Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.02.1990, Az.: 4 L 30/89

Fahrgeldausfälle; Schwerbehinderte; Beförderungsleistung; Härteklausel

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.02.1990
Aktenzeichen
4 L 30/89
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1990, 13066
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1990:0228.4L30.89.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade 15.09.1988 - 1 A 37/86
nachfolgend
BVerwG - 25.07.1990 - AZ: BVerwG 7 B 100/90

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 1. Kammer Lüneburg - vom 15. September 1988 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Mit Bescheiden vom 11. Juni 1981 regelte die Beklagte auf Antrag der Klägerin die Fahrgeldausfällen von Fahrgeldausfällen nach dem Schwerbehindertengesetz für das Jahr 1980, mit Bescheiden vom 11. Mai 1982 für das Jahr 1981 und mit Bescheiden vom 5. Mai 1983 für das Jahr 1982. Die Klägerin legte gegen die Festsetzungsbescheide vom 11. Mai 1982 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 1982 zurückwies, und erhob Klage (1 VG A 145/82 - VG Stade - Kammern Lüneburg -). Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. Oktober 1984 (BVerfGE 68, 155), das dem Gesetzgeber aufgab, § 60 SchwbG durch eine Regelung für Härtefälle zu ergänzen, verhandelten Klägerin und Beklagte über einen Vergleich. Die Klägerin verlangte mit Schriftsatz vom 31. Januar 1985 für die Jahre 1980 und 1982 höhere Erstattung. Die Beteiligten einigten sich außergerichtlich über die Erstattung für die Jahre 1981 und 1983 sowie für die Zeit vom 1. Januar 1984 bis zum 31. März 1984. Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 1985 teilte die Klägerin mit, sie gehe davon aus, daß sie mit der Klage das zusätzliche Beförderungsentgelt für 1981 "geltend gemacht habe und nehme unter dieser Voraussetzung die Klage zurück". Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren mit Beschluß vom 23. Dezember 1985 eingestellt.

2

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 1986, in dem sie den Schriftsatz vom 31. Januar 1985 in dem Verfahren 1 VG A 145/82 als Widerspruch gegen die Bescheide vom 11. Juni 1981 und gegen die Bescheide vom 5. Mai 1983 wertete, wies die Beklagte diesen als verspätet zurück.

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Am 27. Februar 1986 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie geltend macht, ihr Begehren, für die Jahre 1980 und 1982 eine höhere Erstattung zu erhalten, sei von der Wendung in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. Oktober 1984 (aaO) erfaßt, wonach "für unabgewickelte Härtefälle aus früherer Zeit" der Gesetzgeber eine ergänzende Regelung werde treffen müssen, sofern sich dies nicht "durch eine vergleichsweise Bereinigung dieser Fälle" erübrige; denn ihre Erstattungsanträge hätten solche Gesichtspunkte wegen des Fehlens einer gesetzlichen Regelung nicht zum Inhalt gehabt. Der Schriftsatz vom 31. Januar 1985 sei kein Widerspruch, sondern ein Antrag auf Erstattung aus Härtegründen, verbunden mit einem Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens.

4

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. September 1988 - der Klägerin zugestellt am 30. September 1988 - abgewiesen. Es hat ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet, weil die Erstattungsverfahren für die Jahre 1980 und 1982 im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes "abgewickelt seien". "Unabgewickelte Härtefälle" im Sinne von § 79 Abs. 2 BVerfGG seien nicht solche Fälle, die durch bestandskräftige (unanfechtbare) Bescheide geregelt worden seien. Widerspruch habe die Klägerin - fristgerecht - nur gegen die Bescheide vom 11. Mai 1982 eingelegt, und nur auf diese Bescheide habe sich die Klage in dem Verfahren 1 VG A 145/82 bezogen. Die Klägerin habe nicht mit der Beklagten vereinbart, dieses Verfahren als "Muster" für die Erstattung in den übrigen Jahren zu betrachten. Eine schriftliche Äußerung, aus der das Begehren hervorgehe, eine - höhere - Erstattung für die Jahre 1980 und 1982 zu erhalten, finde sich erstmals in dem Schriftsatz vom 31. Januar 1985, den die Beklagte zu Recht als Widerspruch gewertet und zu Recht als verspätet zurückgewiesen habe. Die Klägerin könne mit ihrem Begehren auch nicht zum Erfolg gelangen, wenn dieser Schriftsatz als "erstmaliger Härtefallantrag" zu betrachten sei. Ein solches Begehren könne wegen der Bestandskraft der Bescheide vom 11. Mai 1982 keinen Erfolg haben. Dabei sei es unbeachtlich, ob die Klägerin mit ihren Erstattungsanträgen, die zu den Bescheiden vom 11. Mai 1982 geführt hätten, die Vorstellung verbunden habe, die ihr bereits damals bekannten Härtegründe seien nicht Gegenstand dieses Erstattungsverfahrens. Eine Aufspaltung in getrennte Verfahren für "reguläre Erstattung" und "Härtefallerstattung" sei nach dem Sinn und Zweck des § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht möglich. Diese Vorschrift wolle nur demjenigen die Folgen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zugute kommen lassen, der das ihn betreffende Verwaltungsverfahren "mit dem entsprechenden Kostenrisiko durch Rechtsmittel offengehalten" habe. Es würde deshalb eine Umgehung dieser Vorschrift bedeuten, wenn man auch anderen Betroffenen "auf Kosten der Rechtssicherheit" dieselbe Rechtsstellung einräume, wie dem durch § 79 Abs. 2 BVerfGG begünstigten Personenkreis. Darin liege auch der Grund, daß der Schriftsatz vom 31. Januar 1985 weder als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch als Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens Erfolg haben könne.

5

Mit ihrer Berufung vom 28. Oktober 1988 macht die Klägerin geltend:

6

Es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn die Beklagte sich auf die Bestandskraft ihrer Bescheide vom 11. Juni 1981 und 5. Mai 1983 berufe. Ihr habe nämlich klar sein müssen, daß sie, die Klägerin, das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht 1 VG A 145/82 als "Musterprozeß" betrachtet habe und deshalb davon abgesehen habe, die Bescheide vom 11. Juni 1981 und 5. Mai 1983 anzufechten.

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Sie beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichtes zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, gemäß dem Antrag vom 31. Januar 1985 die Fahrgeldausfälle für die Jahre 1980 und 1982 zu erstatten und die Bescheide der Beklagten vom 11. Juni 1981, 5. Mai 1983 und 30. Januar 1986 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen,

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hilfsweise,

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die Beklagte zu verpflichten, das Verwaltungsverfahren aufgrund des Antrages vom 31. Januar 1985 wiederaufzugreifen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichtes.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist nicht begründet.

16

Der Senat weist sie aus den Gründen des angefochtenen Urteils (Art. 2 § 6 EntlG) zurück und sieht daher davon ab, die Ausführungen des Verwaltungsgerichtes zu wiederholen; ergänzende Ausführungen sind nur erforderlich, soweit es um das Begehren geht, das Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen.

17

Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtes haben andere Gerichte in Parallelverfahren geteilt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluß vom 23. November 1988 - BVerwG 7 B 181.88 - ausgeführt:

18

"Der in § 60 des Schwerbehindertengesetzes durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 eingeführte Absatz 5 gewährt den aufgrund einer Verkehrszählung zu bemessenden höheren Ausgleich erst für ab dem 1. April 1984 unentgeltlich erbrachte Beförderungsleistungen (Art. 39 Abs. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984). Der Wille des Gesetzgebers ist insoweit eindeutig, so daß eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift oder ihre analoge Anwendung auf vor diesem Zeitpunkt erbrachte Leistungen ausscheidet. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 17. Oktober 1984 (BVerfGE 68, 155) entschieden, die bis zum 31. März 1984 geltende Regelung für den Ausgleich unentgeltlicher Beförderung Schwerbehinderter sei mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar, als sie im Unterschied zur Folgezeit keine Härteklausel wie die des § 60 Abs. 5 des Schwerbehindertengesetzes enthalten habe. Das bedeutet aber keineswegs, daß die aufgrund einer atypischen Situation ohne zureichenden sachlichen Grund unverhältnismäßig stark belasteten Verkehrsunternehmen einen unmittelbaren, aus der Verfassung abzuleitenden Ausgleichsanspruch hätten. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr ausdrücklich betont, daß es dafür einer ergänzenden Regelung durch den Gesetzgeber bedürfe (zur Ablehnung eines verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruchs bei verfassungswidrig unzureichender gesetzlicher Regelung vgl. auch Urteil des Senats vom 17. März 1988 - BVerwG 7 C 99.86 - DVBl 1988, 587 (588)[BVerwG 17.03.1988 - 7 C 99/86]). Die Klägerin kann aber auch nicht für die Jahre 1981 bis 1983 einen Ausgleich nach Maßgabe einer für diesen Zeitraum noch zu erlassenden - verfassungsmäßigen - gesetzlichen Härteklausel beanspruchen. Denn über ihren Ausgleichsanspruch für die Jahre 1981 bis 1983 ist bestandskräftig entschieden. Erkennt das Bundesverfassungsgericht, daß die gesetzliche Regelung eines verfassungsmäßig gebotenen Leistungsanspruchs in verfassungswidriger Weise unvollständig ist, führt das nicht zur Verpflichtung des Gesetzgebers, alle Altfälle, nämlich auch die bereits durch unanfechtbare Entscheidungen abgewickelten, wieder aufzugreifen. § 79 Abs. 2 BVerfGG regelt dies für unanfechtbare Entscheidungen, die auf ein für nichtig erklärtes Gesetz gestützt sind, ausdrücklich. Nichts anderes gilt, wenn das Bundesverfassungsgericht - wie hier - ein gesetzgeberisches Unterlassen für verfassungswidrig hält, für solche Altfälle, in denen über eine Leistung unter Geltung der - verfassungswidrig - unzureichenden gesetzlichen Regelung unanfechtbar entschieden worden ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht im schon erwähnten Beschluß vom 17. Oktober 1984 (aaO S. 175) damit zum Ausdruck gebracht, daß es eine ergänzende Regelung durch den Gesetzgeber nur "für unabgewickelte Härtefälle aus der früheren Zeit" für erforderlich gehalten hat, und zwar auch nur, "sofern sich dies nicht durch eine vergleichsweise Bereinigung dieser Fälle erübrigt". Im letzteren Vorbehalt kommt deutlich zum Ausdruck, daß mit den "unabgewickelten Fällen" diejenigen gemeint sind, über die noch nicht unanfechtbar entschieden ist."

19

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit diesem Beschluß die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 1988 - 12 A 59/88 - zurückgewiesen. In diesem Urteil hat das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz ausgeführt, in Fällen dieser Art bestehe - sei ein Erstattungsbescheid bestandskräftig geworden - ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nicht.

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Auch die Klägerin kann nicht mit Erfolg verlangen, daß die Beklagte das Verwaltungsverfahren wegen der Erstattung für die Jahre 1980 und 1982 wiederaufgreift und die Bestandskraft der Bescheide vom 11. Juni 1981 und 5. Mai 1983 beseitigt. Der Senat läßt dahinstehen, ob sich ein solches Begehren nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X oder nach allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrensrechtes beurteilt. Jedenfalls steht es im Ermessen der Behörde, ob sie das Verwaltungsverfahren wiederaufgreift. Dieses Ermessen hat die Beklagte allerdings nicht erkannt. Gleichwohl ist sie nicht zur Neubescheidung zu verpflichten, weil ihr Ermessen "auf Null reduziert" war. Abzuwägen ist in Fällen dieser Art zwischen dem Interesse an der Rechtmäßigkeit der Verwaltung und dem Interesse an Rechtssicherheit. Beide Rechtsgüter haben, für sich betrachtet, gleiches Gewicht (Senat, Urt. v. 13. 1. 1988 - 4 OVG A 85/87 -). Hier gibt aber § 79 Abs. 2 BVerfGG der Rechtssicherheit eindeutig den Vorrang.

21

Der Hinweis der Klägerin, die Beklagte handele treuwidrig, wenn sie es bei der Bestandskraft der Bescheide vom 11. Juni 1981 und 5. Mai 1983 (diese Bescheide, die nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen worden sind, sind gemäß § 58 Abs. 2 VwGO nach Ablauf der dort genannten Frist bestandskräftig geworden) belasse, trifft nicht zu. Zu den Bescheiden vom 11. Juni 1981 ist zu bemerken: Diese Bescheide sind bereits bestandskräftig geworden, ehe die Klägerin im Verfahren 1 VG A 145/82 - VG Stade - Kammern Lüneburg - Klage erhoben hat. Auch wegen der Bescheide vom 5. Mai 1983 durfte die Klägerin berechtigterweise nicht annehmen, diese Bescheide würden wegen des eben genannten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht in Bestandskraft erwachsen. Dieses Verfahren ist nicht "als Musterverfahren" geführt worden. Die Klägerin hat auch nicht substantiiert behauptet, sie habe sich mit der Beklagten auch wegen der Erstattung für das Jahr 1982 auf ein "Musterverfahren" geeinigt, ganz abgesehen davon, daß ein solcher Vertrag gemäß § 56 SGB X der Schriftform bedurft hätte. Die Klägerin hatte vielmehr nur, wenn man ihrem Vortrag folgt, die irrige - und einseitige - Vorstellung, wegen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens - 1 VG A 145/82 - würden die Bescheide vom 5. Mai 1983 noch einer Überprüfung in der Sache zugänglich sein, obwohl diese Bescheide nicht mit dem Widerspruch angefochten worden waren.

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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 167, 188 Satz 2 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO.

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Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), bestehen nicht.

24

Jacobi

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Klay

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Atzler