Sozialgericht Aurich
Urt. v. 22.08.2019, Az.: S 55 AS 414/18
Bewilligung von Leistungen für die Bedarfe der Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen hinsichtlich Angemessenheit
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 22.08.2019
- Aktenzeichen
- S 55 AS 414/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 56287
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 4 SGB II
Tenor:
Der Bescheid vom 27.02.2018 geändert mit Bescheiden vom 13.04. und 26.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 nochmals geändert mit Bescheiden vom 06.06. und 26.06.2018 wird insoweit abgeändert, als dass der Klägerin weitere 671,16 Euro an Leistungen nach dem SGB II nachzuzahlen sind. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die rechtmäßige Höhe der der Klägerin im Rahmen ihrer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem 2. Buch des Sozialgesetzbuches - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zu stehenden Leistungen für die Bedarfe der Kosten der Unterkunft und Heizung.
Die Klägerin ist am G. 1981 geboren und lebt seit 2016 mit kurzer Unterbrechung im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten in der Gemeinde H ... Nach Zuzug wohnte sie zunächst bei einem Freund in dessen Wohnhaus und bezog mit diesem gemeinsam Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, da der Beklagte vom Bestehen einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft ausging. Die Klägerin leidet unter einer Abhängigkeitserkrankung mit verschiedentlichen Rückfällen. Infolgedessen verwies am 24.01.2018 der Freund die Klägerin des Hauses. Sie kam nach eigenen Angaben danach zeitweise bei ihrer Mutter in I. unter und war obdachlos. Am 09.02.2018 mietete sie dann wieder bei dem gleichen Freund zwei Zimmer im Dachgeschoss mit einer Wohnfläche von ca. 12 Quadratmetern und eine Garage zur Unterstellung eines Fahrrads zu einer Gesamtmiete von 230,00 Euro. Sie durfte gemeinsame Räumlichkeiten wie die Küche und Bad mitbenutzen sowie den großen Garten mitnutzen. (Vergleiche Anhörung der Klägerin sowie Mietbescheinigung vom 21.02.2018 (Blatt 527 Verwaltungsakte)). Am 16.02.2018 bat die Klägerin telefonisch um Zusendung eines Leistungsantrages. In der Folge besuchten zwei Mitarbeiterinnen der Gemeinde am 19.02.2018 die Klägerin an ihrer Wohnung und stellten einen getrennten Haushalt fest. (Blatt 522). Daraufhin bewilligte die für den Beklagten handelnde Gemeinde mit streitigem Bescheid vom 27.02.2018 Leistungen für die Klägerin alleine für die Zeit vom 13.02. bis 31.07.2018 (Blatt 557). Im Bescheid wird angeführt: "Da ihre Unterkunftskosten unangemessen hoch sind, " ohne hierfür eine konkrete Begründung oder gar Beträge zu nennen. Bezüglich der Unterkunftskosten wird ein Betrag von 85,92 Euro mit der Bezeichnung "Wohnungsgrundkosten Höchstbetrag" aufgenommen. Am 21.03.2018 legte die Klägerin Widerspruch bezüglich der Unterkunftskosten ein. Am 13.04.2018 erging ein Änderungsbescheid für Mai bis Juli 2018 (Blatt 584), am 26.04.2018 ein weiterer Änderungsbescheid für Juni 2018 bis Juli 2018 (Blatt 590) die aber jeweils keine Änderungen in Bezug auf die Unterkunftskosten ausweisen. Mit dem streitigen Widerspruchsbescheid vom 16.05.2018 half der Beklagte teilweise insoweit ab, als dass nunmehr Unterkunftskosten von 120,00 Euro zuzüglich 19,00 Euro Heizkosten angesetzt werden. Im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Am 06.06.2018 erging ein Änderungsbescheid in Ausführung der Regelung des Widerspruchsbescheides für den gesamten Zeitraum (Blatt 605) und am 26.06.2018 nochmals ein Änderungsbescheid für Juni 2017, dies aber nur wegen Kosten des Umgangs mit den Kindern (Blatt 618).
Die Klägerin ist der Auffassung, dass ihre Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe von 230,00 Euro Warmmiete angemessen seien und in voller Höhe zugrunde zu legen seien.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 27.02.2018, geändert am 13.04.2018 sowie 26.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 nochmals geändert mit Bescheiden vom 06.06. und 26.06.2018 dahingehend zu ändern, dass den Bedarfen die tatsächlichen Unterkunftskosten der Klägerin zugrunde gelegt werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass aufgrund der besonders kleinen Wohnung besonders niedrige Unterkunftskosten anzusetzen seien, welche sich auf einen Quadratmeterpreis von 10,00 Euro pro tatsächlich angemietetem Quadratmeter Wohnungsgröße beliefen. Gleichermaßen könnten Heizkosten nur für die tatsächlich angemietete Wohnfläche, hier 12 Quadratmeter beansprucht werden.
Die Kammer hat am 22.08.2019 eine mündliche Verhandlung in der Angelegenheit durchgeführt, auf deren Protokoll Bezug genommen wird.
Weiterer Gegenstand der Entscheidungsfindung war die Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie die Gerichtsakten der weiteren Verfahren der Klägerin, die an diesem Termin verhandelt wurden zu den Aktenzeichen 55 AS 597/17 und 55 AS 147/18 sowie die zu allen Verfahren der Klägerin überreichten Verwaltungsvorgänge.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist in vollem Umfange begründet. Der Bescheid des Beklagten bezüglich der Bewilligung der Leistungen nach dem SGB II für die Zeit Februar 2018 bis Juli 2018 ist auch in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 und der weiteren Änderungsbescheide in Bezug auf die Höhe der bewilligten Leistungen für die Bedarfe der Kosten der Unterkunft und Heizung rechtswidrig ergangen und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die rechtmäßig zu bewilligende Höhe der Bedarfe für Kosten der Unterkunft und Heizung beläuft sich auf die von der Klägerin zu zahlenden tatsächlichen Mietbeträge. Diese sind unter jedem Gesichtspunkt angemessen. Hinzu ist im Februar 2018 ein geringfügig längerer Anspruchszeitraum nachgewiesen.
Die Klägerin ist leistungsberechtigt im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die maßgebliche Altersgrenze nach § 7 a SGB II noch nicht erreicht, § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB II. Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II. Die Klägerin ist erwerbsfähig im Sinne der §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 8 SGB II, da dem Sachverhalt und dem Vorbringen der Beteiligten zwar Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Krankheit zu entnehmen sind, aber diese nicht die Klägerin an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 3 Stunden täglich hindern könnte. Die Klägerin ist in dem aus den angegriffenen Bescheiden sowie dem Tenor ersichtlichen Umfange hilfebedürftig. Sie kann voraussichtlich für die Dauer von 6 Monaten weder über ein eigenes den Hilfebedarf deckendes Einkommen gemäß § 11 SGB II noch über ein für die sofortige Verwertung zu berücksichtigendes Vermögen im Sinne des § 12 SGB II verfügen.
Die Klägerin kann vom Beklagten Leistungen für die Bedarfe der Kosten der Unterkunft in Höhe ihrer tatsächlichen Aufwendungen von 230,00 Euro Warmmiete monatlich gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II monatlich beanspruchen. Nach dieser gesetzlichen Regelung sind Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu bewilligen, soweit sie angemessen sind.
Das Gericht lässt es im Falle der Klägerin dahinstehen, ob nicht bereits aufgrund der Regelung des § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II die tatsächlichen Unterkunftskosten unabhängig von ihrer Höhe dem Bedarf zugrunde zu legen sind. Hierfür spräche sicherlich vieles, da den Akten keinerlei sogenannte Kostensenkungsaufforderung zu entnehmen ist, die nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit zwingend zu erteilen ist, bevor eine Absenkung der bewilligten Unterkunftskosten vorgenommen werden könnte.
Dies ist aber wie bereits ausgeführt unerheblich, da sich die von der Klägerin tatsächlich zu zahlenden Kosten entgegen der Behauptung des Beklagten als grundsicherungsrechtlich angemessen darstellen.
Der in § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II aufgenommene Begriff der angemessenen Unterkunftskosten stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, der der uneingeschränkten Kontrolle durch das erkennende Gericht unterliegt. Zu Festlegung von abstrakt angemessener Leistungshöhe ist im Sinne der Produkttheorie die angemessene Wohnungsgröße und der maßgebliche örtliche Vergleichsraum zu ermitteln.
Dann ist der angemessene Standard in Bezug auf Ausstattung, Lage und Bausubstanz zu ermitteln, der einfachen und grundlegenden Bedürfnisse entspricht und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist. Im Ergebnis ist nach der Produkttheorie zu ermitteln, ob das Produkt aus Wohnfläche und Standard, der sich in der Quadratmetermiete niederschlägt, angemessen ist (ständige Rechtsprechung, vergleiche nur BSG, Urteil vom 16.06.2015 - B 4 AS 44/14 R m.w.N.; zuletzt BSG, Urteil vom 30.01.2019 - B 14 AS 11/18 R m.w.N. zitiert nach Juris). Die Ermittlung der angemessenen Wohnungsgröße hat nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vergleiche bereits Urteil vom 07.11.2006 - B 7 b 18/06 zitiert nach Juris) ausgehend von den Werten des sozialen Wohnungsbaus zu erfolgen. Die Angemessenheit richtet sich dabei grundsätzlich nach den Festlegungen der Länder aufgrund des § 10 des Wohnraumförderungsgesetzes vom 13.09.2001 zusammen mit den länderspezifischen Richtlinien. In Niedersachsen ist dies die Richtlinie über die soziale Wohnraumförderung (WfB 2003; Niedersächsisches Ministerialblatt 2002, 554). In Ziffer 11 ist dort aufgenommen, dass für Alleinstehende eine Wohnfläche von bis zu 50 Quadratmetern angemessen ist. (vgl. BSG, Urteil vom 25. April 2018 - B 14 AS 14/17 R zitiert nach Juris). Diese Quadratmeterfläche ist mit dem angemessenen Quadratmeterpreis zu multiplizieren und so eine abstrakte Angemessenheitsgrenze zu ermitteln. Im Ergebnis bedeutet die Anwendung der Produkttheorie, wenn jemand eine Wohnung geringerer Fläche bewohnt, dann steht es ihm frei, eine (etwas) teurere Wohnung als angemessen zu nutzen (BSG a.a.O.). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Ermittlung der abstrakt angemessenen Wohnungsgröße in Höhe der wohlgemerkt tatsächlich bewohnten Wohnfläche nicht als rechtmäßig dar. Auch im Falle des Anmietens kleinerer Wohnungen sind die für alle Leistungsempfänger geltenden abstrakten Angemessenheitsgrenzen im Sinne einer Gleichbehandlung heranzuziehen.
Vor diesem Hintergrund der fehlerhaften Ermittlung der abstrakten angemessenen Wohnfläche ist für das Gericht unerheblich, dass der vom Beklagten angenommene Quadratmeterpreis von 10,00 Euro pro Quadratmeter nicht nachvollziehbar ermittelt ist. Hierzu sei nur angemerkt, dass der Beklagte selbst in dem von ihm als schlüssig angenommenen Konzept andere Werte bezüglich des Wohnungssegmentes für Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften ausweist.
Bezüglich der vom Beklagten vorgenommenen Kürzung der (sehr niedrigen) Abschläge für die Heizkosten der Klägerin gilt oben ausgeführtes entsprechend. Die Angemessenheitsgrenze bezüglich der Heizkosten ist ausgehend von der abstrakt angemessenen Wohnfläche nach obigen Grundsätzen in Höhe von 50,00 Quadratmetern zu ermitteln und nicht ausgehend von der tatsächlichen Wohnfläche (BSG, Urteil vom 12.06.2013 - B 14 AS 60/12 R zitiert nach Juris).
Vor diesem Hintergrund stellen sich die von der Klägerin tatsächlich aufzuwendenden Beträge für die Kosten der Beheizung ihrer Wohnung in Höhe von 30,00 Euro als kostenangemessen dar.
Der im Tenor ausgewiesene Nachzahlungsbetrag beruht darauf, dass monatlich für einen vollen Monat 91 EUR nachzuzahlen sind, also für die fünf Monate von März bis Juli 2018 insgesamt 455 EUR. Für den Februar 2018 sind anteilig 216,67 EUR nachzuzahlen. Hierbei geht das Gericht für den Monat Februar 2018 von einem Zuzug d. Klägerin bereits am 09.02.2019 aus und damit von einem anteiligen Bedarf von 20 Tagen von 28 Tagen. Maßgeblich für das Gericht ist die Vermieterbescheinigung mit Einzugsdatum 09.02.2018 und nicht die melderechtliche Bescheinigung, auf die sich der Beklagte stützt. Der monatliche Gesamtbedarf der Klägerin beläuft sich auf 416 EUR Regelbedarf zuzüglich 230 EUR angemessener Unterkunftskosten abzüglich 2,10 EUR Scheckpauschale. Im Februar anteilig ab Zuzug auf 461,43 EUR. Ausweislich der streitigen Bescheide hat die Klägerin dabei für Februar 2018 bereits 245,27 EUR erhalten, so dass sich obige Differenz ergibt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus dem § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Klägerin ist mit ihrem Begehren in vollem Umfange durchgedrungen.