Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 18.04.2002, Az.: 12 A 6739/98

Aufstockung; Drittschutz; Geschossanzahl; Nachbarschutz

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
18.04.2002
Aktenzeichen
12 A 6739/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43449
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

In einem mit viergeschossigen Altbauten besetzten Baugebiet begründet ein fünfgeschossiges Gebäude, das mit seiner Traufe, seiner Dachfläche bzw. seinem First nicht über das Nachbargebäude hinausragt, keine wesentlichen und den Nachbarn in seinen Rechten verletzende Beeinträchtigung.

Tatbestand:

1

Die Kl. wenden sich gegen die Aufstockung eines Nachbargebäudes. Sie sind Eigentümer eines aus vier Vollgeschossen bestehenden Hotelgebäudes in der Altstadt von H. Die Beigel. ist Eigentümerin des in geschlossener Bauweise errichteten westlich angrenzenden weiteren Hotelgebäudes, das ebenfalls aus vier Vollgeschossen besteht, die allerdings eine geringere Deckenhöhe als das Gebäude der Kl. aufweisen. Zwischen den Gebäuden befindet sich ein ca. 3 x 4,40 m großer Lichthof, dessen Fläche zu einem größeren Teil von dem Grundstück der Beigel. und zu einem geringeren Teil von dem Grundstück der Kl. gebildet wird. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 419 der Bekl. mit der Bezeichnung (...) vom 29.5.1985, der für beide Grundstücke ein Allgemeines Wohngebiet in geschlossener Bauweise festsetzt. Die Zahl der Vollgeschosse ist zwingend mit "III" angegeben. Mit dem hier streitbefangenen Bauschein vom 22.4.1997 erteilte die Bekl. der Beigel. die Baugenehmigung für den "Umbau und die Erweiterung des Dachgeschosses" ihres Hotelgebäudes. Die Baumaßnahme umfasst nach den "grün" gestempelten Bauvorlagen die Aufstockung des vorhandenen Dachgeschosses des Gebäudes der Beigel. auf einer Teilfläche um ein fünftes Geschoss mit einer Wohnung ("2. Dachgeschoss"). Zu diesem Zweck wurden u.a. die Nordwand und die Westwand des Lichthofes auf dem Grundstück der Beigel. um ca. 2,56 m erhöht. Das Gebäude der Beigel. mit dem "2. Dachgeschoss" überschreitet die Höhe des Gebäudes der Kl. nach den Bauvorlagen nicht. Die gegen diese Baugenehmigung von den Kl. erhobene Klage hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe

2

Die der Beigel. von der Bekl. am 22.4.1997 erteilte Baugenehmigung für den "Umbau und die Erweiterung des Dachgeschosses" verletzt keine Nachbarrechte der Kl..

3

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Bekl. mit der Baugenehmigung vom 22.4.1997 gegen die §§ 30 I, 9 I Nr. 1 BauGB in Verbindung mit § 16 II Nr. 3, IV 2 BauNVO verstoßen hat, indem sie abweichend von der Festsetzung ihres Bebauungsplans Nr. 419 vom 29.5.1985, der die Zahl der Vollgeschosse zwingend auf drei begrenzt, im Gebäude der Beigel. ein fünftes Geschoss über einem vierten bestandsgeschützten Vollgeschoss zugelassen hat. Denn die Festsetzung hat vorliegend keinen nachbarschützenden Charakter. Die Festsetzung einer bestimmten Zahl von Vollgeschossen dient im Regelfall ausschließlich öffentlichen Interessen vor allem städtebaulicher Art (vgl. BVerwG NVwZ 1996, 170 f.; vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 25.5.1998 - 6 L 2287/94 - Entscheidungsabdr. S. 8 f.; Fickert/Fieseler, BauNVO, 8. Aufl., § 16 Rdnr. 59.1 ff.). Nur im Ausnahmefall, wenn z.B. die durch eine Hanglage ermöglichte Aussicht geschützt werden soll, kann die Festsetzung drittschützenden Charakter haben. Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben. In der vom Rat der Bekl. am 29.5.1985 beschlossenen Begründung zum Bebauungsplan Nr. 419 ist auf S. 7 ausgeführt: "3.5 Zahl der Vollgeschosse: Die vorhandene Straßenrandbebauung weist in großen Teilen des Plangebietes unterschiedliche Geschosszahlen auf. Dieser historisch gewachsenen Besonderheit wird mit der Festsetzung unterschiedlicher Geschosszahlen Rechnung getragen." Danach dient die Festsetzung der Zahl der Vollgeschosse ausschließlich der Erhaltung des Altstadtbildes und nicht der Wahrung nachbarlicher Belange.

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Es kann deshalb auch vernachlässigt werden, dass die Bekl. der Beigel. mit dem streitbefangenen Bauschein nicht die Errichtung eines weiteren Vollgeschosses genehmigt hat, weil das "2. Dachgeschoss" gemäß § 20 I BauNVO in Verbindung mit § 2 IV NBauO nicht die Maße eines Vollgeschosses erreicht. Dies ergibt sich aus der von der Bekl. zur Gerichtsakte gereichten Berechnung, die von den Kl. zudem nicht substantiiert angegriffen worden ist. Auch wurde das darunter liegende Dachgeschoss im Gebäude der Beigel. nicht erst mit der Genehmigung des "2. Dachgeschosses" zum Vollgeschoss. Denn dieses ist schon mit dem Bauschein vom 11.2.1983 als Vollgeschoss genehmigt worden. Hierüber waren sich die Beteiligten bereits in der mündlichen Verhandlung vor der früheren 1. Kammer Hildesheim am 23.11.1994 einig (Niederschrift Bl. 57 GA 1 A 214/91. Hi). Weil die Bekl. der Beigel. mit dem Bauschein vom 22.4.1997 nicht die Errichtung eines weiteren (fünften) Vollgeschosses genehmigt hat, bedarf es auch keiner Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 II BauGB.

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In der Genehmigung eines fünften Geschosses in dem Gebäude der Beigel. über einem vierten bestandsgeschützten Vollgeschoss liegt auch kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot, das sich vorliegend aus einer entsprechenden Anwendung des § 15 I BauNVO ergibt. Die Zulassung des fünften Geschosses begründet vorliegend keinen über das zumutbare Maß hinausgehenden Eingriff in das Eigentum der Kl.. Das Vorhaben ist ausgeführt. Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass das Gebäude der Beigel. einschließlich des streitbefangenen fünften Geschosses - die Schornsteine, Antennenaufbauten und Entlüftungsstutzen hinweggedacht - immer noch um ca. 0,60 bis 0,70 m niedriger ist als das benachbarte viergeschossige Gebäude der Kl. Die Höhendifferenz ist auf dem während der Ortsbesichtigung gefertigten Lichtbild Nr. 4 dokumentiert. Auch aus den genehmigten Bauvorlagen wird deutlich, dass das Vorhaben die Höhe des Gebäudes der Kl. nicht überragt. In einem mit viergeschossigen Altbauten besetzten Baugebiet begründet ein fünfgeschossiges Gebäude, das mit seiner Traufe, seiner Dachfläche bzw. seinem First nicht über das Nachbargebäude hinausragt, keine wesentlichen und den Nachbarn in seinen Rechten verletzende Beeinträchtigung (vgl. Fickert/Fieseler, aaO, § 16 Rdnr. 59.2 mwN), zumal der auf dem vierten Vollgeschoss errichtete Treppenhausausgang mit gleicher Höhe bereits seit 1983 bestandskräftig genehmigt ist. Auch die genehmigte Wohnnutzung des Vorhabens über einem bestandskräftig genehmigten Hotel unterscheidet sich nicht in störender Weise von der auf gleicher Höhe ausgeübten Hotelnutzung ihres Gebäudes durch die Kl.. Eine Beeinträchtigung des Gebäudes der Kl. durch die zugleich genehmigte Terrassennutzung auf der südlichen Dachhälfte des vierten Vollgeschosses der Beigel. ist ebenfalls nicht erkennbar.

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Entgegen der Rechtsauffassung der Kl. hat das genehmigte Vorhaben auch keinen Grenzabstand von mindestens 3 m einzuhalten. Der Bebauungsplan Nr. 419 schreibt gemäß § 22 III BauNVO geschlossene Bauweise vor. Gemäß § 8 I NBauO ist danach die Grenzabstandsvorschrift des § 7 III NBauO nicht anzuwenden. Im Übrigen wäre die Geltendmachung eines Verstoßes gegen die §§ 7 ff. NBauO dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung ausgesetzt, weil die Kl. mit ihrem Gebäude in diesem Bereich ebenfalls keinen Grenzabstand einhalten (OVG Lüneburg, Urteil vom 25.5.1998, aaO, S. 8).

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Schließlich verletzt die Baugenehmigung auch nicht § 1 V 1 in Verbindung mit II 1 NBauO. Nach dieser Vorschrift dürfen Baumaßnahmen keine Verhältnisse schaffen, die den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse widersprechen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach § 43 IV NBauO Aufenthaltsräume über Fenster ausreichend zu belichten und belüften sind. Aus den genehmigten Bauvorlagen und aufgrund der Ortsbesichtigung hat sich ergeben, dass durch die genehmigte Baumaßnahme die Nordwand und die Westwand des Lichthofes auf dem Grundstück der Beigel. zwischen den Gebäuden der Beigel. und der Kl. um ca. 2,56 m erhöht worden ist. Auf eine damit verbundene Einschränkung des Tageslichtraumprofils können sich die Kl. jedoch nicht berufen, weil die auf ihrem Grundstück liegenden Wände des Lichthofes die von der Beigel. verursachte Erhöhung noch um ca. 0,60 m bis 0,70 m überragen. Hinzu kommt, dass durch die Einschränkung des Tageslichtraumprofils im Dachgeschoss und im 1. Obergeschoss des Gebäudes der Kl. keine Aufenthaltsräume im Sinne von § 43 I NBauO betroffen sind. Denn bei den in diesen Geschossen genehmigten und zum Lichthof hin ausgerichteten Bädern und dem einen Abstellraum handelt es sich um keine Aufenthaltsräume im Sinne dieser Vorschrift (Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 7. Aufl., § 43 Rdnr. 11). Dass durch die Baumaßnahme nunmehr ungesunde Wohnverhältnisse in diesen beiden Geschossen geschaffen werden, hat die Ortsbesichtigung ebenfalls nicht ergeben. Eine Beeinträchtigung der im Gebäude der Kl. zum Lichthof hin ausgerichteten Räume des Erdgeschosses und des 1. Obergeschosses liegt nach dem Ergebnis der Ortsbesichtigung bereits deshalb nicht vor, weil die Zuführung von Tageslicht auf dem Grundstück der Kl. bereits durch eine grenzständige Mauer sowie eine auf dem Grundstück der Kl. angebrachte lichtdurchlässige Verkleidung in Art einer Gewächshauseindeckung eingeschränkt ist. Den Kl. ist es jedoch verwehrt, eine Verschattung ihrer Räume zu rügen, die sie im wesentlichen bereits durch eigene Baumaßnahmen hervorgerufen haben. Die von ihnen behauptete Durchfeuchtung des Mauerwerks konnte in der Beweisaufnahme bereits deshalb nicht festgestellt werden, weil die Fassade ihres Gebäudes im Bereich des Lichthofes oberhalb des 1. Obergeschosses vollständig mit hellroten Faserzementplatten verkleidet ist. Eine Durchfeuchtung des Mauerwerks infolge der streitbefangenen Baumaßnahme ist danach nicht bewiesen.