Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.09.1989, Az.: 12 A 91/87

Fahrerlaubnis; Verkehrsstraftat; Medizinisch-psychologisch Gutachten; Wiedererteilung der Fahrerlaubnis; Neigung zum Trunk; Alkoholabstinenz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.09.1989
Aktenzeichen
12 A 91/87
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1989, 12803
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1989:0921.12A91.87.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Schleswig - 12.02.1987 - AZ: 3 A 284/86
nachfolgend
BVerwG - 23.03.1990 - AZ: BVerwG 3 B 1.90
BVerwG - 27.09.1991 - AZ: BVerwG 3 C 32.90

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 3. Kammer - vom 12. Februar 1987 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der 19... geborene Kläger erwarb 1955 die Fahrerlaubnis der Klasse 3, die 1958 auf die Klasse 2 erweitert wurde. Danach trat er mit einer Reihe von Verkehrsstraftaten in Erscheinung. 1965 führte er ein Kraftfahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,4 g o/oo; im selben Jahr fuhr er ohne Fahrerlaubnis mit 1,6 g o/oo. 1971 fuhr er wiederum im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit. 1978 führte er mit 2,82 g o/oo ein Kraftfahrzeug. 1979 trat er wiederum mit 1,2 bis 1,3 g o/oo als Kraftfahrzeugführer in Erscheinung und 1983 führte er letztmalig ein Kraftfahrzeug mit 2,08 g o/oo. Die Fahrerlaubnis wurde ihm zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts Pinneberg vom 14. Mai 1984 mit einer Sperrfrist von 17 Monaten entzogen.

2

Der Kläger stellte 1985 einen Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis der Klasse 2. Nach Ablehnung des Antrags wurde er im Widerspruchsverfahren 1986 medizinisch-psychologisch untersucht mit dem Ergebnis, es sei nicht zu erwarten, daß er künftig wiederum im Zustand alkoholischer Beeinflussung ein Kraftfahrzeug führen werde; er lebe seit Dezember 1983 alkoholabstinent, was glaubhaft sei. Das Landesamt für Straßenbau und Straßenverkehr Schleswig-Holstein wies mit Bescheid vom 19. Oktober 1986 den Widerspruch des Klägers zurück.

3

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 12. Februar 1987 die ablehnenden Bescheide des Beklagten aufgehoben und ihn verpflichtet, den Kläger zur Fahrerlaubnisprüfung zuzulassen. Das Verwaltungsgericht hat die Ehefrau und die Tochter des Klägers zu den Trinkgewohnheiten des Klägers als Zeugen vernommen. Die Ehefrau hat ausgesagt, daß der Kläger nach der letzten Trunkenheitsfahrt ab Dezember 1983 keinen Alkohol mehr zu sich genommen habe; dies habe sie, die Ehefrau, mit der Drohung erreicht, sie würde sich von ihm trennen, wenn er nicht mit dem Alkoholgenuß aufhören werde. Die Tochter des Klägers hat ausgesagt, sie habe seit 1983 nicht mehr gesehen, daß der Kläger Alkohol zu sich genommen habe. Aufgrund dieser Zeugenaussagen ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger seit dem 16. Dezember 1983 keinen Alkohol mehr zu sich nimmt. Dieser Zeitraum der geübten Alkoholabstinenz sei als ausreichend anzunehmen. Zwar blieben Zweifel, ob der Kläger auf Dauer die Stärke aufbringen werde, die von ihm geübte Abstinenz auch zukünftig fortzusetzen. Diese Zweifel reichten jedoch nicht aus, um die Versagung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen.

4

Der Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Zwar habe das MPI in seinem Gutachten aufgrund der Untersuchung vom 13. Mai 1986 die Auffassung vertreten, der Kläger werde künftig ein Kraftfahrzeug nicht mehr unter Alkoholeinfluß fahren, es lägen auch keine Beeinträchtigungen als Folge eines unkontrollierten Alkoholkonsums vor, die das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der Klasse 3 in Frage stellten, so daß die behördlichen Bedenken an der Fahreignung deutlich abgeschwächt würden. Indessen müsse die Alkoholabstinenz über eine längere Zeit nachgewiesen sein, bzw. die Abstinenz durch Teilnahme an Gruppenabenden von Alkoholselbsthilfeorganisationen künftig gewährleistet sein.

5

Der Beklagte beantragt,

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unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen,

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hilfsweise,

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den Kläger zur Fahrerlaubnisprüfung der Klasse 3 zuzulassen.

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Aufgrund eines Beweisbeschlusses ist ein Gutachten des TÜV Norddeutschland - MPI Hamburg - eingeholt worden. Die Gutachter Diplom-Psychologe ... und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. ... haben aufgrund einer Untersuchung vom 18. Januar 1989 in ihrem Gutachten dargelegt, daß mit medizinischen oder psychologischen Untersuchungsmethoden nicht vorauszusagen sei, ob der Kläger künftig alkoholabstinent leben werde. Die medizinische Untersuchung habe keine Organschädigungen aufgrund übermäßigen Alkoholgenusses ergeben. Der Kläger sei im Zuge der Verkehrsstraftaten wegen Trunkenheit 1970, 1974, 1981 und 1986 medizinisch-psychologisch begutachtet worden. Bis auf eine Vorbegutachtung 1974 seien alle medizinisch-psychologischen Gutachten zu einer günstigen Bewertung der Kraftfahreignung gekommen, weil sich aus der Persönlichkeitsstruktur des Klägers keine evidenten, für die Beurteilung der Verhaltensprognose relevanten negativen Merkmale ergeben hätten. Bei der jetzigen Untersuchung hätte der Kläger zwar eingangs betont, er sei seit Dezember 1983 alkoholabstinent, dies habe er jedoch dahingehend relativiert, daß er in den letzten zwei Jahren dreimal ohne besonderen Grund und Anlaß ein bis zwei, maximal vier Glas Bier getrunken hätte. Von absoluter Alkoholabstinenz könne also nicht die Rede sein, zumal dem Beklagten bekanntgeworden sei, daß der Kläger beim Besuch einer Gaststätte im Mai 1987 ca. 6 bis 8 Glas 0,4 l Bier getrunken habe. Vermutlich habe er also seinen früheren Alkoholkonsum nunmehr fortgesetzt und damit ein oberflächlich-unkritisches Bewußtsein bezüglich seines jetzigen Alkoholkonsums an den Tag gelegt. Er sei offenkundig außerstande, das 1983 seiner Ehefrau gegebene Versprechen und die damals angeblich vorhandene Einsicht als immer noch gültig und notwendig zu akzeptieren. Damit hätten sich die Prognosen bezüglich der Alkoholabstinenz nicht bestätigt; ein Risiko des Rückfalls in Trunkenheitsdelikte sei gegeben. Andererseits sei es möglich, daß die Offenbarung des jetzigen Alkoholkonsums gegenüber seiner Ehefrau und das anhängige Gerichtsverfahren ihn zur Änderung seines Verhaltens bewegen könnten.

12

Der Kläger hat zu diesem Gutachten Stellung genommen und darauf hingewiesen, die Erkrankungen seiner beiden Söhne hätten dazu geführt, daß er häufig das Krankenhaus besucht habe und dort mit vielen Verkehrsunfallopfern zusammengetroffen sei. Dies habe ihn geprägt und sein Verantwortungsbewußtsein gestärkt. Der Kläger sei heute zu kritischen Einsichten über seinen früheren Alkoholkonsum fähig. Seine Ehefrau sei über seinen Alkoholgenuß unterrichtet.

13

Auf den Inhalt der Schriftsätze der Parteien wird zur Ergänzung Bezug genommen.

14

Die Verwaltungsvorgänge des Beklagten haben dem Senat vorgelegen; auf ihren Inhalt wird ebenfalls Bezug genommen.

15

II.

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Kläger aus zutreffenden Gründen zur Fahrerlaubnisprüfung für die Klasse 2 zugelassen.

16

Für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis gelten die Vorschriften für die Ersterteilung mit Ausnahme des § 9 c StVZO (§ 15 c Abs. 1 StVZO). Der Beklagte hatte zu ermitteln, ob Bedenken gegen die Eignung des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen vorlagen, insbesondere, ob er eine "Neigung zum Trunk" hatte (§ 9 StVZO). Es sprechen eine Reihe von Gesichtspunkten dafür, daß der Kläger künftig als Inhaber der Fahrerlaubnis der Klasse 3 nicht wiederum Vergehen gemäß § 315 c, § 316 StGB begeht; ebenso günstig ist die Prognose bezüglich von Ordnungswidrigkeiten gemäß § 24 a StVG.

17

Maßgebend für diese Prognose ist das gerichtliche Gutachten des TÜV Norddeutschland - Medizinisch-Psychologisches Institut Hamburg - vom 5. Juni 1989 aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 18. Januar 1989.

18

Der Kläger hat seit 1983 genügend Verantwortungsbewußtsein entwickelt, das einem Rückfall in seine frühere Neigung, in alkoholisiertem Zustand ein Kraftfahrzeug zu führen, entgegenwirken wird. Helfen wird ihm hierbei der Umstand, daß er in geordneten Familienverhältnissen lebt. Seine Ehefrau ist über das Ausmaß seines begrenzten Alkoholkonsums in den letzten Jahren unterrichtet und wird die Gewähr dafür bieten, daß ihr Ehemann Halt findet und sein Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Allgemeinheit stärkt.

19

Die Auffassung der Gutachter Diplom-Psychologe ... und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. ... sprechen nicht gegen diese Annahme, vielmehr entwickeln beide Gesichtspunkte, die für eine günstige Prognose künftigen Verkehrsverhaltens des Klägers sprechen. Die Bedenken der Gutachter gründen sich auf den jetzigen Alkoholkonsum des Klägers, der es seit 1983 nicht erreicht hat, alkoholabstinent zu leben. Die Gutachter zweifeln an dem Wahrheitsgehalt seiner Angaben über seinen jetzigen Alkoholkonsum, den sie als eine Fortsetzung des bisherigen Trinkverhaltens ansehen. Sie halten es indessen für möglich, daß im Falle des Klägers ausnahmsweise eine Kontrolle durch die ständige Offenbarung des Ausmaßes des Alkoholkonsums gegenüber seiner Ehefrau stattfinden kann. Begrenztes Vertrauen in das künftige Verhalten des Klägers ist gerechtfertigt, weil er vor wenigen Jahren bei Krankenhausbesuchen anläßlich von Operationen seiner Söhne Begegnungen mit Verkehrsunfallopfern gehabt haben will, was er jetzt vortragen läßt. Er soll nicht nur mit den im Krankenhaus behandelten Unfallopfern, sondern auch mit behandelnden Ärzten gesprochen haben; das Leid von verletzten Menschen soll sich ihm nach seinem Vortrag eingeprägt haben. Diese glaubhaften Erfahrungen aus jüngster Zeit und die familiäre Kontrolle seines Alkoholkonsums rechtfertigen eine günstige Prognose und begründen nach der jetzigen Sachlage einen Anspruch des Klägers auf Zulassung zur Fahrerlaubnisprüfung der Klasse 2.

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Sollte der Kläger die Fahrerlaubnisprüfung bestehen, so hat der Beklagte die Möglichkeit, gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 StVZO die Fahrerlaubnis unter Auflagen zu erteilen; diese Auflagen könnten darin bestehen, daß er sich in regelmäßigen Abständen zu medizinisch-psychologischen Kontrolluntersuchungen begeben muß.

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Nach allem ist der Klage in Übereinstimmung mit dem Urteil des Verwaltungsgerichtes stattzugeben. Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO iVm § 708 Nr. 10 ZPO.

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Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 VwGO nicht zuzulassen.

24

Schoof

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Dr. Gehrmann

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Richter am Oberverwaltungsgericht Radke kann wegen Urlaubs nicht unterschreiben. Schoof