid des Landkreises Goslar im Namen des Landes Niedersachsen, nicht im Namen des beklagten Amtes ergangen sei. Deshalb müsse der Landkreis Goslar Beklagter sein.

14

Die Klage war ursprünglich gegen das Land Niedersachsen, vertreten durch den Landkreis Goslar und dieser wiederum vertreten durch den Oberkreisdirektor, gerichtet. Mit Schreiben vom 22. Oktober 1991 ist der Kläger durch den Vorsitzenden der erkennenden Kammer darauf hingewiesen worden, daß der Landkreis nach ständiger Rechtsprechung der Kammer als herangezogene Gebietskörperschaft allein aufgrund der Heranziehung nicht legitimiert sei, für den überörtlichen Sozialhilfeträger im gerichtlichen Verfahren aufzutreten. Daraufhin änderte der Kläger mit Schriftsatz vom 12. Dezember 1991 die Klage dahingehend, daß nunmehr Beklagter das Land Niedersachsen, vertreten durch das Niedersächsische Landessozialamt, sein sollte. Daraufhin ist der Landkreis Goslar als Beteiligter aus dem Verfahren ausgeschieden.

15

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des beklagten Amtes sowie des Landkreises Goslar Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

16

II.

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtwidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

17

1.)

Das beklagte Amt ist der richtige Klagegegner. In diesem Zusammenhang verweist die Kammer auf die gefestigte Rechtsprechung der Kammer zu dieser Frage und darüber hinaus insbesondere auf die Entscheidung des OVG Lüneburg vom 11. September 1991 (ZfF 1992, 12 f). Danach ist der örtliche Sozialhilfeträger, soweit er nach den §§ 4, 5 Nds. AG BSHG, § 4 Abs. 1 HeranziehungsVO zum BSHG zur Durchführung von Aufgabenn des überörtlichen Trägers herangezogen wird, nicht verpflichtet, für den überörtlichen Träger Verwaltungsstreitverfahren zu führen.

18

2.)

Dem Kläger steht dem Grunde nach ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem BSHG zu. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

19

Der Kläger muß die Schmerzensgeldzahlung, die ihm von der Colonia-Versicherungs-AG zur Abgeltung seiner Ansprüche aus § 847 BGB gezahlt wurde, nicht verwerten, bevor ihm Hilfe in besonderen Lebenslagen gemäß §§ 39, 40 Abs. 2 BSHG gewährt wird. Hilfe in besonderen Lebenslagen, zu denen die von dem Beklagten verweigerte Eingliederungshilfe gehört (§ 27 Abs. 1 Nr. 6 BSHG), wird nach dem Abschnitt 3 des BSHG gewährt, soweit dem Hilfesuchenden die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Bestimmungen des Abschnitts 4 des BSHG nicht zuzumuten ist (§ 28 BSHG).

20

Der Kläger ist nicht zum Einsatz des 4.500,- DM (vgl. § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) der Verordnung zur Durchführung des § 88 Abs. 2 Nr. 8 des Bundessozialhilfegesetzes vom 9. November 1970 in der derzeit gültigen Fassung) übersteigenden Schmerzensgeldbetrages verpflichtet, weil es sich insgesamt um Vermögen handelt, das nicht für seinen Hilfebedarf einzusetzen ist. Hierin würde eine Härte im Sinne von § 88 Abs. 5 BSHG liegen. Anwendbar sind die Vorschriften über den Einsatz des Vermögens (§ 88 BSHG), nicht aber des Einkommens (§ 77 BSHG), da es sich bei dem Schmerzensgeld um Vermögen des Klägers handelt. Geldwerte Zuflüsse können nur dann als Einkommen behandelt werden, wenn sie ihrem Zweck nach für den Bedarfzeitraum bestimmt sind, für den Sozialhilfe begehrt wird. Diesen Zweck erfüllt das Schmerzensgeld von 105.000,- DM nicht, denn es fehlt an der Zwecksetzung, einen Anspruch des Klägers für einen bestimmten Zeitraum zu befriedigen. Vielmehr war das Schmerzensgeld zur Abgeltung von früheren, aber auch künftigen Leiden und Schmerzen bestimmt und sollte dem Kläger ein für allemal Genugtuung gewähren.

21

§ 77 Abs. 2 BSHG, der vorsieht, daß das Schmerzensgeld nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist, findet also keine Anwendung. Es unterfällt jedoch dem Schonvermögen. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat dazu in seiner Entscheidung vom 25. Oktober 1974 (FEVS Bd. 24, S. 276 ff.) ausgeführt: "Nach § 88 Abs. 2 BSHG gehören zum Schonvermögen z.B. die zum Aufbau und zur Sicherung einer Lebensgrundlage bestimmten Vermögenswerte (§ 88 Abs. 2 Nr. 1) sowie sonstiges Vermögen, das zur alsbaldigen Beschaffung und Erhaltung eines kleineren Hausgrundstücks i.S.d. § 88 Abs. 2 Nr. 7 bestimmt ist (Nr. 2), aber auch bestimmte Familien - oder Erbstücke sowie Gegenstände, die den geistigen Interessen des Hilfesuchenden zu dienen, bestimmt sind. Das Schmerzensgeld ist in dem Katalog des § 88 Abs. 2 BSHG nicht erwähnt. Da der Gesetzgeber in § 88 Abs. 2 BSHG nur die typischen Fälle hat regeln können, in denen die Hilfe nicht vom Einsatz von Vermögen abhängig gemacht werden darf, sah er sich gezwungen, auch den atypischen Fällen gerecht zu werden. Zu diesem Zweck hat er eine Härteregelung geschaffen; diese bestimmt, daß die Sozialhilfe nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden darf, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, eine Härte bedeuten würde; dies ist bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen vor allem der Fall, soweit eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde (§ 88 Abs. 3 BSHG). Der Gesetzgeber wollte mit dieser Härteregelung erreichen, daß in atypischen Fällen Ergebnisse vermieden werden, die den Leitvorstellungen des Gesetzgebers in Absatz 2 nicht entsprächen.

22

Der Zweck des Schmerzensgeldes zwingt dazu, es den § 88 Abs. 2 BSHG aufgezählten Vermögensgütern gleichzustellen und damit zum Schonvermögen zu erklären. Das Schmerzensgeld hat eine doppelte Funktion: Einerseits soll es dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind, zum anderen trägt es dem Gedanken Rechnung, daß der Schädiger dem Geschädigten für die Schädigung Genugtuung duldet (Großer Senat für Zivilsachen des BGH, Beschl. v. 6. Juli 1955 BGH Z Bd. 18, S. 149). Der Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung, zu dem auch die Entschädigung wegen immaterieller Schäden gehört, hat zwar keinen unmittelbaren Strafcharakter, jedoch ist der Ausgleichsgedanke von der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes nicht zu trennen, was sich insbesondere daran zeigt, daß bei seiner Festsetzung die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung maßgebend sein soll, daneben aber auch alle Umstände berücksichtigt werden sollen, die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gewicht geben. Schließlich sollen unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit die Größe, Heftigkeit und die Dauer der Schmerzen und der Leiden berücksichtigt werden. Diese Zwecksetzungen des Schmerzensgeldes würden unbeachtet bleiben, wenn man seinen Einsatz für die Pflegekosten verlangen würde, denn der Hilfeempfänger würde nicht in den Genuß des finanziellen Ausgleichs für diejenigen erheblichen unfallbedingten Leiden, die sein Leben vollkommen umgestaltet haben, kommen. Der Hilfeempfänger würde aber darüber hinaus der Genugtuung für die erlittene Körperverletzung verlustig gehen, die ihm nach bürgerlichem Recht zusteht. Gerade dies würde dem in § 88 Abs. 2 BSHG zum Ausdruck kommenden Gesetzeszweck widersprechen. Der Gesetzgeber hat zum Ausdruck gebracht, daß die bereits oben erwähnten zweckbestimmten Vermögenswerte unter bestimmten Voraussetzungen verschont bleiben sollen. Der Wille des Gesetzgebers geht also ersichtlich dahin, dem Bedürftigen solche Vermögensgüter zu belassen, die in seinem Leben elementare Bedürfnisse befriedigen sollen. Hierzu gehören auch Geldmittel, die der Bedürftige zum Ausgleich von Schäden und zur Genugtuung für erlittenes Unrecht erhalten hat. Erscheint sonach die Forderung nach Einsatz des Schmerzensgeldes als mit dem Leitgedanken des § 88 Abs. 2 unvereinbar, sind die Voraussetzungen der Härteregelungen nach § 88 Abs. 3 erfüllt."

23

Dieser Auffassung schließt sich die erkennende Kammer an. Sie fügt zur weiteren Begründung hinzu, daß sie der Auffassung ist, daß schon die Regelung in § 77 Abs. 2 BSHG, mit der Schmerzensgeld vom Einsatz als Einkommen gänzlich ausgenommen wurde, erkennen läßt, daß der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, daß Schmerzensgeld nicht verwertet werden soll, bevor Sozialhilfe gezahlt werden kann. Die Kammer ist weiter der Auffassung, daß der Kläger das ihm bewilligte Schmerzensgeld noch in vielerlei Hinsicht zur Befriedigung seines Sonderbedarfs als Behinderter brauchen wird. Zudem hat die Schmerzensgeldzahlung die gleiche Zielsetzung wie die in § 88 Abs. 2 Nr. 1 BSHG erwwähnten Leistungen zum Aufbau und Sicherung einer Lebensgrundlage.

24

Die Kammer läßt ausdrücklich dahinstehen, ob ein Schmerzensgeld jedenfalls dann teilweise eingesetzt werden muß, wenn es besonders hoch ist (vgl. hierzu OVG Lüneburg, a.a.O., S. 281). Sie ist der Auffassung, daß im Hinblick auf das Alter des Klägers und die ihm nach wie vor aus seiner Behinderung entstehenden Kosten und Leiden ein Schmerzensgeld von 105.000,- DM noch nicht als besonders hoch einzustufen ist.

25

Eine andere rechtliche Bewertung folgt auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Oktober 1974 (FEVS Bd. 23, S. 89 ff., 97). Das Bundesverwaltungsgericht hat dort zur Interpretation des § 88 Abs. 3 BSHG ausgeführt: "Wie die Ursache der Not für die Sozialhilfegewährung im Grundsatz ohne Bedeutung ist, so spielt regelmäßig auch die Herkunft des Vermögens für eine Einsetzung und Verwertung keine entscheidende Rolle."

26

Das Bundesverwaltungsgericht bezieht sich dabei allerdings nicht auf eine Konstellation wie die vorliegende, in der es um Schmerzensgeld geht. Vielmehr ging es dort um ein kleines Hausgrundstück i.S.d. § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG. Dort ist die Lage rechtlich anders zu beurteilen, da das kleine Hausgrundstück in § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG grundsätzlich berücksichtigt wurde. Schon dies spricht dafür, daß die Härtesituation nicht nochmals in § 88 Abs. 3 BSHG berücksichtigt werden kann. Es gibt darüber hinaus Situationen, in denen die Herkunft des Vermögens dieses so prägt, daß seine Verwertung eine Härte darstellen kann. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Vermögen auf eine Kapitalabfindung oder Nachzahlung zurückgeht, die als Einkommen nach §§ 76-78 BSHG anrechnungsfrei wäre (z.B. Schmerzensgeld; vgl. LPK BSHG 3. Aufl. § 88 Rdnr. 46; Gottschick/Giese BSHG § 88 RdZiff. 6.3; Schellhorn u.a. BSHG, 13. Aufl. § 88 RdZiff. 70).

27

3.)

Die angefochtenen Bescheide sind auch insoweit rechtswidrig, als sie den vom Kläger ererbten Betrag in Höhe von 37.500,- DM als einzusetzendes Vermögen berücksichtigten. Abzustellen ist hier auf den Zeitpunkt, in dem die Widerspruchsbehörde entscheidet (vgl. Kopp VwGO, 7. Aufl. § 68 Rdnr. 14 m.z.N. aus der Rechtsprechung des BVerwG). Der Widerspruchsbescheid erging am 16. Mai 1990. Zu diesem Zeitpunkt aber standen die 37.500,- DM aus der Erbschaft dem Kläger nicht mehr zur Verfügung, da er sie rechtswirksam an seinen Bruder verschenkt hatte. Die notarielle Schenkung vom 28. Oktober 1988 wurde vom Vormundschaftsgericht zu Recht als rechtswirksame Anstandsschenkung gemäß § 534 BGB gewertet. Nach § 534 BGB unterliegen Schenkungen, durch die einer sittlichen Pflicht entsprochen wird, nicht der Rückforderung und dem Widerruf. Unter einer sittlichen Pflicht wird eine aus den besonderen Umständen des Einzelfalls erwachsene sittliche Pflicht verstanden, wobei das Vermögen und die Lebensstellung der Beteiligten sowie ihre persönlichen Beziehungen untereinander zu berücksichtigen sind (vgl. Palandt, BGB, 50. Aufl. § 534 Rdnr. 2). Eine sittliche Verpflichtung zur Belohnung von Pflegeleistungen durch Geschwister kann im allgemeinen angenommen werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Ausbleiben einer solchen Belohnung als sittlich anstößig erscheinen lassen. Dies kommt etwa in Betracht, wenn der die Pflegeleistungen Erbringende schwerwiegende persönliche Opfer erbringt und deswegen in eine Notlage geriet (BGH, Urteil vom 9. April 1986, NJW 86, 1926 f. [BGH 09.04.1986 - IVa ZR 125/84]). Dies ist bei dem Bruder des Klägers der Fall. Aus dem unbestrittenen Vortrag des Klägers ergibt sich, daß sein Bruder das Studium unterbrochen und später auch abgebrochen hat, um ihn zu pflegen. Aus dem vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben der Klinik Schildautal in Seesen vom 26. August 1986 ergibt sich weiter, daß der Bruder des Klägers diesen beständig gepflegt hat. Es folgt aus diesem Schreiben ferner, daß der Kläger ein nicht einfacher Pflegefall ist, was zu einer starken Beanspruchung der pflegenden Person führt. Dies wurde in der mündlichen Verhandlung nochmals überzeugend und detailliert vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers bestätigt, der diesen schon seit sieben Jahren kennt und betreut. Daher geht die Kammer wie das Vormundschaftsgericht, dem der Pflegefall ausweislich seines Schreibens vom 23. November 1988 genau bekannt war, davon aus, daß es sich hier um eine nicht zu beanstandende Anstandsschenkung handelte. Da diese nicht der Rückforderung unterliegt, stand sie dem Kläger also im Zeitpunkt der Entscheidung des beklagten Amtes über den Widerspruch nicht mehr zur Verfügung. Sie konnte daher auch nicht mehr als Vermögen des Klägers berücksichtigt werden.

28

Die Klage ist nach allem mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO abzuweisen.

29

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

30

RechtsmittelbelehrungGegen dieses Urteil ist die Berufung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft.

31

...

Ungelenk
Steinhoff
Thommes