Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 19.10.1994, Az.: SS 424/94
Gerichtliche Aufklärungspflichten bezüglich einer Entschuldigung für das Fernbleiben eines Betroffenen in der Hauptverhandlung; Klärung der Entschuldigung durch das Gericht im Wege des Freibeweises; Vorliegen einer genügenden Entschuldigung bei Vorlage eines ärztlichen Attests
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 19.10.1994
- Aktenzeichen
- SS 424/94
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1994, 23578
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1994:1019.SS424.94.0A
Rechtsgrundlage
- § 74 Abs. 2 OWiG
Amtlicher Leitsatz
Ob das Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung entschuldigt ist, hat das Gericht im Wege des Freibeweises zu klären.
Gründe
Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße von 250,-- DM festgesetzt und ein allgemeines Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen greift mit der Verfahrensrüge durch.
Das Urteil war aufzuheben, weil nicht auszuschließen ist, daß das Amtsgericht unter Verletzung des Anwesenheitsrechts des Betroffenen ohne ihn verhandelt hat und das Urteil auch darauf beruht. Das Amtsgericht hatte zur Hauptverhandlung am 12. April 1994 den Betroffenen unter Anordnung seines persönlichen Erscheinens geladen. Im Termin erschien der Betroffene nicht. Sein Verteidiger legte ein ärztliches Attest vom 12. April 1994 vor, wonach der Betroffene "aus gesundheitlichen Gründen am heutigen Gerichtstermin nicht teilnehmen" konnte. Das Amtsgericht sah den Betroffenen danach als nicht ordnungsgemäß entschuldigt an. Es verhandelte die Sache gegen den Widerspruch des Verteidigers. Dieser beantragte abschließend die Anberaumung eines neuen Termins. Danach ist nicht auszuschließen, daß das Amtsgericht bei seiner Entscheidung, ohne den Betroffenen zu verhandeln, den Begriff der genügenden Entschuldigung im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG verkannt hat. Es ist nicht darauf abzustellen, ob der Betroffene sich hinreichend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt war (vgl. Göhler, OWiG, 10. Aufl., Rn. 29 zu § 74 mit weiteren Hinweisen). Angesichts des vorgelegten ärztlichen Attestes ist es zumindest nicht fernliegend, daß der Betroffene verhandlungsunfähig war (vgl. im übrigen OLG Düsseldorf VRS 78, 138). Bei dieser Sachlage hätte der Tatrichter aufgrund seiner Aufklärungspflicht im Wege des Freibeweises klären können und müssen, ob das Ausbleiben des Betroffenen entschuldigt war (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Karlsruhe, Justiz 1989, 330; Beschluß des Senats vom 7. Juni 1994 - Ss 226/94 -). Zwar ist die Beweiserhebung hierbei auf die Verwendung solcher Beweismittel zu beschränken, deren Benutzung nicht so zeitraubend ist, daß durch sie eine nicht unerhebliche Verzögerung einträte und damit der mit § 74 Abs. 2 OWiG verfolgte Zweck verhindert würde. Deshalb hat das Gericht nur solche Ermittlungen anzustellen, die zu einer geringfügigen Verzögerung der Entscheidung führen, nicht aber solche, die im Ergebnis eine gerade zu vermeidende Aussetzung der Hauptverhandlüng bewirken. Im vorliegenden Fall wäre die Frage der Verhandlungsfähigkeit des Betroffenen durch ein kurzes Telefongespräch mit dem Aussteller des Attestes zu klären gewesen.
Ohne eine solche Klärung liegen die Voraussetzungen für eine Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen nicht vor. Das hat das Amtsgericht auch nicht verkannt, weil es andernfalls bei seiner Entscheidung, in Abwesenheit des Betroffenen zu verhandeln, nicht auf die Frage der Entschuldigung abgestellt hätte (vgl. dazu im übrigen OLG Oldenburg, NdsRPfl 1988, 2801. Die Tatsache, daB der Verteidiger sich, obwohl er der Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen widersprochen hatte, zur Sache eingelassen hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Zum einen hat er, wie auch sein Schlußantrag zeigt, nicht etwa im Namen des Betroffenen auf dessen Anwesenheitsrecht verzichtet. Zum anderen setzt die ein Sachurteil ermöglichende Aussagebereitschaft des Verteidigers neben anderem vor allem voraus, daß der Betroffene eigenmächtig, d.h. ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen ist (vgl. KK-Senge, OWiG, Rn. 27 zu § 74). Diese Voraussetzung hat das Amtsgericht aber gerade nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Der Senat hat die Sache nach § 79 Abs. 6 OWiG an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.