Arbeitsgericht Oldenburg
Urt. v. 05.02.2020, Az.: 2 Ca 318/19

Auslegung; Gleichbehandlungsgrundsatz; Nachtarbeitszuschlag; Tarifvertrag

Bibliographie

Gericht
ArbG Oldenburg
Datum
05.02.2020
Aktenzeichen
2 Ca 318/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 71584
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die tarifliche Regelung in § 5 Nr. 2c) MTV der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachen/Bremen v. 23. August 2005 verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Die Differenzierung bei der Höhe des Zuschlages zwischen ungeplanter Nachtarbeit und zur Nachtzeit geleisteter Schichtarbeit ist sachlich gerechtfertigt. Die Tarifvertragsparteien haben mit der Ausgestaltung der tariflichen Nachtzuschläge nicht den ihnen zukommenden Gestaltungsspielraum überschritten.

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

3. Der Streitwert dieses Urteils wird auf 696,48 € festgesetzt.

4. Die Berufung wird gesondert zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Zahlung tariflicher Nachtarbeitszuschläge.

Die klagende Partei ist bei der Beklagten in Schichtarbeit beschäftigt. Bei der Beklagten handelt es sich um ein Unternehmen aus dem Bereich der Mineralwasser- und Süßgetränkeproduktion.

Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund beidseitiger Tarifbindung, der Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/B. vom 23.08.2005 (nachfolgend: MTV) Anwendung (vgl. Bl. 49 ff. d.A.). In diesem Tarifwerk finden sich auszugsweise folgende Regelungen:

§ 4

  Alters- und Schichtfreizeit

 […]

 2. Schichtfreizeit (Geltung nur für Arbeitnehmer in Unternehmen gemäß § 1 Ziffer 2a)

Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 gelistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.

Arbeitnehmer, die ständig im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 55 geleistete Spätschichten eine Freischicht.

Wechselschicht liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 20.00 Uhr andauert.

[…]

§ 5

 Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

1. Begriffsbestimmung

a) Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit mit Ausnahme der Stunden, die nach § 3 I, Ziffer 3 a) für Freizeitausgleich angesammelt werden.

[…]

c) Nachtarbeit

Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt.

[…]

2. Zuschläge

Für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit in der Nacht, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:

a) für Mehrarbeit   25 %

ab der 3. Mehrarbeitsstunde am Tage  30 %

[…]

b) Nachtarbeit   50 %

c) für Schichtarbeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr  25 %

[…]

3. Berechnung der Zuschläge

[…]

b) Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2 c). Dieser Zuschlag ist auch bei Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.

[…]

Bei der Beklagten wird im Zwei- oder Dreischichtsystem gearbeitet. Das Ende der Spätschicht ist um 20.00 Uhr. Die Nachtarbeit im Tarifsinne beginnt um 21.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr.

Die klagende Partei wird in Wechselschicht beschäftigt und leistet auch Nachtschichten. Für die geleisteten Nachtschichten erhält sie einen Zuschlag von 25 % auf ihren üblichen Stundenlohn.

Mit ihrer, am 05.07.2019 beim Arbeitsgericht eingegangenen, Klage begehrt die klagende Partei für die geleistete Nachtarbeit im Zeitraum November 2018 bis April 2019 weitere 25 % tariflichen Nachtzuschlag.

Die klagende Partei vertritt die Auffassung, die unterschiedliche Behandlung von Nachschichtarbeit und unregelmäßiger Nachtarbeit durch Zahlung einer in der Höhe unterschiedlichen Zulage verstoße gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Es fehle an einer sachlichen Rechtfertigung für die unterschiedliche Höhe der gewährten Nachtarbeitszuschläge. Zweck der Zuschläge sei es, die mit Nachtarbeit üblicherweise einhergehenden gesundheitlichen und sozialen Nachteile auszugleichen. Diese Nachteile entstünden unabhängig davon, ob die Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit oder außerhalb eines Schichtsystems erfolgen würden. Je häufiger nachts gearbeitet werde, desto höher sei die gesundheitliche Belastung, sodass erst Recht kein Grund ersichtlich sei, die regelmäßig in Nachtarbeit tätigen Arbeitnehmer gegenüber den gelegentlich in Nachtarbeit beschäftigten Arbeitnehmern schlechter zu stellen. Insbesondere könne sich die Beklagte nicht auf eine Kompensation durch Freischichten und Essenspausen berufe, da die klagende Partei unter § 1 Ziff. 2 b) MTV falle und die Vergünstigungen damit nicht erhalte. Zwar komme den Tarifvertragsparteien ein weiter Gestaltungsspielraum, dieser finde seine Grenze aber in höherrangigem Recht. Eine willkürliche Ungleichbehandlung wie vorliegend verbiete sich und sei von der Tarifautonomie nicht mehr gedeckt.

Die klagende Partei beantragt,

1. die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Partei einen Nachtzuschlag in Höhe von 187,11 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019 zu zahlen.

2. die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Partei einen Nachtzuschlag in Höhe von 95,48 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2019 zu zahlen.

3. die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Partei einen Nachtzuschlag in Höhe von 145,92 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.03.2019 zu zahlen.

4. die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Partei einen Nachtzuschlag in Höhe von 169,61 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen.

5. die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Partei einen Nachtzuschlag in Höhe von 98,36 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, die Differenzierung in § 5 Ziffer 2 b) und c) MTV verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG. Es fehle bereits an vergleichbaren Arbeitnehmergruppen sowie einer tatsächlichen Ungleichbehandlung im Betrieb. In den letzten 12 Monaten seien unstreitig lediglich 1,00 v. H. der geleisteten Nachtarbeitsstunden als Nachtarbeit in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr angefallen. In der Summe handele es sich um 693 Stunden. Dem stünden insgesamt 67.587 Stunden gegenüber, die in Nachtschicht erbracht worden seien.

Der streitgegenständliche MTV sehe auch nicht eine erheblich weniger günstige Zuschlagsregelung für regelmäßig in Nachtschicht tätige Arbeitnehmer vor. Vielmehr seien die maßgeblichen tariflichen Regelungen von der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien gedeckt. Anders als in der von der klagenden Partei herangezogenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts weiche der hier maßgebliche MTV von den dortigen Regelungen erheblich ab. Im MTV werde bereits ab der ersten Stunde ein Nachtarbeitszuschlag gezahlt und der Nachtarbeitszeitraum für sonstige Nachtarbeitnehmer erweise sich auch nicht als kürzer gegenüber den Schichtarbeitern in Wechselschicht. Berücksichtige man zudem die Kompensationsregelungen, insbesondere der Freischichtenregelung und der Anrechnungsregelung für Mehrarbeitszuschläge, ergebe sich keine nennenswerte Differenz zwischen den unterschiedlichen Nachtarbeitszuschlägen. Bei der Bewertung der Frage der sachlichen Rechtfertigung müsse zudem berücksichtigt werden, dass der höhere Zuschlag für sonstige Nachtarbeit die Schwelle zur Anordnung solcher Nachtarbeit erhöhen und damit verteuern solle. Daneben schränke die unregelmäßige Heranziehung zu Nachtarbeit die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe in weit größerem Maße ein, als dies bei regelmäßiger Nachtschicht der Fall sei. Ein Eingriff in einzelne Komponenten des Tarifwerkes sei der Ausgewogenheit des Gesamtkonzepts daher abträglich und führe letztlich zu einem unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie.

Schließlich seien die Zahlungsansprüche überwiegend nicht innerhalb der zur Anwendung kommenden tariflichen Ausschlussfrist geltend gemacht worden und damit verfallen.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze einschließlich der Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Der klagenden Partei steht kein Anspruch auf weitere Nachtarbeitszuschläge in Höhe von 25 % für die Zeit ab Dezember 2018 zu. Die tarifliche Regelung des § 5 Nr. 2c) MTV verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

1.

Nach § 5 Ziff. 2c) MTV haben Arbeitnehmer für Nachtarbeit im Anschluss an die regelmäßige Arbeitszeit einen Anspruch auf die Zahlung eines Zuschlages i.H.v. 50 % ihres Stundenentgeltes. Als Nachtarbeit wird unter § 5 Ziff. 1c) MTV die Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr definiert. Die klagende Partei erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Sie arbeitet bei der Beklagten in Wechselschicht. Für die in Wechselschicht tätigen Arbeitnehmer ist unter § 5 Ziff. 2c) MTV in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr lediglich ein Zuschlag in Höhe von 25 % vorgesehen. Die Systematik der Tarifregelungen führt zu dem Ergebnis, dass für Arbeitsstunden, die im Rahmen von Wechselschichtarbeit geleistet werden, keine Nachtarbeitszuschläge nach § 5 Ziff. 2b) anfallen. Denn bei § 5 Ziff. 2c) handelt es sich nach der tariflichen Ausgestaltung um eine lex specialis, die der Vorschrift des § 5 Ziff. 2b) vorgeht.

2.

Entgegen der Auffassung der klagenden Partei verstößt die tarifliche Differenzierung bei der Höhe der Nachtarbeitszuschläge nicht gegen den Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG.

a.

Als selbständigen Grundrechtsträgern kommt den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu (siehe hierzu etwa BAG v. 21.12.2017 - 6 AZR 790/16, AP Nr. 1 zu § 29a TVÜ). Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (vgl. BAG a.a.O.).

b.

Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte jedoch, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu einer Gruppenbildung führen, mit der Art. 3 GG verletzt wird (BAG, Urt. v. 29.06.2017 - 6 AZR 364/16, AP Nr. 1 zu § 34 TV-L). Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG v. 13.12.2016 - 1 BvR 713/13, Rz. 18 m. w. N., juris). Dabei ist es grundsätzlich dem Normgeber überlassen, die Merkmale zu bestimmen, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (vgl. BAG v. 21.03.2018 – 10 AZR 34/17, AP Nr. 17 zu § 6 ArbZG).

c.

Die Tarifvertragsparteien haben mit der Ausgestaltung tariflichen Nachtzuschläge nicht den ihnen zukommenden Gestaltungsspielraum überschritten.

aa.

Zwar sind Arbeitnehmer, welche regelmäßig Nachtarbeit leisten, mit jenen Arbeitnehmern, die nur unregelmäßig zur Nachtarbeit herangezogen werden, insoweit vergleichbar, als dass beide Arbeitnehmergruppen ihre Arbeitsleistung jeweils innerhalb des Zeitraums erbringen, der in § 5 Ziff. 1c) MTV als Nachtarbeit definiert wird und sich dadurch die zu leistende Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet (vgl. BAG a.a.O.).

bb.

Unter Zugrundelegung der vom Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 21.03.2018 niedergelegten Erwägungen kann jedoch bereits keine „erheblich weniger günstige Zuschlagsregelung“ bzw. „deutliche Schlechterstellung“ der Nachtarbeit leistenden Schichtarbeitnehmer bei der Bezahlung der Nachtarbeit im Verhältnis zu den Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen leisten, festgestellt werden.

In dem vom Bundesarbeitsgericht zu beurteilenden Manteltarifvertrag der Textilindustrie Nordrhein-Westfalens wurde der Nachtarbeitszuschlag außerhalb der Schicht bereits ab der ersten Stunde ausgelöst, wohingegen die im Rahmen einer Nachtschicht geleistete Nachtarbeit von weniger als sechs Stunden zuschlagsfrei bleiben sollte. Diese Differenzierung findet sich im vorliegenden MTV gerade nicht. Nach dem hier in streitstehenden MTV ist durchweg ab der ersten Stunde ein Nachtarbeitszuschlag zu zahlen.

Darüber hinaus sah der MTV der Textilindustrie Nordrhein-Westfalens vor, dass der tarifliche Nachtarbeitszeitraum für Schichtarbeitnehmer in Mehrschichtsystemen zwei Stunden und im Zwei-Schicht-System vier Stunden kürzer als bei Nachtarbeitnehmern ist. Auch diese vom Bundesarbeitsgericht herausgestellte Schlechterstellung ist im hier zu beurteilenden Tarifwerk nicht vorhanden.

Schließlich betrug der Zuschlag mit 50 % für eine Nachtarbeitsstunde außerhalb des Schichtsystems mehr als das Dreifache gegenüber dem Zuschlag für Nachtarbeit im Schichtbetrieb mit 15 %. Diese Differenz fällt bei dem streitgegenständlichen MTV mit 25 % deutlich geringer aus.

cc.

Die vorgenommene Differenzierung ist zudem durch sachlich vertretbare Gründe gerechtfertigt.

(1)

Nach Auffassung der Kammer ist es zunächst nicht zu beanstanden, dass die Tarifvertragsparteien durch die differenzierten Nachtarbeitszuschläge unterschiedliche Arbeitsbelastungen der Arbeitnehmergruppen ausgleichen wollten. Insoweit kann es berechtigt sein, Arbeitnehmern die sich mit zeitlichem Vorlauf auf ihre Nachtschicht einstellen und Dispositionen treffen können, einen geringeren Nachtarbeitszuschlag zu zahlen, als jenen die sporadisch ad hoc, ohne jegliche Möglichkeit zur Planung zur Nachtarbeit herangezogen werden. Die sozialen Folgen sind im letzteren Fall weitaus kritischer zu beurteilen. Denn die unregelmäßige und ungeplante Heranziehung greift in ungleich höherem Maße in das Familien- und Freizeitverhalten des Betroffenen ein, als bei Arbeitnehmern die nach einem Schichtplan tätig sind (vgl. BAG v. 11.12.2013 – 10 AZR 736/12, AP Nr. 103 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel).

(2)

Jedoch sollen die Nachtarbeitszuschläge nicht nur die regelmäßig mit der Nachtarbeit einhergehenden Belastungen der Arbeitnehmer kompensieren. Mit dem Zuschlag für „sonstige unplanbare“ Nachtarbeit soll im Verhältnis zur üblichen Nachtarbeit vielmehr die sonstige, also unregelmäßige anfallende Nachtarbeit im weit größeren Umfang „verteuert werden“, um damit die Schwelle zur Anordnung möglichst weit zu erhöhen. Der Regelung kommt damit Sanktionscharakter zu, der die Arbeitgeber anhalten soll nur dosiert bzw. moderat von diesem Instrument Gebrauch zu machen. Diesem Zweck wird durch die unterschiedliche Ausgestaltung Rechnung getragen.

(3)

Im Hinblick auf die Frage der sachlichen Rechtfertigung sind zudem die getroffenen Regelungen im streitgegenständlichen MTV in ihrer Gesamtstruktur zu gewichten. Dabei sind anstelle einer singulären Betrachtung der tariflichen Regelungen des § 5 Ziff. 2b) sowie Ziff. 2c) MTV insbesondere auch die Regelungen zu den Mehrarbeitszuschlägen unter Berücksichtigung des § 5 Ziff. 2a) sowie Ziff. 3b) miteinzubeziehen.

Hervorzuheben ist § 5 Ziff. 3b) MTV, wonach Mehrarbeitszuschläge im Nachtarbeitszuschlag von 50 % für die unregelmäßige Nachtarbeit bereits „einberechnet“ sind, da hiernach lediglich der höchste von mehreren Zuschlägen gezahlt wird. Der Nachtarbeitszuschlag von 25 % für Nachtschichtarbeit gemäß § 5 Ziff. 2c) MTV ist dagegen ausdrücklich von dieser Regelung ausgenommen. Dies zeigt, dass die Tarifvertragsparteien bei der unregelmäßigen Nachtarbeit davon ausgegangen sind, dass dieser regelmäßig der Charakter von Mehrarbeit zukommt und deshalb der Mehrarbeitszuschlag bereits Berücksichtigung gefunden hat. Da es sich bei der Nachtschichtarbeit dagegen regelmäßig gerade nicht um Mehrarbeit, sondern um reguläre Arbeitszeit handelt, wird bei dieser im Falle von auftretender Mehrarbeit – etwa bei Antritt der Arbeit vor 22.00 Uhr – der Mehrarbeitszuschlag in Höhe von 25 % gemäß § 5 Ziff. 2a) MTV gerade nicht „einberechnet“, sondern zusätzlich gewährt. Ein Zusammentreffen des Zuschlages für Mehrarbeit und Nachtarbeit kann demnach nicht ausgeschlossen werden. Daraus lässt sich schließen, dass die Tarifvertragsparteien, das unterschiedliche Wesen der regelmäßigen und unregelmäßigen Nachtarbeit erkannt und bewusst differenziert ausgestaltet haben.

Bei Zugrundelegung dieser Erwägungen verfolgt § 5 Ziff. 3b) MTV den Zweck, im Ergebnis eine Doppelbegünstigung der unregelmäßigen Nachtarbeit auszuschließen, also den zusätzlichen Erhalt des Mehrarbeitszuschlags von 25 % neben dem Nachtarbeitszuschlag von 50 %. Stattdessen wird die regelmäßige Nachtschichtarbeit durch die Gewährung des zusätzlichen Mehrarbeitszuschlags nach § 5 Ziff. 3b) für den Fall des Zusammentreffens mit Mehrarbeit mit dem Nachtarbeitszuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit gleichsetzt. Die unterschiedliche Höhe der Zuschläge ist damit in erster Linie dem Differenzierungsmerkmal der Mehrarbeit geschuldet.

dd.

Diese Gesamtbetrachtung führt zu dem Ergebnis, dass die Tarifvertragsparteien durch die genannten Regelungen bewusst ein ausdifferenziertes System entwickelt haben, welches durch die aufgezeigten Erwägungen seine Rechtfertigung erfährt.

Für die Frage der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer in Nachtschichtarbeit und unregelmäßiger Nacharbeit kommt es schließlich nicht darauf an, ob im Betrieb der Beklagten die unregelmäßige Nachtarbeit tatsächlich einen absoluten Ausnahmefall darstellt. Dies kann vorliegend dahinstehen, da es für die Wirksamkeit der differenzierenden tariflichen Norm auf die Rechtslage nach dem Tarifvertrag ankommt. Die Handhabung der Regelung in der Praxis liegt dagegen allein in den Händen der Arbeitsvertragsparteien, sodass sich hieraus keine Rückschlüsse auf den Willen der Tarifvertragsparteien entnehmen lassen.

Die weiter aufgeworfenen Rechtsfragen konnten vor diesem Hintergrund dahinstehen.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Danach waren der klagenden Partei als unterlegener Partei die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

III.

Der Wert des Streitgegenstandes war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Hierfür wurde der Nennwert der streitgegenständlichen Forderungen zugrunde gelegt.

IV.

Die Berufung war gemäß § 64 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Zum einen erstreckt sich der Geltungsbereich des Manteltarifvertrages für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/B. v. 23.08.2005 über den Bezirk des Arbeitsgerichts Oldenburg hinaus und die Parteien streiten u. a. über die Auslegung dieses Tarifvertrages, sodass die Voraussetzungen des § 64 Abs. 2 Ziff. 2 b) ArbGG erfüllt sind. Zum anderen hat der gegenständliche Rechtsstreit im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 (Az. 10 AZR 34/17) grundlegende Bedeutung gem. § 64 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass differenzierende Regelungen zur Vergütung von Nachtarbeit in Tarifverträgen aktuell in großer Zahl Gegenstand arbeitsgerichtlicher Verfahren sind.