Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 06.06.2007, Az.: 6 A 311/06
Anhaltspunkt; Anspruch; Aufgabe; Aufgabentext; Aufrechnung; Aufrechnungsbekundung; Aufrechnungswille; Auslegung; Bewertung; Bewertungsmaßstab; Fachfrage; Gegenanspruch; Gläubiger; Klausur; Prüfer; Prüfungsaufgabe; prüfungsspezifische Wertung; Schuldner; Staatsprüfung; Zivilrecht
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 06.06.2007
- Aktenzeichen
- 6 A 311/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71989
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 12 Abs 1 JAG ND
- § 2 JAG ND
- § 3 Abs 1 JAG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Feststellung der Prüfer, wie die in einer juristischen Klausur gestellte Prüfungsaufgabe auszulegen ist und zu welchen Gesichtspunkten Ausführungen geboten sind, erfordert keine "prüfungsspezifische Wertung", sondern ist vom Gericht anhand des für "Fachfragen" geltenden Maßstabs zu überprüfen.
2. Wird in einer zivilrechtlichen Klausur in der ersten juristischen Staatsprüfung nach Ansprüchen des Gläubigers gegen den Schuldner gefragt, so kann es trotz fehlenden ausdrücklichen Hinweises im Bearbeitungsauftrag auch erforderlich sein, etwaige Gegenansprüche des Schuldners gegen den Gläubiger zu thematisieren. Erforderlich ist dies insbesondere, wenn sich aus dem Aufgabentext konkrete Anhaltspunkte für solche Gegenansprüche und für die Bekundung eines Aufrechnungswillens ergeben.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Bewertung einer Klausur im Rahmen ihrer ersten juristischen Staatsprüfung.
Im Oktober 2005 fertigte die Klägerin zur Wiederholung der ersten juristischen Staatsprüfung, die sie in einem ersten Versuch nicht bestanden hatte, bei dem Beklagten vier Aufsichtsarbeiten an. Mit Bescheid vom 15. März 2006 wurde ihr mitgeteilt, dass diese wie folgt bewertet worden waren:
Klausur 1 (Zivilrecht): | mangelhaft (3 Punkte) |
Klausur 2 (Strafrecht): | mangelhaft (3 Punkte) |
Klausur 3 (Öffentliches Recht): | mangelhaft (1 Punkt) |
Klausur W 1 (Zivilrecht): | mangelhaft (3 Punkte) |
Der Klausur W 1, deren Bewertung die Klägerin mit der Klage angreift, lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: A bestellte bei B Sonnenkollektoren, die dieser liefern und auf dem Dach des Hauses von A montieren sollte. Als Liefer- und Montagetermin wurde der 16. Juni 2003 vereinbart. Anfang Mai teilte B der 16-jährigen Tochter von A mit, dass die Lieferung und Montage bereits zum 5. Mai erfolgen solle. Die Tochter von A versprach B, A dies mitzuteilen, vergaß es jedoch. Daher war am 5. Mai im Haus des A niemand zugegen, und die Mitarbeiter (M und Q) des von B mit der Montage beauftragten F konnten die Arbeiten nicht ausführen. Die Montage erfolgte schließlich am 15. Mai 2003. A entstanden - aufgrund im Aufgabentext der Klausur im Einzelnen geschilderter Umstände - verschiedene Schadenspositionen. Gegenüber B machte er den Ersatz der ihm entstandenen Schäden geltend. Der Aufgabentext führte zudem aus: „B wehrt sich unter anderem mit dem Hinweis, ihm seien durch die vergebliche Anfahrt am 05.05.2003 Fahrtkosten sowie die Kosten der nutzlos aufgewendeten Stundenlöhne für M und Q entstanden, für welche ihm die - im Vertrag für den Tag der Montage vorgesehene - An- und Abfahrtsvergütung zustehe.“ Der Bearbeitungsauftrag lautete schließlich: „Bitte prüfen Sie gutachterlich die geltend gemachten Ansprüche des A gegen B.“
An der Bearbeitung dieser Aufgabenstellung durch die Klägerin bemängelte der Erstbeurteiler in der schriftlichen Begründung seiner Benotung unter anderem, dass sie Gegenansprüche des B nicht geprüft habe; der Zweitbeurteiler schloss sich den Ausführungen des Erstbeurteilers im Wesentlichen an. Wegen der Einzelheiten der Aufgabenstellung und der von der Klägerin angefertigten Lösung wird auf die dem Verwaltungsvorgang beigefügte Klausur verwiesen, wegen der Begründung der Benotung durch die Prüfer wird auf ihre der Klausur beiliegenden schriftlichen Beurteilungen Bezug genommen.
Am 27. März 2006 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten und wendete sich unter anderem gegen die Bewertung der Klausur W 1. In einer vom Beklagten daraufhin eingeholten ergänzenden Stellungnahme führte der Erstbeurteiler unter anderem aus, dass die Prüfung von Gegenforderungen des B wegen entsprechender Hinweise im Sachverhalt nahegelegen habe, auch wenn die Fragestellung des Klausurtextes nicht ausdrücklich auf diese Ansprüche verwiesen habe. Er habe jedenfalls einen Hinweis in der Klausurlösung erwartet, dass nach dem Verständnis der Bearbeiterin eine Aufrechnung nicht erklärt worden und die Prüfung der Gegenansprüche deshalb obsolet gewesen sei. Der Zweitbeurteiler führte unter anderem aus, die Bearbeitung der Aufgabenstellung, in der unter anderem geschildert werde, dass B sich mit Gegenansprüchen gegen die von A geltend gemachten Ansprüche wehre, habe es erforderlich gemacht, auch diese Einwendung korrekt zu behandeln. Die Bearbeitung der Klägerin habe sich hiermit allerdings gar nicht befasst. Mit Bescheid vom 20. Juni 2006, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 21. Juni 2006 zugestellt, wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung bezog er sich im Wesentlichen auf die Ausführungen der Prüfer in den ergänzenden Stellungnahmen. Wegen der Einzelheiten wird auf die schriftlichen Stellungnahmen der Prüfer und den Widerspruchsbescheid des Beklagten verwiesen (Bl. 46 ff. sowie 38 ff. der Gerichtsakte).
Am 21. Juli 2006 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie sich nur noch gegen die Bewertung der Klausur W 1 wendet. Sie begründet ihre Klage im Wesentlichen wie folgt:
Die Beurteilung dieser Klausur sei rechtswidrig, da ihr nicht angelastet werden dürfe, Gegenforderungen von B gegen A nicht geprüft zu haben. Die Aufgabenstellung habe zu einer Prüfung derartiger Ansprüche keinen Anlass gegeben, auch nicht im Rahmen einer von B erklärten Aufrechnung. Aus dem Sachverhalt ergebe sich nicht, dass B eine Aufrechnungserklärung abgegeben habe. Zudem habe B seine Gegenforderung jedenfalls nicht beziffert. Auch in einem gerichtlichen Verfahren würde schon aus diesem Grunde eine Aufrechnung nicht berücksichtigt werden können. Die Aufgabenstellung habe die Prüfung von Ansprüchen des B gegen A vielmehr ausdrücklich ausgeklammert. Jedenfalls sei die Aufgabenstellung in unzulässiger Weise widersprüchlich und mehrdeutig gewesen. Ihre Interpretation der Aufgabenstellung, wonach Gegenforderungen oder eine Aufrechnung des B überhaupt nicht zu thematisieren gewesen seien, sei jedenfalls vertretbar. Die Folgen einer derartig unklaren Aufgabenstellung dürften ihr nicht angelastet werden.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 15. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2006 zu verpflichten, die Klausur W 1 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bewerten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Ansicht, die Klägerin habe jedenfalls das Vorliegen einer Aufrechnungserklärung in ihrem Gutachten thematisieren müssen, da eine Aufrechnung nicht ausdrücklich erklärt zu werden brauche, sondern die klare Erkennbarkeit eines Aufrechnungswillens genüge. Nach diesem Maßstab habe B die Aufrechnung erklärt. Es sei rechtlich daher nicht zu beanstanden, dass die Prüfer der Klägerin angelastet hätten, sich mit einem Aufrechnungseinwand gar nicht auseinandergesetzt zu haben. Das Fehlen einer Bezifferung des Anspruchs durch B stehe dem ebenfalls nicht entgegen, da in einem Gutachten des ersten juristischen Staatsexamens alle denkbaren und naheliegenden Ansprüche zu prüfen seien.
Die Klägerin hat ihre Klage zunächst beim Verwaltungsgericht Hannover erhoben. Der Rechtsstreit ist von diesem an das Verwaltungsgericht Braunschweig als örtlich zuständiges Gericht verwiesen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Klagefrist mit der rechtzeitigen Erhebung der Klage beim örtlich unzuständigen Verwaltungsgericht Hannover gewahrt, § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17b Abs. 1 Satz 2 GVG.
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Neubewertung ihrer Klausur W 1 nicht zu. Die Bewertung dieser Klausur durch den Beklagten ist rechtmäßig erfolgt. Insbesondere durfte der Beklagte zulässigerweise zu Lasten der Klägerin berücksichtigen, dass sie in ihrer Bearbeitung der Aufgabenstellung Gegenansprüche oder eine Aufrechnungserklärung des B nicht geprüft hat.
Hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolldichte in prüfungsrechtlichen Streitverfahren ist zu unterscheiden zwischen Fachfragen und prüfungsspezifischen Wertungen. Bei Fachfragen hat das Gericht darüber zu befinden, ob die von dem Prüfer als falsch bewertete Lösung im Gegenteil richtig oder mit der vorgenommenen Begründung jedenfalls vertretbar ist. Unter Fachfragen sind alle Fragen zu verstehen, die einer fachwissenschaftlichen Erörterung zugänglich sind. Dagegen steht den Prüfern ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Bewertungsspielraum zu, soweit sie prüfungsspezifische Wertungen treffen müssen. Dem liegt das Gebot der vergleichenden Beurteilung von Prüfungsleistungen zugrunde, das letztlich aus dem das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz der Chancengleichheit herzuleiten ist. Prüfer müssen bei ihrem wertenden Urteil von Einschätzungen und Erfahrungen ausgehen, die sie im Laufe ihrer Examenspraxis bei vergleichbaren Prüfungen entwickelt haben. Prüfungsnoten dürfen daher nicht isoliert gesehen werden. Ihre Festsetzung erfolgt in einem Bezugssystem, das von den persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Prüfer beeinflusst wird. Die komplexen Erwägungen, die einer Prüfungsentscheidung zugrunde liegen, lassen sich nicht regelhaft erfassen. Eine gerichtliche Kontrolle würde insoweit die Maßstäbe verzerren. Denn in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren eines einzelnen Kandidaten könnte das Gericht die Bewertungskriterien, die für die Gesamtheit vergleichbarer Prüfungskandidaten maßgebend waren, nicht aufdecken, um sie auf eine nur in Umrissen rekonstruierbare Prüfungssituation anzuwenden. Es müsste eigene Bewertungskriterien entwickeln und an die Stelle derjenigen der Prüfer setzen. Dies wäre mit dem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar, weil einzelne Kandidaten so die Möglichkeit einer vom Vergleichsrahmen der Prüfer unabhängigen Bewertung erhielten.
Soweit den Prüfern danach im Hinblick auf prüfungsspezifische Wertungen ein Bewertungsspielraum verbleibt, hat das Gericht lediglich zu überprüfen, ob die Grenzen dieses Spielraums überschritten worden sind, weil die Prüfer etwa von falschen Tatsachen ausgegangen sind, allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze missachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt haben (BVerwG, Urt. vom 21.10.1993 - 6 C 12/92 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 320, S. 308). Zu diesen prüfungsspezifischen Fragen, die der Letztentscheidungskompetenz der Prüfer überlassen bleiben, gehören insbesondere die Benotung, die Gewichtung verschiedener Aufgaben untereinander, die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung und die Würdigung der Qualität der Darstellung (BVerwG, Beschl. vom 17.12.1997 - 6 B 55/97 -, NVwZ 1998, 738).
Die von der Klägerin beanstandete Kritik der Prüfer an ihrer Klausurbearbeitung erweist sich bei Anwendung dieser Maßstäbe nicht als fehlerhaft: Zwar erfolgt die gerichtliche Kontrolle anhand des - strengen - Maßstabs für Fachfragen; der Beklagte hat aber mit dem beanstandeten Kritikpunkt nicht eine richtige oder jedenfalls vertretbare Lösung der Klägerin als falsch bewertet. Für eine korrekte Bearbeitung der Klausur W 1 ist es erforderlich gewesen, in dem zu fertigenden Gutachten etwaige Gegenansprüche von B zu erörtern und in diesem Zusammenhang beispielsweise die Frage anzusprechen, ob B mit eigenen Forderungen gegenüber A aufgerechnet hat. Diesen Gesichtspunkt im Gutachten gar nicht zu thematisieren, ist in nicht vertretbarer Weise fehlerhaft gewesen.
Für die gerichtliche Kontrolle des von der Klägerin beanstandeten Kritikpunktes der Prüfer an ihrer Klausurbearbeitung gilt der Maßstab für Fachfragen. Die Auslegung einer Prüfungsaufgabe durch die Prüfungsbehörde unterliegt der gerichtlichen Kontrolle ohne die Einschränkungen, die bei prüfungsspezifischen Wertungen erfolgen (vgl. zu Prüfungen im „Antwort-Wahl-Verfahren“ BVerwG, Urt. vom 26.03.1997 - 6 C 7.96 -, NJW 1997, 3104, 3108; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 2.Aufl., Rn. 519; zur Auslegung der Aufgabenstellung einer Klausur im ersten juristischen Staatsexamen OVG des Saarlandes, Beschl. vom 30.06.2003 - 3 Q 70/02 -, juris). Dies umfasst auch die Kontrolle, ob es nach dem Aufgabentext und dem Bearbeitungsauftrag in einer Klausur der ersten juristischen Staatsprüfung erforderlich gewesen ist, eine bestimmte Rechtsnorm zu prüfen und zu einer bestimmten rechtlichen Fragestellung im Rahmen des zu fertigenden Gutachtens Stellung zu nehmen (vgl. auch BVerwG, Beschl. vom 17.12.1997, a.a.O.). Die Feststellung, zu welchen Gesichtspunkten nach einem Aufgabentext und einem Bearbeitungsvermerk in einem Gutachten für die erste juristische Staatsprüfung Ausführungen geboten sind, erfordert keine prüfungsspezifische Wertung. Die nach Aufgabentext und Bearbeitungsauftrag in dem Rechtsgutachten zu behandelnden Gesichtspunkte bestimmen sich nicht nach einem im Laufe einer Prüfungspraxis entwickelten subjektiven Bewertungssystem des jeweiligen Korrektors, sondern nach objektiv-fachlichen Kriterien und sind einer fachwissenschaftlichen Erörterung zugänglich.
Die von der Klägerin beanstandete Kritik der Prüfer zielt in diesem Sinne darauf ab, dass sie einen rechtlichen Gesichtspunkt in ihrem Gutachten nicht behandelt habe, obwohl dies nach dem Aufgabentext und dem Bearbeitungsvermerk geboten gewesen sei: Obgleich es nach der Aufgabenstellung nahegelegen habe, habe die Klägerin Gegenforderungen von B in ihrem Gutachten nicht geprüft und nicht einmal Ausführungen dazu gemacht, ob und weshalb ihrer Ansicht nach eine Aufrechnung von B nicht erklärt worden und eine Prüfung von Gegenforderungen bereits aus diesem Grunde entbehrlich gewesen sei; die entsprechende Passage des Aufgabentextes habe sie in ihrer Klausurbearbeitung gutachterlich überhaupt nicht behandelt. Diese Kritik der Prüfer ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Für eine korrekte Bearbeitung der Klausur W 1 ist es erforderlich gewesen, in dem anzufertigenden Gutachten etwaige Gegenansprüche des B zu erörtern und in diesem Zusammenhang beispielsweise die Frage anzusprechen, ob B mit eigenen Forderungen gegenüber A aufgerechnet hat oder eine Aufrechnung bereits deswegen ausscheidet, weil B eine solche nicht wirksam erklärt hat. Diese Gesichtspunkte gar nicht zu behandeln, ist in nicht vertretbarer Weise fehlerhaft gewesen.
Rechtsgutachten im ersten juristischen Staatsexamen haben alle rechtlichen und gegebenenfalls auch tatsächlichen Gesichtspunkte zu behandeln, die für die Bearbeitung nach dem Aufgabentext und dem konkreten Bearbeitungsauftrag Bedeutung haben oder deren Bedeutung für die Bearbeitung jedenfalls ernsthaft in Betracht kommt. In zivilrechtlichen Gutachten sind grundsätzlich die verschiedenen in Betracht kommenden Rechtsnormen zu prüfen, die das nach dem Sachverhalt zu prüfende Begehren eines Beteiligten möglicherweise stützen können; der gleiche Prüfungsmaßstab gilt für in Betracht kommende Gegenrechte, die der Verwirklichung dieses Begehrens entgegenstehen können (vgl. etwa Musielak, Grundkurs BGB, 10. Aufl., Rn. 22). Soweit in dem Gutachten das Bestehen eines zivilrechtlichen Anspruchs zu klären ist, umfasst der (gedankliche) Prüfungsgang daher über das rechtliche Entstehen des Anspruchs auch die Prüfung, ob diesem Anspruch Gegenrechte entgegenstehen und der Anspruch daher untergegangen oder in seiner Durchsetzbarkeit gehindert ist. Ausführungen zu letztgenannten Punkten sind im schriftlichen Gutachten nach dem zuvor dargelegten Maßstab jedenfalls dann erforderlich, wenn solche Gegenrechte nach dem Aufgabentext ernsthaft in Betracht zu ziehen sind.
Der Aufrechnungseinwand ist ein solches Gegenrecht. Gemäß § 389 BGB bewirkt die Aufrechnung, dass die Forderung und die Gegenforderung, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet gegenübergetreten sind. Ein ursprünglich entstandener Anspruch kann auf diese Weise untergehen. Eine Aufrechnung braucht nicht ausdrücklich erklärt zu werden. Es genügt vielmehr die klare Erkennbarkeit eines Aufrechnungswillens (BGH, Urt. vom 16.01.1958 - VIII ZR 66/57 -, NJW 1958, 666; BFH, Urt. vom 04.10.1983 - VII R 143/82 -, NVwZ 1984, 468, 469; OLG Brandenburg, Urt. vom 05.07.2000 - 7 U 276/99 -, NJW-RR 2000, 1620; Grüneberg in: Palandt, BGB, 66. Aufl., § 388 Rn. 1). In der Leistungsverweigerung gegenüber einem gleichartigen Anspruch ist regelmäßig die Bekundung eines solchen Aufrechnungswillens zu sehen, weil allein dies den Interessen des Schuldners entspricht (BVerfG, Beschl. vom 26.02.1993 - 2 BvR 1463/92 -, NJW-RR 1993, 764, 765; BGH, Urt. vom 20.06.1962 - V ZR 219/60 -, NJW 1962, 1715, 1718; Schlüter in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl., § 388 Rn. 1). Wird in einer zivilrechtlichen Klausur im ersten juristischen Staatsexamen nach Ansprüchen des Gläubigers gegen den Schuldner gefragt, so kann es somit trotz des Fehlens eines ausdrücklichen Hinweises im Bearbeitungsauftrag erforderlich sein, etwaige Gegenansprüche des Schuldners gegen den Gläubiger zu thematisieren. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich aus dem Aufgabentext konkrete Anhaltspunkte für solche Gegenansprüche und für die Bekundung eines Aufrechnungswillens ergeben.
Nach diesen Maßstäben sind in dem nach der Aufgabenstellung der Klausur W 1 zu fertigenden Gutachten Ausführungen erforderlich gewesen zu der Frage, ob die Ansprüche von A wegen etwaiger dem B zustehender Ansprüche untergegangen sind. Nach dem Aufgabentext ergeben sich zumindest konkrete Anhaltspunkte sowohl für das Bestehen einer Gegenforderung als auch für eine Aufrechnungserklärung des B.
Dies gilt zunächst für das Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs für B. Auf der Grundlage der detaillierten Angaben im Aufgabentext kommt ein Anspruch gemäß § 304 BGB i.V.m. § 299 BGB und § 271 Abs. 2 BGB jedenfalls ernsthaft in Betracht. A könnte am 5. Mai 2003 in Annahmeverzug geraten sein, da B die vorzeitige Lieferung gegenüber der Tochter von A angekündigt hat, Lieferung und Montage allerdings scheitern, weil die Tochter von A es vergessen hat, diesen über den vorgezogenen Termin zu unterrichten. Die dem B am 5. Mai entstandenen Kosten könnten zudem Kosten eines erfolglosen Angebots sein, deren Erstattung B gemäß § 304 BGB verlangen könnte.
Des Weiteren ergeben sich aus dem Aufgabentext auch konkrete Anhaltspunkte für eine Aufrechnungserklärung von B gegenüber A. Nach dem Aufgabentext „wehrt“ B sich gegen die von A geltend gemachten Forderungen mit dem Hinweis, ihm seien durch die vergebliche Anfahrt am 5. Mai 2003 Fahrtkosten sowie Kosten der nutzlos aufgewendeten Stundenlöhne für M und Q entstanden, für welche ihm die - im Vertrag für den Tag der Montage vorgesehene - An- und Abfahrtsvergütung zustehe. Es kommt jedenfalls ernsthaft in Betracht und ist aus diesem Grunde im Gutachten zu thematisieren gewesen, dass er hierdurch gegenüber A und für diesen erkennbar seinen Willen zum Ausdruck bringt, die - vermeintliche - Gegenforderung dazu zu verwenden, die Forderung von A zu reduzieren oder jedenfalls die Erfüllung des Anspruchs von A im Sinne eines Zurückbehaltungsrechts davon abhängig zu machen, dass dieser ihm die Aufwendung für den Montageversuch vom 5. Mai ersetzt. Auch eine solche Leistungsverweigerung wäre nach den vorstehenden Ausführungen als Aufrechnungserklärung auszulegen.
Die Auseinandersetzung mit einer Aufrechnung seitens B ist im Gutachten zur Klausur W 1 auch nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil der Aufgabentext nicht ausdrücklich erklärt, dass B die Höhe seiner vermeintlichen Gegenforderung gegenüber A betragsmäßig beziffert hat. Es besteht bereits kein zwingendes Erfordernis, eine zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung betragsmäßig zu beziffern. Vielmehr genügt es, wenn die Gegenforderung für den Empfänger der Aufrechnungserklärung - auch der Höhe nach - hinreichend bestimmbar ist. Nach der Aufgabenstellung der Klausur W 1 kommt es jedenfalls ernsthaft in Betracht, dass B diesen Erfordernissen genügt hat, da er sich auf die mit A vertraglich vereinbarte Höhe der An- und Abfahrtsvergütung bezieht und es somit naheliegt, dass A die Höhe der geltend gemachten Forderung aus den Vertragsvereinbarungen hat entnehmen können. Die Klägerin hätte daher - nach den zuvor beschriebenen Grundsätzen zum erforderlichen Prüfungsumfang in zivilrechtlichen Gutachten in der ersten juristischen Staatsprüfung - diesen Themenkomplex in ihrem Gutachten selbst dann ansprechen und ihre Ansicht mit entsprechenden Ausführungen im Gutachten näher begründen müssen, wenn sie zu der Annahme gelangt wäre, dass die Höhe der von B zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung für A nicht hinreichend erkennbar gewesen ist, und sie eine Aufrechnungserklärung des B aus diesem Grunde mangels Bestimmtheit für unwirksam erachtet haben sollte.
Zudem finden sich - wahrscheinlich aus Gründen der Übersichtlichkeit - zu sämtlichen, auch den von A geltend gemachten, Forderungsbeträgen im Aufgabentext keine Angaben zu deren exakter Höhe. Es ist in einem solchen Gesamtzusammenhang zusätzlich in nicht vertretbarer Weise fehlerhaft, die Prüfung eines Aufrechnungseinwands ohne nähere Begründung nur deswegen zu unterlassen, weil die Gegenforderung im Aufgabentext nicht der Höhe nach beziffert angegeben ist. Die Prüfungsaufgabe hat erkennbar darin bestanden, die geltend gemachten Ansprüche ohne Rücksicht auf deren exakte betragsmäßige Höhe gutachterlich zu prüfen.
Es kommt auch nicht darauf an, ob der Aufrechnungseinwand von B in einem gerichtlichen Verfahren keine Berücksichtigung finden würde, weil für das Gericht die Höhe der Gegenforderung allein anhand der Angaben im Sachverhalt nicht hinreichend nachvollziehbar wäre und ein Urteilsspruch anhand dieser Angaben nicht getroffen werden könnte. Ob die Angaben im Sachverhalt eine gerichtliche Entscheidung ermöglichen, ist jedenfalls dann unerheblich, wenn die Bearbeiter nach der Aufgabenstellung - wie in der Klausur W 1 - keine Gerichtsentscheidung zu entwerfen, sondern ein Rechtsgutachten anzufertigen haben. Die Höhe einer zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung muss nicht für den Klausurbearbeiter (oder einen sonstigen Außenstehenden, wie beispielsweise ein erkennendes Gericht) hinreichend erkennbar sein; es genügt vielmehr, wenn nach dem Sachverhalt ernsthaft in Betracht kommt, dass sie dies für den Empfänger der Aufrechnungserklärung ist. So ist es aber für die Klausur W 1; es kommt jedenfalls ernsthaft in Betracht, dass A die Höhe der Gegenforderung von B aus den Vertragsbestimmungen erkennen konnte.
Die Prüfung von Gegenansprüchen des B ist nach der Aufgabenstellung der Klausur W 1 auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen gewesen. Ein Bearbeitungsauftrag kann zwar Einschränkungen gegenüber dem grundsätzlich gebotenen Prüfungsumfang vorsehen, beispielsweise indem er die gutachterliche Prüfung auf das rechtliche Entstehen der geltend gemachten Ansprüche beschränkt. Eine solche Abweichung gegenüber dem grundsätzlich gebotenen Prüfungsumfang ist aber nur anzunehmen, wenn sie sich eindeutig aus der Aufgabenstellung ergibt. Dies ist bei der Klausur W 1 nicht der Fall. Der Bearbeitungsauftrag, wonach Ansprüche von A gegen B zu prüfen gewesen sind, hat daher nach den allgemeinen Grundsätzen zum Bearbeitungsumfang in zivilrechtlichen Klausuren auch die Prüfung von Gegenrechten umfasst, die diesen Ansprüchen entgegenstehen können.
Schließlich ist die Aufgabenstellung auch nicht in unzulässiger Weise widersprüchlich oder mehrdeutig gewesen. Aufgabentext und Bearbeitungsauftrag haben den erforderlichen Prüfungsumfang vielmehr eindeutig beschrieben. Es sind hiernach die geltend gemachten Ansprüche von A gegen B zu prüfen gewesen. Dass auch ein Eingehen auf einen Aufrechnungseinwand erforderlich gewesen ist, hat sich aus den allgemeinen, zuvor bereits dargelegten Grundsätzen für den Umfang eines zivilrechtlichen Gutachtens im ersten juristischen Staatsexamen ergeben, die auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Aufgabentext oder Bearbeitungsauftrag für die Bearbeitung der Aufgabenstellung heranzuziehen gewesen sind.
Die von der Klägerin beanstandete Kritik der Prüfer an ihrer Klausurbearbeitung wäre seitens des Gerichts auch dann nicht zu beanstanden, wenn diese eine prüfungsspezifische Wertung beinhaltete und der Umfang gerichtlicher Kontrolle deshalb entsprechend eingeschränkt wäre: Es ist aus den dargelegten Gründen nicht ersichtlich, dass die Prüfer bei ihrer Kritik an der Klausurbearbeitung der Klägerin von sachfremden Erwägungen ausgegangen sind oder andere Bewertungsfehler begangen haben.
Anhaltspunkte für eine rechtsfehlerhafte Bewertung der Klausur W 1 der Klägerin wegen eines anderen als des von ihr ausdrücklich beanstandeten Gesichtspunktes ergeben sich nicht.